BAROCKE RE-VISIONEN ODER „EXUBERANCE IS BEAUTY”
Catherine Lorent: Élément de conspiration, 2013
Catherine Lorent: Apotheosis Ba-Rock, 2013, Detail
Catherine Lorent: Ausstellungsansicht Séismes
William Blake: Proverbs of Hell
Eine berauschende Fülle in der Komposition, theatralische Effekte sowie eine scheinbar beliebige Kombination von Materialien und Techniken prägen im Allgemeinen die Vorstellung vom Barock. Ähnliches könnte man dem Werk von Catherine Lorent attestieren. Die luxemburgische Künstlerin arbeitet mit einem erweiterten, barocken Kunstbegriff, der die Widersprüche einer modernen westlichen Lebensweise vor Augen führt und binäre Denkmuster auf den Prüfstand hebt. Schon mit ihrer künstlerischen Herangehensweise bricht sie immer noch gängige Kategorisierungen auf: In ihren visuell und akustisch aufgeladenen Installationen kombiniert sie Malerei, Zeichnung und Skulptur mit Performance, Musik und theatralischer Inszenierung. Sowohl bildende Künstlerin als auch Multiinstrumentalistin in ihrem Musik-Projekt Gran Horno, arbeitet Lorent multidisziplinär und scheint den gegenwärtigen Trend zu Event-Ausstellungen aufs beste zu bedienen. Sie bleibt dabei jedoch nicht an der Oberfläche, sondern übersetzt komplexe barocke Strategien für ein sinnliches Gesamtkunstwerk in die Gegenwart. Inspiriert von ihrem Werk, ja geradezu physisch in dieses einbezogen, kann häufig auch der Besucher über partizipatorische Komponenten selbst kreativ werden und auf die Idee der Künstlerin reagieren, sie subjektiv reinterpreieren.
Opposition zum Barock-Bashing
Der Titel der im Cà del Duca gezeigten Soundinstallation Relegation verweist zunächst auf die lang verbreitete Ablehnung – „Verbannung“ – des Barock in der Geschichte der Kunst und speziell in Venedig, wo der von den Jesuiten vorangetriebene Hochbarock in der Architektur schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts mittels einer „anti-barocken Polemik“ eingedämmt wurde.(2) Kritiker aus dem Umfeld der Dominikaner plädierten für strenge Regeln gegen ornamentalen Exzess und Extravaganz und für einen „all’antica“-Klassizismus mit minimaler, möglichst nur funktioneller Dekoration und neopalladianischer Regelhaftigkeit, die in der Architektur nahtlos in den Klassizismus überging, während in der Innenausstattung dem Rokoko gefrönt wurde.(3) Wenn Catherine Lorent ihr barockes Spektakel in einem Renaissance-Palazzo aufführt, spiegelt sie in gewisser Weise die damalige Diskrepanz zwischen Sein und Schein, die zwei gegenläufige künstlerische Strömungen nährte und deutliche Parallelen zur heutigen Situation aufweist: den Drang nach Zerstreuung angesichts (damals von den Kriegen gegen die Türken) leerer Staatskassen und dem von der Aufklärung getragenen Verlangen, philosophische, wissenschaftliche und ästhetische Fragen zu klären, um die offensichtlich fragile Welt in eine Ordnung zu bringen.
