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ANDREA PICHL
 

CHRISTINE NIPPE: RAUM(ER)FINDUNGEN – DIE KUNST VON ANDREA PICHL (GERMAN VERSION)

Raum(er)findungen – die Kunst von Andrea Pichl

Christine Nippe

Das Verhältnis von Kunst und Architektur wird häufig als Liebesbeziehung bezeichnet. „Sind Kunst und Architektur bezaubert von dem besseren Selbst, das sie in dem jeweils anderen zu sehen glauben? (...) Während die Architektur der Kunst Gegenstand und Rahmen bietet, ist die Kunst ein erweitertes Feld, auf dem die Architektur ihr entscheidendes Potenzial und ihre Fähigkeit entfalten kann, Konzepte zu erstellen und Lösungen anzubieten,” so die britische Architekturtheoretikerin Jane Rendell. Die Arbeiten von Andrea Pichl beziehen sich nicht nur auf historische und aktuelle Gebäude des modularen Bauens, sondern ebenfalls auf die Entwürfe von Architektinnen und Architekten zu Lebensbedingungen und Vorstellungen von einem guten Leben. Gleichzeitig interessiert sie sich auch für die Nutzungsweisen und Aneignungsformen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Damit teilt sie die Faszination der zeitgenössischen Kunst an Architektur, urbanen Strukturen und Stadt als Stoff für ihre Kunst.

Der Blick von „oben“ – Aneignung von Grundrissen

Bei Andrea Pichl werden kritische Strategien zum utopischen Potential moderner Architektur sichtbar, wenn sie auf der Basis von Grundrissen und Plänen ihre Skulpturen schafft. Diese Strukturierung und Planung von Lebensbedingungen interessieren sie. Denn der Grundriss ist das Ursprungsmedium der Architektinnen und Architekten, um den Wohnraum des Menschen zu organisieren.
Schon wie sie einen Raum organisiert, sei es im Hamburger Bahnhof, im Kunstmuseum Moritzburg oder in den Räumen der Galerie weisser elefant ist bemerkenswert. Häufig greift sie scheinbar unbedeutende Strukturen und Materialien auf, um sie in ungewohnten Konstellationen neu zu arrangieren. Eine ihrer Strategien dabei ist, dass sie mit Grundrissen des internationalen, modularen Wohnungsbaus arbeitet, diese kombiniert und/oder collagiert. Es entstehen, wie bei Doublebind in den Architektonika-Ausstellungen (2011 bis 2013) im Hamburger Bahnhof, eine Art Hybrid in Form eines Stecksystems, wenn sie die Maße einer Vierraum-, einer Zweiraum- und einer Einraum-Standard-Wohnung aus der DDR Plattenbauserie 70 im Maßstab 1:2 aufeinander legt.
Es folgt 2014 auf Einladung der belgischen Künstlerin Anne-Mie van Kerckhoven im Rahmen des Ausstellungsformates Dialogue eine Arbeit für das M HKA, Museum for Contemporary Art, Antwerpen mit dem Titel Klub Zukunft. Sie stellt eine Fortführung von Prinzipien dar, die Pichl bereits in Doublebind ausgetestet hat.
Eine intensive Auseinandersetzung mit den urbanen Strukturen von Halle-Neustadt ist mit der Arbeit Unterkunft Freiheit 2014 zu beobachten. Der Titel der Installation bezieht sich auf die DDR-Tageszeitung Freiheit, das Organ der Bezirksleitung Halle der SED. Hier kombiniert Pichl unterschiedliche Bauweisen und urbane Strukturen aus verschiedenen Orten, dabei interessieren sie eher die Übereinstimmungen als die Unterschiede.

Von unten – „Geschmacksunsicherheiten“ freilegen

Kürzlich zeigte Andrea Pichl in ihrer Ausstellung widerstreben in der Galerie Weisser Elefant in sechs Installationen Elemente, die unserer Alltagskultur entnommen sind: Sie nutzt Betonumrandungen, Miniature-Zäune oder Blumenkübel für ihre Skulpturen. Diese inszenierte sie ortspezifisch in neuen Installationen, sprühte sie silbern, golden oder bronzefarben an und entwickelte eine eigene Inszenierung für die Galerie. Indem die sie den Kunstgriff des Besprühens verwendet, wertet sie nicht nur das ursprünglich „einfache“ oder „billige“ Material auf, sondern sie setzt bewusst eine Überhöhungsstrategie ein.
Eine der Installationen in dieser Ausstellung bestand aus zwei Fußmatten, auf die Pichl die Maserung vom Holzfußboden der Galerie aufdrucken ließ. Diese „Doppelung“ findet sich ebenfalls in einer Arbeit, die sie für den öffentlichen Raum in Schöppingen anfertigte, bei der sie eine Fotografie einer Gardine aus dem Nebengelass vom Schloss Wiepersdorf (Ort der DDR-Elite) auf eine Fotografie einer Gardine der ehemaligen Villa von Goebbels (Zwischennutzung als FDJ Schulungsheim in der DDR) druckte. Das Recherchematerial wird neu kombiniert und enthält verschiedene Verweise, die nur die Künstlerin entschlüsseln kann.


