LA DEUXIÈME NUIT _ VON NINA HOFFMANN ERSCHIENEN BEI KUNST-BLOG, 2008
La deuxième nuitAnita Tarnutzer in der Galerie metro, Berlin
19. April bis 9. Mai 2008
Kindheiten sind schöne Reisen, bunte Luftballons und weiche Plüschpullover, so das Stereotyp, so die Verblendung. Anita Tarnutzer lässt uns andere Wege beschreiten und gibt uns so einen Einblick in die Untiefen der Bewußtseinsfindung und führt uns zurück an den Ursprung.
Mit Kindheit hat die aktuelle Ausstellung der Schweizer Künstlerin vordergründig auch erst mal gar nichts zu tun.
Man betritt den Galerieraum und wird von Phänomenen umkreist. Sprichwörtlich umkreist, da man die erste Arbeit durchschreiten muss, um den düster gehaltenen Raum ganz zu betreten; einen viereckigen Ring aus Fotografien, hochglanz, an die Wände gepint. Diese vielteilige Fotoarbeit setzt sich aus Aufnahmen von gräulich wolkigem Himmeln zusammen. Am Rand der Fotografien kann man noch die umgebende Landschaft erkennen, meist Berge, auch Strommasten tauchen wie Realitätsverweise in manchen Teilen auf. Die Montage geschieht im Himmel, alle Wolken rund herum ergeben einen Teppich, einen Kreislauf, passen zusammen, die Berge und Masten wie eine Zierborte der Realität außen rum. Hier hat Tarnutzer manipuliert, lässt jedoch die einzelnen Blätter der Aufnahmen bestehen, lässt uns noch mehr rätseln, wie das entsteht, was wir sehen, wie es sein kann, dass einzelne Aufnahmen aus verschiedenen Ländern einen Wolkenteppich ergeben. Seelenwetter.
Auf der gegenüberliegenden Wand dreht sich ein Video, kreisförmig. Nach ein paar Momenten erkennt man Bäume, Wälder, die Kamera fährt im Auto dran vorbei. Rücksitz, Eltern vorne im Auto, auf der Suche nach dem guten Radiosender, dessen Frequenz man noch nicht kennt, weil man gerade erst die schwedische oder eine andere Grenze überquert hat. Hinten die Kinder, Kopf nach hinten geneigt, warten, Welt von unten, endlose Bäume ziehen am Autofenster vorbei und wenn man sich ganz stark konzentriert verschwimmt alles und man ist bald da. In Anita Tarnutzers Video, wiedererlebt man diese Perspektive, die man als Erwachsener lediglich mit dem Abstand der kühlen Technik reinszenieren kann. Technik, die Überbrückung. Chaos auch, Nicht- verstehen. Der Ton des Videos ist der Soundtrack der ganzen Ausstellung, eine Überlagerung vieler Elemente bis in die Unkenntlichkeit, ein Rauschen. Was früher war, kann dunkel sein, auch ohne tatsächliche Katastrophen und dunkel heißt erstmal ohne Licht.
Ohne Licht sind die fünf kleineren Fotografien die Tarnutzer lediglich an den oberen Ecken des Papiers an die Wand geheftet hat. Es entstehen so Minipanoramen. Kleine Unendlichkeiten, unendlich dunkel. In deren Schwarz erkennt man manchmal ein sehr sehr kleines Licht, eine Straßenlaterne am unteren Rand, sonst unterschiedliche Schatten, Nebel, Rauschen wieder. Lacan würde uns vielleicht den Tip geben, dass in dieser kleineren Arbeit der Knackpunkt der Ausstellung liegt. Die zweite Nacht, die nach der Lustbarkeit? Oder das nicht greifbare und unbezwingliche Begehren, etwas zu entdecken? Einen Sinn? Verstehen wollen. Wie erwacht man aus der zweiten Nacht?
Tarnutzer schichtet unterschiedliche Helligkeiten in ihrer Ausstellung, die fast totale Schwärze, das halbdunkle Wolkennetz, sonnendurchflutete Wälder mit Kindheitskreisel und den erhellenden Blitz. Betritt man den zweiten, kleineren Raum der Ausstellung sieht man sich dem Gewitter gegenüber. Es sieht aus wie aus Krieg der Welten, nur ohne Krieg und ohne Welten. Anita Tarnutzer hat alle Blitze eines Gewitters als Bilder zu einem Video übereinander gelegt. Das Gewitter verweilt an einer Stelle und erhellt den Nachthimmel. Die Griechen haben dem Gott des Blitzes aus lauter Erfurcht die höchste Stelle im Olymp zugewiesen und selbst als Video auf einem Monitor, in einer geordneten Ausstellung, lässt uns seine Energie respektvoll an den Ursprung des Lebens denken. Man vermutet die Entstehung des Humunculus, denkt an Goethe und an Faust und an die Sehnsucht nach Erkenntnis und dann vielleicht daran, wie man selbst angefangen hat, als Mensch. Tarnutzer wirft den Ausstellungsbesucher auf sich selbst zurück, indem sie sehr technisch, sehr distanzierte, doch fast morastig tief liegende Bildwelten heraufbeschwört.
La deuxieme nuit will nicht gefallen; diese Ausstellung läßt uns graben, schürfen, ganz tief.
Nina Hoffmann