Ähnlich barock-feindliche Tendenzen wie im damaligen Venedig lassen sich für den aktuellen Berliner Kunstkanon diagnostizieren – gemessen an den beiden letzten Berlin Biennalen sowie der Übersichtsschau based in Berlin mit ihren überwiegend politisch korrekten, blutleeren, protestantisch-preußischen Positionen.(4) Und dennoch – oder gerade deshalb bildet die als absurd, verschwenderisch und pathetisch verfemte Bildsprache des Barock die primäre Referenz in Lorents Werk. Dabei zitiert die in Berlin lebende Künstlerin entsprechende Vorlagen innerhalb strenger Regeln im Sinne des, entgegen dem ersten Anschein, äußerst systematisch strukturierten Barock, so dass ihre Arbeiten – wie bei barocken Architekten und ganz im Gegensatz zu postmodernen Künstlern – „trotz ihres Montagecharakters kein Zitatenmischmasch“ darstellen.(5) Während letztere Zitate isolieren oder in neuen Konstellationen sinnentleert verwenden, bildet Lorent – mal assoziativ, mal stärker konstruiert – neue Sinnzusammenhänge, die einer all ihren Werken inhärenten Logik folgen und ein tiefes Verständnis für die vergangene Epoche beweisen (s. Abb. 1).
Dabei beginnt die Künstlerin ein neues Thema mit automatischen Zeichnungen, traumhaften Spontanbildern ihrer Assoziationen, und erstellt parallel geometrische Auflösungen und Farbschemata (s. Abb. 2). Bei Gemälden auf Leinwand können diese „Energiepläne“ (Lorent) unter dem eigentlichen Motiv liegen und die Arbeit, trotz der nachträglichen Autozensur, subtil strukturieren, rhythmisieren. Damit arbeitet sie ganz nach barocken Prinzipien, laut denen „wie in der Musik [...] die Mathematik die Grundlage [bestimmt], auf der die Körper der Heiligen und die sich aufblähenden Ornamente aller Formen triumphieren.“(6)
Solve et coagula
„Man kann die Haltung des Barock definieren als eine, die auf einem objektiven Konflikt zwischen antagonistischen Kräften beruht, die jedoch in einem subjektiven Gefühl von Freiheit und sogar Lust verschmelzen: [...] wenn auch noch immer verfolgt (und angetrieben) durch das eindringliche Bewusstsein um einen zugrunde liegenden Dualismus.“(7)
Im luxemburgischen Pavillon verschmelzen bildende Kunst und Musik mit der Palazzo-Architektur wie in einem alchemistischen Ofen. Dabei verbindet Lorent antithetische Elemente wie abstrakte und gegenständliche Formensprache, Hoch- und Popkultur sowie Improvisation und strenges Konzept. Diese Diskrepanzen fügen sich zu einem barocken Gesamtkunstwerk,(8) das der Besucher mit all seinen Brüchen erleben soll, wobei subjektive und emotionale Reaktionen nicht relegiert werden, sondern geradezu erwünscht sind.
Den Auftakt der Ausstellung bilden Zeichnungen aus der Reihe Séismes (Erdbeben), die E-Gitarren und andere Motive bei einer imaginären Erschütterung zeigen und wie ephemere Erscheinungen (ohne Rahmen und Glas) an den Wänden des langgestreckten Korridors hängen. Dieser erhält ein gar körperlich spürbares klaustrophobisches Moment, wenn plötzlich – aktiviert durch Bewegungssensoren – Töne aus diversen, vis-à-vis zu den Zeichnungen stehenden Verstärkern dringen. Unbewusst lässt der Besucher bei seinem Gang durch den Pavillon von der Decke hängende E-Gitarren über ein elektromagnetisches Regelsystem erklingen, wobei jede Gitarre mittels eines sogenannten Ebows – ein elektromagnetischer „Bogen“ – wie bei Streichinstrumenten einen lang anhaltenden, durchdringenden Ton generiert.(10) Ebenso wie die dreizehn Gibson Explorer – Sinnbild für Rock- bzw. Popkultur – sind in den Räumen entlang des Canal Grande drei Konzertflügel – Symbol für die klassische Hochkultur – mit Ebows präpariert und fügen den sirenenhaften Gitarrenklängen jeweils aufeinander abgestimmte Moll-Akkorde hinzu, schaffen in der gesamten Ausstellung eine eindringliche Atmosphäre.
