SUSANNE PRINZ: UNTERKUNFT FREIHEIT KUNSTMUSEUM MORITZBURG, HALLE / SAALE
“Perpetua se oblivio”, der Wunsch nach Vergessen, der vollständigen Ausblendung der Vergangenheit war 1648 einleitende Formel des Vertragswerks, das einen über drei Jahrzehnte andauernden Krieg endlich beenden sollte, der Europa verwüstet und vieler Ortens wie in Halle Spuren bis in die Gegenwart hinterließ. Heute, in nachhistorischer Zeit und viele Kriege später, ist Erinnern eine kulturelle Praxis mit dem Ziel Wiederholungen zu vermeiden. Dabei ist unbestritten, dass kollektives Gedächtnis einen entscheidenden Einfluss auf die allgemeine Vorstellung von Gegenwart und Zukunft hat. Es fällt allerdings schwer, wissenschaftlich festzustellen, auf welche Art und Weise dies geschieht. Seit etwa drei Jahrzehnten beschäftigen sich Historiker deshalb intensiver mit dem Quellenwert, den unverschriftete Überlieferungen haben können. Dazu gehören neben Mythen und Erzählungen vor allem Artefakte, nicht zuletzt auch architektonische. Er stellt sich die Frage, in wieweit Architekturen dabei Speicher und damit auch Auslöser bestimmter Erinnerungen sind. Ob diese Erinnerungen historisch korrekt sind, könnte sich dabei als weniger wichtig erweisen, als wie wir sie uns neu zusammensetzen. Hierbei darf einem auf keinen Fall der Fehler unterlaufen, Erinnerung als ein ‘Ding’ zu betrachten, wie es z.B. eine Archivalie ist. Erinnerung ist etwas grundsätzlich anderes als Wissen. Es scheint stets wichtiger, wie du deine Stadt erinnerst, als wie sie real funktionierte. Bei der Untersuchung dieses Phänomens finden sich zunehmend Künstler in den Rollen der Forscher und Vermittler, die traditionell durch Wissenschaft und Politik besetzt waren.Architekt_innen entwerfen nicht nur Häuser, sondern „Beziehungen, die Kontakte ihrer Bewohner, eine gesellschaftliche Ordnung.“ Die Berliner Künstlerin Andrea Pichl interessiert sich schon seit vielen Jahren in ihrer Arbeit für die oft verachteten Architekturen serieller Massenproduktion und ihrer Zuordnung in architektonische und mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge. Allgemein kann man sagen, dass Pichls Interesse architektonischen und städtebaulichen Raumkonstellationen der Nachmoderne gilt. Als Kind der 70er-Jahre, das in Ostberlin in den Neubauten der Nachkriegszeit aufwuchs, weiß sie um deren psychologische und soziale Wirkung und kennt die ihnen zugrunde liegenden ideologischen und architektonischen Konzepte nicht nur theoretisch.
Herzstück ihrer künstlerischen Arbeit ist eine stetig wachsende Sammlung von Architekturfotografien, die sie in den Trabantensiedlungen der ganzen Welt aufnimmt. Eine seltsame Mischung aus digitalem Bilderlager und Archiv ist diese Sammlung ein Hort inhaltlicher Verdichtung. Die Künstlerin bezieht sich bei der Auswahl aller Motive dabei stets auf die Moderne – also die Kunst und Architektur des frühen 20. Jahrhundert – und geht der Frage nach, welche Entwicklung die Formensprache dieser Zeit genommen hat. Nicht zuletzt interessiert sie auch das in und mit den Formen vermittelte utopische Potential der Moderne.
Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt der Frage, was aus diesen Utopien geworden ist. Dabei argumentiert sie nicht über ästhetische Differenzen - auch nicht unbedingt über qualitative - und vermeidet so die fruchtlose Diskussion ob Mies besser als Paulig, Schlesier oder Henselmann ist, oder LeCorbusier besser als Reichow, Ruf und Schürmann - um Beispiele aus allen Teilen Deutschlands zu nennen. Es geht vielmehr um die Frage nach der Degeneration des Formalen. Und darum, diese als Zeichen einer déformatione industrielle zu lesen. Als einen systemübergreifenden Hang, ehemals entweder praktisch oder ikonografisch sinnvolle Architekturformen aus dem Geist der Produktionseffizienz im Zeichen der Finanzierbarkeit bis zur vollständigen Unlesbarkeit zu simplifizieren. Dafür sammelt, katalogisiert und ordnet sie systematisch spezifische Formen. Gerade im Bereich des Schmückenden entdeckt sie immer wieder ungewöhnliche Details, merkwürdige Bauelemente, eigenartige architektonische Konstellationen oder eigentlich überflüssige Ornamente, die erst in der seriellen Wiederholung einen eigenen Reiz entfalten.