Im Dazwischen

Gemeinsam ist allen Arbeiten, dass sie von der Faszination an ästhetischen Aneignungsformen des Alltags sprechen. So hält Pichl beispielsweise gewöhnliche Verschönerungsrituale von Bewohnerinnen und Bewohnern auf ihren Spaziergängen durch die Stadt fest und legt diese „Geschmacksunsicherheiten“ (wie sie sie in unserem Gespräch selbst bezeichnet) in ihrem fotografischen Archiv ab.
Während eines Paris-Aufenthaltes begann sie mit dem systematischen Aufbau ihres Fotografiearchivs, in welchem sie verschiedene Strategien der Raumaneignung von Nutzerinnen und Nutzern dokumentiert. Während die Architektinnen und Architekten utopische Entwürfe entwickeln suchen sich die Menschen Freiräume. Pichl beschäftigt sich mit dem kreativen Umdeutungspotential im Alltag. Es sind genau diese „Raumtaktiken von unten“ als Reaktion auf die „Raumstrategien von oben“, die auch den französischen Soziologen Michel de Certeau in seinem Buch Kunst des Handelns am Beispiel von New York City interessiert. De Certeaus kurze Passage zur Unterscheidung von Taktiken und Strategien enthält eine zentrale Metapher: Der Blick vom World Trade Center hinunter auf die Stadt ist Resultat einer Planung oder Raumstrategie. Wenn sich jedoch der Passant „unten“ in den Straßen bewegt, dann vollziehe er eine körperliche Raumtaktik oder eine Alltagspraxis von unten, die ohne Distanz die Stadt mitproduziert. Pichls künstlerische Raumstrategien bewegen sich genau in diesem Dazwischen von Strategien und Taktiken, von oben und unten, von Planung und Nutzung. Sie vereint diese beiden konträren Praktiken in ihren Skulpturen und erschafft einen Raum des Dazwischen.

Komposition assoziationsstarker Titel

Bemerkenswert sind ebenfalls die Titel der Kunstwerke, die Andrea Pichl erfindet: widerstreben, Natürliche Mängel – Inherent Shortcomings und Doublebind vereinen Gegensätze. Letzterer verweist auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Auch bei A tut was B will, wenn B tut was A will enthält eine Referenz an Luhmanns „Doppelte Kontingenz“. Der Begriff beschreibt eine Begegnung zwischen zwei Akteuren, die sich zwar gegenseitig wahrnehmen. In der es jedoch völlig unbestimmt ist, was als Nächstes geschehen soll. Eine endlose, profane Kommunikation entsteht.
Den Titel widerstreben hat Pichl in Reaktion auf die Galerie Weisser Elefant mit ihrer Raufasertapete und den behandelten Holzböden entwickelt. Sie wollte eine Entsprechung für die dortige Ortsspezifik finden und nahm diesen Titel, um auch ihre eigene Haltung zu spiegeln.
Auch andere Titel enthalten Referenzen. So ist Delirious Dinge ein Rem Koolhaas Zitat, Pichl hatte damals sein Buch Delirious New York: Ein retroaktives Manifest für Manhattan gelesen und dafür eine Entsprechung gesucht.
Der Titel Für immer und immer ist ein Songtitel von der in der DDR ab 1975 verbotenen Musikgruppe RENFT. Der Titel Keine Atempause, Geschichte wird gemacht ist hingegen dem Songtitel der Musikgruppe Fehlfarben entlehnt und verweist auf die Historie des Rosa-Luxemburg-Platz’ und des Palasts der Sowjets samt ihrer wechselvollen Geschichte.
Die Künstlerin macht mit ihren Titeln neue Bedeutungsebenen auf, die aus ihrer eigenen Biografie, Rezeption und Haltung zu den beobachteten Dingen entstammen und Stellung beziehen.


Abschließend kann festgehalten werden: Andrea Pichl schaut sich immer wieder mit einem interessierten Blick in ihrem Umfeld um. Sie macht sich zu Spaziergängen auf, hält Situationen in ihrem fotografischen Archiv fest, entdeckt Irritierendes oder Ungewöhnliches im Alltag. Indem sie diese Situationen ästhetisch aufgreift, sie in die Ausstellungen transferiert, sie collagiert, verdoppelt oder mit künstlerischen Mitteln überhöht, entstehen spannungsreiche Skulpturen. Ihre Titel verweisen auf architektonische, theoretische, biographische oder methodische Referenzen. Es sind genau diese widersprüchlichen Beziehungsgefüge Pichls, mit welchen ihr immer wieder neue, faszinierende Raum(er)findungen gelingen.