Seit ihrer Jugend experimentiert Lorent in der Musik und findet auch darin eine Parallele im 17. Jahrhundert – als beispielsweise Wiener Komponisten wie Johann Heinrich Schmelzer sich bereits an „minimalistischen Endlosschleifen, Dissonanzen, Naturimitationen, Raumeffekten [und] Vertonung von Bildern“ versuchten.(11) In ihren Soundinstallationen ähnelt die Stimmung und Reduktion den von der Zen-Theorie beeinflussten Werken John Cages, der als einer der frühen „Grenzüberschreiter“ dem Mystisch-Ritualhaften in der Musik nachspürte.(12) Dabei arbeitet Lorent zwar überwiegend in Moll, benutzt aber verglichen mit vielen Stücken des US-amerikanischen Komponisten weniger Dissonanzen, woraus – wie in Cages Act I Scene I – eine melancholischer, trance-artiger Zug entsteht. Wie bereits in ihrer Ausstellung Réminiscences censurées im Centre des arts pluriels CAPe (Ettelbrück) konstruiert die Künstlerin für den akustischen Part ein Grundschema, das jedoch – wie schon in der Barockmusik – einen Freiraum für Improvisation lässt.(13) Diesen schöpft sie in den ersten Tagen der Biennale in fluxusartigen Performances aus, bei denen sie die Instrumente der Ausstellung, aber auch ihre eigene Gipson Explorer, als eine „lebendige Installation“ bespielt, teilweise begleitet von der Akkordeonistin Natascha Gehl.
Insbesondere mit Blick auf die Instrumente wird eine die Ausstellung durchziehende Zahlensymbolik deutlich. Während Lorent die klassischen, rund geschwungenen (und damit offenbar das weibliche Prinzip verkörpernden) Flügel mit der göttlichen Zahl der Trinität verbindet, wählt sie für die asymmetrisch-avantgardistischen E-Gitarren, die unschwer an einen Phallus gemahnen, die Anzahl Dreizehn aus – das sogenannte „Teufelsdutzend“, das die in vielen Kulturen als vollkommen angesehene Zwölf um eins überschreitet und als Inbegriff der „Störung und Disharmonie“ gesehen werden kann.(14) Diese vermeintliche Dämonisierung der Instrumente, die entsprechende Klischees zu Rock, aber insbesondere Heavy oder Trash Metal zu bestätigen scheinen, geschieht bei Lorent jedoch nicht ohne Augenzwinkern. Denn für sie stellen beide Instrumente äquivalente Fetischobjekte dar, weshalb sie sie in der Ausstellung gleichwertig behandelt beziehungsweise eine negative Belegung der Gitarren durch ihre erhöhte, engelsgleich-schwebende Inszenierung konterkariert. Die drei Flügel sind zudem jeweils als Paar mit einer Gitarre angeordnet, das auf die Chymische Hochzeit zu warten scheint, die in der Ausstellung Acedia im Centre d’art Nei Liicht (Düdelange) schon einmal vollzogen wurde (S. Abb. 3). Lorent lässt die musikalischen Gegensätze in einer subjektiven Einheit aufgehen und verbrennt in ihrem Gran Horno (dem großen Ofen oder Athanor) Klassik, Heavy Metal, Independent Music und Soul in einem großen Feuer, dessen Flammen je nach Musikgenre variieren.(15)
Schwebende Zeichnungen
Ihre Gemälde und Zeichnungen synthetisiert Lorent ebenfalls aus Elementen unterschiedlichster Genese. Neben Versatzstücken aus dem Barock finden sich Formen und Symbole aus der Heraldik, der Alchemie und Geometrie genauso wie romantische Seelenlandschaften oder Zitate der Gegenwartskultur (s. Abb. 4). Als Bildsujets tauchen die Stärke und Erhabenheit der Natur, Symbole der Macht jeglicher Herkunft sowie eine in die Schieflage geratene Welt regelmäßig auf. Lorent verwendet Strategien der Überhöhung für ihre Zwecke, wobei sie meist eine relativierende Gegenbewegung, einen Gegenpol mit offeriert.