So trug sie im Laufe der Jahre einen riesiger Fundus an Bildern und Materialien zusammen, mit dessen Hilfe Pichl die Orte und Formen analysiert, in denen sich eine konsumierend, auf Dinge konzentrierte Gesellschaft einrichtet. Bei der Präsentation dieser Bilder im Rahmen einer Ausstellung steht das Prinzip der Konfrontation mit unerwarteten Kombinationen gleichberechtigt neben der systematischen Ordnung nach formalen oder motivischen Kriterien. Dafür werden die Bilder nicht einfach aus dem Lager geholt. Jeder neue Kontext setzt intensive Beschäftigung voraus, jede Präsentation ist Arbeit am Werk. Argumentationsstränge werden weiterentwickelt, nicht zuletzt weil sich auch die Erzählende weiterentwickelt. So entstehen immer neue, vielschichtige Bild-Objekt-Konglomerate, in denen die Ordnung der Dinge sich vor unseren Augen auflöst, neu sortiert und Analogien aufzeigt, wo man sie selber nie suchen würde.
Dieser Blick auf die Stadt und ihre Elemente ist im Kern archäologisch. Einen kategorialen Unterschied scheint es daher weder zwischen den ins Museum verbrachten Originalformen und den von der Künstlerin nachgebildeten zu geben. Es interessiert sie auch nicht, zwischen einer authentischen, städtebaulich konsequenten Architektur sozialistischer Provenienz und ihrer kapitalistische Pendants zu unterscheiden. Das Vokabular öffentlicher Plätze und Bauprojekte erweist sich bei Andrea Pichl als frei flottierende Zeichenformationen, die sich in fast beliebigen Kombinaten zusammenbringen und über die Welt legen lassen. Die Ordnungen, versteht man, sind überall ähnlich, weil sie die Quellen verleugnen, denen sie entspringen.
Offensichtlich geht es der Künstlerin also weder um Apotheose noch um Verdammung irgendwelcher Architekturstile oder gar wirtschaftlicher Systeme. Vielmehr lässt sich an ihren Arbeiten beobachten, was mit Dingen im Transfer passiert. Was es für ein Objekt heißt, wenn es aus seinem ohnehin absurden Kontext gelöst und in den nicht minder befremdlichen Kontext einer Ausstellung versetzt wird. Dabei führt sie auf sehr behutsame Weise, quasi durch die Hintertür, einen völlig eigenständigen Weg der Re-Konstruktion ein, der dem künstlerischen Interesse an der »Beziehungshaftigkeit« der Dinge, an ihren Verhältnissen zueinander, an wechselseitigen Bezügen und Verbindungen entspringt und nebenbei die Erinnerung des Umfelds manipuliert.
In der Ausstellung Unterkunft Freiheit sind es nicht zuletzt die szenischen Möglichkeiten von Architektur, mit denen sich die Künstlerin auseinandersetzt. Die Installation – wie viele von Pichls Ausstellungskonzepten - mutet wie ein strenges Bühnenbild für Personen und Posen an, so dass das Publikum niemals sicher sein kann, ob es die Arbeit betrachtet oder in ihr auftritt. In dieser Hinsicht hat es Ähnlichkeit mit einer Stadt und mit einem Spiel, dessen Regeln allerdings von der Künstlerin bestimmt werden.
Tatsächlich beruhen die drei Turmskulpturen, die wie Karten aus Charles und Ray Eames berühmten House of Cards ineinander gesteckt sind, auf unterschiedlichen Wohnungsgrundrissen. Neben 1- und 3-Raumwohnungen des Typs P2 aus den Punkthochhäusern in Halle-Neustadt hat die Künstlerin Grundrisse aus den Hochhäusern der Co-Op City in der Bronx, NY und aus Ballymun, einer Trabantenstadt in der Nähe des Dubliner Flughafens in diese ambivalenten Konstruktionen übersetzt, die Display und Werk gleichzeitig sind. In Halle steht der Besucher dann endlich im Zentrum einer kaleidoskopischen Architektur, deren vollständiger architektonischer Zusammenhang nicht unmittelbar ersichtlich ist. Da ohne Kommentar präsentiert, erschließen sich Zitate und Details, die Pichl wie Requisiten um und im Grundriss ihrer Inszenierungen platziert, vorrangig unterbewusst. Zwangsläufig wird dann scheinbar Bekanntes flugs in den eigenen Erinnerungsspeicher aufgenommen, während manch Einheimisches nicht wahrgenommen wird. Diese Methodik entspricht ihrer Auffassung vom Kunstwerk als nicht abgeschlossene Entität, das nur provisorische Gültigkeit hat, da in wechselnden Zusammenstellungen neue Beziehungsgeflechte, Widersprüche und Ergänzungen hervorgerufen werden können. Dem Betrachter fällt dabei die Rolle zu, die Geschlossenheit der Installation (für sich) herzustellen.
Susanne Prinz