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CONNY BECKER
 

AUSSTELLUNGSKATALOG FAMILY JEWELS ZUR GLEICHNAMIGEN AUSSTELLUNG IM BAHNWÄRTERHAUS DER VILLA MERKEL, ESSLINGEN

Cover des Ausstellungskatalogs Family Jewels, hrsg. v. Conny Becker, Layout: Bongout, Berlin
METACOLLAGE VON REALITÄTEN

Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich
provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.
– Max Ernst, 1937, zitiert in Biographische Notizen (Wahrheitgewebe und Lü-
gengewebe), 1962

Die Collage ist eine Konstante in den Arbeiten von Damien Deroubaix, des-
sen Family Tree den Ausgangspunkt für die Ausstellung „Family Jewels“ im
Bahnwärterhaus bildet. Entstanden für eine Carte blanche in der französischen
Kunstzeitung Particules in 2008 (eine schöne Wesensverwandtschaft zu Ad Rein-
hardts Comic, s.o.), verbindet die selbst kreierte Ahnentafel so unterschiedliche
Positionen wie Pablo Picasso, George Grosz oder Matthias Grünewald und lässt
eine Collage im Kopf entstehen, die in ihrer Schrillheit dem unischwarzen Hinter-
grund von Family Tree diametral entgegengesetzt scheint. Von den individuellen
Assoziationen der Betrachter losgelöst, konkretisiert sich im Bahnwärterhaus
e i n e konkrete der vielen möglichen Interpretationen der Ahnentafel zu einer
raumgreifenden Metacollage. Wie bereits 2008 bei Bongout, Berlin, erobert die
zu einer Wandmalerei angewachsene Arbeit die dritte (und vielleicht vierte)
Dimension, indem Gegenwartskünstler ihre bloßen Namen in Skulptur, Malerei,
Zeichnung, Siebdruck, Collage oder Video verwandeln und damit unsere westli-
che, kapitalistische Konsumwelt kommentieren.

So scheinen Myriam Mechitas (kopflose) Gemsen in ihrer so verführerisch silbern
glänzenden Haut, die Lust auf den Fetisch zunächst zu befriedigen. Sie leiden
aber gleichzeitig an einer Bulimie des Konsums und verenden letztlich an ihrem
glitzernden Auswurf. Wie für Mechita stellen auch für Barbara Breitenfellner die
eigenen (Alb-)Träume eine Ressource für ihre installativen Arbeiten dar. In ihren
oft nur durch subtile Eingriffe ins Surreale abdriftenden Papiercollagen wird das
in älteren Zeitschriften transportierte deutsch-österreichische Natur- und Ge-
sellschaftsidyll mit einer zweiten Ebene überlagert, die aufzudecken sucht, was
unter der Oberfläche ruht. Das verbindet sie mit Wawrzyniec Tokarski, der uns
per Werbeschriftzug als Rekruten gewinnen will (Join), die Konsequenzen – den
Gemeindefriedhof – jedoch gleich mitliefert.

Einen Clash of cultures, der an sich schon eine Metacollage darstellt, reflektieren
die Assamblagen von Gaston Damag, der bei Skulpturen aus vermeintlich philip-
pinischem, de facto aber afrikanischem, für Touristen en masse produziertem
Kunsthandwerk gnadenlos den Kopf mit einer Neonröhre durchstößt und damit
einen anderen Blick auf den Exotismus in der Kunst liefert. Eine kurz vorm Bersten
stehende Gespanntheit erzeugen schließlich die Skulpturen von Assan Smati, die
stets kraftvoll und materialstark und doch voller Poesie sind. Sei es der in schwe-
rem Blei gegossene Elefant mit Menschenohren, ein niedergestreckter Boxer oder
der Schäferhund mit Schmetterlingsflügeln: Die Metamorphose scheint immer ins
Stocken geraten zu sein, die aufgestaute Energie entläd sich in den Raum.

Verwirrend ruhig dagegen wirken die surrealen Verwandlungen von Maël Nozahic,
die in ihren Aquarellen Monster collagiert oder besser: klont, sie aber in ihrem
eigenen, entrückten Bildraum belässt, als unwirkliche Geister in einer märchen-
haften Ferne. Wie ephemere Erscheinungen tauchen die Bildfiguren von Nicole
Bianchet aus dem stets düsteren Hintergrund auf und ziehen mit beschwörendem
Blick den Betrachter in den Bann. Die malerischen Zeichnungen, für die Bianchet
das Papier durch zahlreiche Farbeschichten und Zerknittern aufs Äußerste strapa-
ziert, changieren zwischen Präsenz und Verlust, Horror und Romantikkitsch.

Fragil sind auch die Decoupagen von Yannick Vey, der häufig mehrere Bilder per
feinstem Sezieren übereinander schichtet beziehungsweise negativ-collagiert, denn
hier wird nichts hinzugefügt, sondern abgetragen. Das Doppelbild gibt sich dabei
nicht direkt zu erkennen, zumal sein eigener Schatten eine weitere Ebene in die
Arbeit bringt. Metacollagen entstehen gänzlich, wenn Vey wie bei Elle Sait Faire
eine Skulptur mit den fragilen Papierarbeiten in einen Dialog stellt. Oder auch,
wenn Jean-François Gavoty eine durch Silberbezug glänzende Krokodilhaut an die
Wand hängt und das rosafarbene Gebiss des Reptils am Gummischlauch von der
Decke baumeln lässt. Die beiden Arbeiten, die Gavoty als Gips-(Harz-)Abgüsse von
einem echten Krokodil abgenommen hat, haben jedoch nichts mit Jagdtrophäen
gemein. Sie feiern die Schönheit und gewaltige Stärke, die aus jeder Pore des
einst gefährlichen Jägers spricht.