Auch der Luxemburgische Pavillon scheint nach den einleitenden Erschütterungs-Bilden aus den Fugen geraten zu sein, denn das gewohnt betrachtende, Kunst-konsumierende Abschreiten der Wände ist plötzlich obsolet und macht Platz für eine Kunst-Erfahrung. Abgesehen vom Korridor bespielt Lorent ausschließlich die Decken mit ihren Bildern, genauer mit großformatigen Zeichnungen aus Tusche, Pastellkreide, Aquarell, fluoreszierendem Pigment und Kohle. Damit regt sie wie Arnold Bode mit seiner nicht unumstrittenen Inszenierung dreier Bilder Ernst Wilhelm Nays auf der documenta III (1964) eine immer noch ungewöhnliche Art der Kunstrezeption an: des Erlebens von Kunst und Raum jenseits pragmatischer Funktionalität (s. Abb. 5).(16)
Aus dem Kontext der profanen Kunst weist die Präsentation unter der Decke weitere unorthodoxe Bezüge auf, man denke etwa an den schwebenden Preußischen Erzengel von John Heartfield und Rudolf Schlichter auf der ersten Dada-Messe 1920. Direkt inspiriert wurde die Art der Inszenierung aber möglicherweise von Lorents zeitgenössischem Berliner Umfeld. Dort wurde in den regelmäßig mit 50 oder 100 Künstlern organisierten Gruppenausstellungen beizeiten das Ausweichen auf die Decke nötig, da bei so mancher „Petersburger Hängung“ – im zeitgenössischen Kontext ist es durchaus legitim, von „Berliner Hängung“ zu sprechen – kein Platz mehr an der Wand vorhanden war. In der Gruppenausstellung Fresco Mondo Return, an der auch Lorent beteiligt war, wurden 2011 im bereits legendären Projektraum The Forgotten Bar Project die Wände gar freigelassen (s. Abb. 6) – nur konsequent, da traditionell gehängte Arbeiten bei der überfüllten Eröffnung kaum zu sehen gewesen wären. Diese „frische Welt“, die künstlerischen Freiräume des Labor Berlin, setzt Lorent mit ihrer trashigen Malerei und lebendigen Inszenierung dem musealen Venedig gegenüber.(17)
Obgleich die Präsentationsform in Zeiten von White Cube und einem mächtigen Kunstmarkt einen innovativ-experimentellen Charakter behalten hat, knüpft sie ursprünglich an die Tradition barocker Baldachin- und vor allem Plafondmalerei samt all ihrer Überwältigungsstrategien an. Lorent scheint wie Bode in Kassel „mit der Umwandlung des Tafelbilds zum „Raumbild“[...] die Kunstwahrnehmung dynamisieren und zugleich zu einem sakralen Erlebnis gestalten“ zu wollen.(18) Die Künstlerin inspirierten vor allem Deckenbilder Bayerischer Kirchen und Klöster, die mit ihren Trompe-l'œils und Anamorphosen geradezu delirienhaft wirken können.
Verzerrt und verformt, beinahe im Fluss erscheint auch das erste Deckenbild Element de conspiration, in dem das Auge unruhig zwischen übereinander geschichteten geometrischen Formen und vier monochromen Farbflächen hin und her wechselt (s. Abb. 7). In der mystischen Aufladung und dem Regelhaften ist das Interesse an Mark Rothko und Ellsworth Kelly, an Farbfeld- und Hard-Edge-Malerei zu spüren. Lorent, die wie Kelly Bilder als Objekte auffasst, sägt ihre Werke teils – wenn auf Holz gemalt – auch mal (gern in Wappenform) aus (s. Abb. 8). In Element de conspiration hingegen lässt sie schablonenartige Leerstellen, die der Arbeit etwas Animistisches verleihen: Die zentralen Kreise schaffen einen maskenhaften Charakter und die an der Arbeit fixierten E-Gitarren sind von einem negativen, da fluoreszierenden Schattenriss hinterfangen. In dieser (bis auf die Gitarren-„Schatten“) abstrakten Komposition sind die Grundbestandteile von Lorents Nummerncode versammelt: die heilige Dreifaltigkeit, die Fünf als Symbol für den Menschen, die Sechs als Grundmodell in der Natur (vom Benzolring bis zur Bienenwabe) und die Acht, die für Lorent als „Gotteszahl“ den Grund, das Elementare repräsentiert. Jedes, vermeintlich willkürlich erscheinende Element, hat einen Sinn, ordnet sich ins Gesamtkunstwerk ein.
