FOURTH WALL SIXTH PLANE ANITA TARNUTZER TEXT ZUR AUSSTELLUNG VON MARK GISBOURNE
Eine komplexe dialektische Verbindung zwischen Objekt und Raum, zwischen Teil und Ganzem, zwischen Totalität und Fragmentierung, Wiederholung und Rekonstitution, sowie Vollständigkeit und Entropie manifestiert sich konzeptionell und materiell im aktuellen skulpturalen Projekt FOURTH WALL - SIXTH PLANE der Künstlerin Anita Tarnutzer. Tarnutzer hinterfragt nicht nur die Bedingungen und Para-meter des von ihr gegeben Konzepts, sondern dekonstruiert die vielen relationalen Möglichkeiten mit weit größerer Tiefe und Einsicht, als man beim Anblick eines klassisch abgeleiteten formalen Objekts wie einem Kubus zunächst annehmen könnte.Aus Keramik (Zellan) schuf die Künstlerin einen drei mal drei Meter großen weißen KUBUS, dessen Seiten von innen mit Nummern bedruckt und eingefärbt wurden. Nach der ersten Installation im Atelier der Künstlerin wurde der Kubus mit einem Hammer zerschlagen. Bei der zweiten Installation in einem kleinen Projektraum in der Schönhauser Allee wurde der KUBUS vor Ort wieder zusammengebaut und nach Abschluss der Ausstellung erneut zerstört. In der aktuellen Installation bei 401contemporary ist es nun das dritte Mal, dass der KUBUS in einem nunmehr langen und aufwendigem Prozess von mehr als drei Wochen rekonstruiert wurde. Diese einfache konzeptionelle Prämisse wirft eine Reihe von konzepti-onellen Ideen auf, nicht zuletzt die von Objekt im Bezug zum Raum, da der KUBUS aufgrund seiner Größe in jeden neuen Raum erneut aufgebaut und wieder zerstört werden muss. Da ist die Frage der Zeitlichkeit, denn die mittlerweile in die Tausende gehenden Bruchstücke erfordern eine immer länger dauernde Aufbauphase, die mit jeder Ausstellung zunimmt. In diesem Sinne gibt es einen kontinuierlichen Aspekt einer Raum-Zeit-Entwicklung in Bezug auf die allgemeine Praxis der Künstlerin und der Arbeit an diesem Projekt, von Entwicklung und Destabilisierung.
Die Nummerierung der einzelnen Fragmente und Scherben finden sich nur auf der Innenseite des KUBUS und legen eine "versteckte Sichtbarkeit" dar, die eigentlich nie vom Betrachter gesehen wird, aber durch den langwierigen Aufbauprozesses ableitbar ist. Die zunehmende Deformalisierung des ursprünglich kubenförmigen Objekts provoziert die Infragestellung von Formalität und Informalität. Die ehemals glatte Keramikoberfläche des KUBUS wird durch das Wiederzusammensetzen der einzelnen Stücke zunehmend unebener und uneinheitlicher.
Es ist dieser emblematische Charakter des Objekts, wie es von einer einst klassischen Form, wo die Fragmente das konventionelle Teilstück zum einheitlich Ganzen repräsentieren, zu einem informellen Status gelangt, bei dem ein Fragment oder ein Teil eine eigene Daseinsberechtigung erlangt. Friedrich Schlegel beschreibt dies folgendermaßen: „Ein Fragment muss gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel." Dies steht im Widerspruch zur herkömmlichen Vorstellung von einem "klassischen Fragment" mit romantischer "Fragmentierung" sowie dem modernen psychologischen und ästhetischen Verständnis des Teilobjekts. Tarnutzers Projekt schafft die paradoxe Wahrnehmung einer Wiederholung, die jedoch (in materiell-zeitlicher Hinsicht) nie exakt wiederholt werden kann, woraus die Frage resultiert: In welchem Sinn ist Rekonstitution eine Form der Wiederholung? Zur gleichen Zeit ist die Gesamtheit des Werkes nie ganz die selbe, da eine Art Entropie (eine Verminderung der Stabilität) durch jeden Installationsort und jede räumliche Rekonstitution ihres KUBUS stattfindet.
Dieser anspruchsvolle Ansatz von Konzept und informeller Wiederholung findet sich in vielen von Anita Tarnutzers sehr persönlichen und eigenwilligen Kunstprojekten. Was auf den ersten Blick alltäglich wirken mag, wird durch ihre Art der Umsetzung und Rekonfiguration seltsam interessant. Ob mit Objek-ten, Video oder Fotografie, diese Künstlerin schafft ein einzigartiges ästhetisches Gefühl der Dislokation, in der sich der verwirrte Zuschauer der Art seiner eigenen Verwunderung bewusst wird.
Mark Gisbourne
FOURTH WALL – SIXTH PLANE
Anita Tarnutzer
25 January - 22 February 2014
Opening: 24 January, 6 pm
Venue: 401contemporary, Potsdamer Straße 81 B, Berlin (Tiergarten)