„Lasst mir die Freiheit, naiv zu sein“, sagt Eric Corne. Doch was als naive Malerei
anmutet, birgt gesellschaftskritische Mikronarrationen: Während ein Haus von
SS-Truppen heimgesucht wird, macht sich Eichmann aus dem Staub, mit den
Türmen von Babel wird gleich ein Flugzeug kollidieren und uns bleibt bei diesen
apokalyptischen Szenarien nur der Selbstmord oder die Revolte. Für Letzteres
entschied sich Ehren Tool, nachdem er aus dem Ersten Golfkrieg heimkehrte. Er
schafft seitdem handgranatengroße Tassen mit grausamen Kriegsbildern, die als
Company (225), in Platoons (55), Squads (13) oder Fireteams (4) organisiert sind,
bis schließlich nur noch einzelne Veteranen zurückbleiben. Einige von ihnen hat
er ans Weiße Haus und andere Involvierte geschickt, um einen Bruchteil vom
Wahnsinn des Krieges in ihr amerikanisches Heim zu bringen.

Militär- und Kriegbilder sind auch Ausgangspunkt im Werk von Martin Dammann,
seit er für das Archiv of modern Conflict private Kriegsfotos sammelt. Posie-
rende im Schützengraben, Frauenbesuch im Militärcamp, toter Feind (Freund?) in
Landschaft: Motive von Schnappschüssen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg werden in fast schon zu schöne Aquarelle übersetzt und beschwören das Erin-
nern. Geradezu Ekel erregend sind dagegen Fredox’ Fotocollagen, die Krieg und
Rassismus, Umweltverschmutzung, Splatter und Porn zu einem komisch-apoka-
lyptischen Brei vermengen. DADA ist bei Fredox zu spüren, der wie damals John
Heartfield als Werbegrafiker arbeitet und sich somit auf Manipulation bestens
versteht.

Ganz konkret rekurriert Souche auf DADA, etwa auf Marcel Duchamps übermalte
Mona Lisa: L.H.O.O.Q (französisches Wortspiel, das ausgesprochen besagt: Sie ist
heiß am Arsch). Auch er zeichnet (auf billiger Reproduktion) einer Portraitierten
einen Schnurbart, die sich in ihrer abweisenden Gestik dem Spaß jedoch zu
widersetzen scheint, so dass letztlich auch der Titel I+II+O+O+VII= nur noch eine
visuelle, ironische Referenz zu Duchamp aufweist, sich in eine banale Matheauf-
gabe verwandelt. Im Geist von DADA ist auch Jeffrey Vallance zu sehen, der, um
dem Vergessen seines (toten) Tiefkühlhühnchens Blinky entgegenzuwirken, unter
anderem Frisbees mit dessen Portrait unter die Leute bringt.

Ein echter Nachruf verbirgt sich allerdings in Chris Bors Videoaufnahme einer ver-
wundeten Waldschnepfe in Midtown Manhattan, bei der die harten Klänge des
Metal-Gitarristen Dimebag Darrell zu hören sind, der bei einem Konzert brutal
erschossen wurde. Im Kontext von Metal und Tattoo stehen auch die Arbeiten
von Anna Hellsgård und Christian Gfeller, dessen Polaroids die Untergrundszene
bis ins Intimste portraitieren. Alltags- und Popkultur (aber auch die Film- und
Kunstgeschichte) kommentieren dagegen die Bilder von Bruno Perramant, der
alltägliche Dinge zu Ikonen stilisiert, aber auch Joep van Liefland, der mit seinen
(wenig stilvollen) Videostores und VHS-Kasetten ein zeitgenössisches Memento
mori liefert.

Gegen jeden guten Geschmack und alle Tabus verstößt Manuel Ocampo in
seinen auf Leinwand gemalten Collagen aus christlichem Fetisch, politischen
Symbolen und Köpfen, Exkrementen und niederem Getier wie Ratten oder
aasfressende Geier. Tabuisiert ist auch das Sujet in Stu Meads Werk, der junge
Mädchenkörper mal in unschuldig-intimen, mal drastisch-orgastischen Arrange-
ments zeigt. Die Zensur, die ihn wie kürzlich Richard Prince in der Tate Modern
schon einige Male traf, setzt am falschen Ende an, da sie die Realität verklärt.

In „Family Jewels“ brechen 25 Gegenwartskünstler vermeintliche Realitäten auf,
entblößen Doppelbödiges in etablierten Wertevorstellungen und erfüllen damit
Georg Baselitz’ Forderung, als Künstler aggressiv, renitent zu sein. Selbstbewusst
stellen sie sich diesem und anderen großen Meistern, verschmelzen mit ihnen
in derselben Metacollage. Dabei sind sie zwar kritisch, aber stets voller Humor:
Schließlich bezeichnet „Family Jewels“ im Englischen nicht nur Kronjuwelen...

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Text aus dem Ausstellungskatalog FAMILY JEWELS zur gleichnamigen Ausstellung im Bahnwärterhaus der Villa Merkel, Esslingen vom 13.12.09 bis 31.01.10