„So wie der achte Ton den Grundton wieder aufgreift, nur eine Oktave höher, so stellt der achte Tag den ersten Tag wieder her, aber gereinigt und „erhöht“.“(19)
Apotheose der Selbstverwirklichung
Das Erhöhen in und mit der Kunst bildet unverkennbar ein Hauptthema in Lorents Werk, weshalb sie sich barocker Bildprogramme zu Themen des Erhabenen, Herrschaft und Macht bedient, dabei aber ausdrücklich die damit verbundenen Absurditäten und Gegensätze präsentiert, die auch barocke Künstler als solche thematisierten. Denn antithetische Erklärungsmuster greifen in einer hochkomplexen Welt zu kurz: Gut und Böse, ratio und religio stehen sich höchstens als Konzepte diametral gegenüber, in der Realität sind sie jedoch vielschichtig verwoben. In diesem ganzheitlichen Ansatz lässt sich auch die Gegenüberstellung von abstrakten und mit Ornament und Figuren überladenen Zeichnungen verstehen. Während in Elements de conspiration eine meditative Strenge den Betrachter überwältigt, so ist es im folgenden Raum bei Apotheosis (Ba-Rock) der Überschwang (man bedenke, dass sich zu den Gitarrenklängen nun auch die Klavierakkorde hinzugesellen wie auch die Reflexionen der Deckenarbeit in der spiegelnden Flügeloberfläche).
Das Zentrum von Apotheosis bildet ein auf den Sehnsuchtsort Paradies verweisendes Trinitätsdreieck, das die Lichtkegel der göttlichen Erkenntnis in den Raum strahlt, ähnlich wie beispielsweise im Kuppelfresko der Benediktiner-Abteikirche von Neresheim (s. Abb. 9). Betrachtet man ein Zustandsfoto aus dem Schaffensprozess, gleicht Lorents Arbeit dieser spätbarocken Deckenmalerei auch in Farb- und Figurenfülle (s. Abb. 10). Die Künstlerin fokussiert dabei auf das himmlische Areal und lässt mit großer Virtuosität zahlreiche Engel durch die Lüfte sich balgen, mal traditionell mit barocken Architekturelementen, mal mit Mikrofonen und E-Gitarren spielend. Hier spürt man das caravaggeske „Vergnügen[s] an der Darstellung“.(20) Wenn sie die Engel, wie im Werk selbst beschrieben, auf „World tour“ schickt, weist dies comichafte Züge auf, sowohl formal (durch den spontanen Strich und die Felder des Farbschemas) als auch inhaltlich. Dabei zeigt Lorent im Sinne Erwin Panofskys einen sehr barocken Humor, der auf der Fähigkeit beruht, die Welt als nicht perfekt zu erkennen, ohne sich selbst für überlegen und frei von Fehlern zu halten.
„Der Humorist hat, dank jenes Bewusstseins, das ihn auf Distanz zur Wirklichkeit wie auch zu sich selbst hält, die Fähigkeit zu beidem: die objektiven Unzulänglichkeiten des Lebens und der menschlichen Natur wahrzunehmen – das heißt, die Widersprüche zwischen Wirklichkeit und ethischen oder ästhetischen Ansprüchen – sowie diesen Widerspruch subjektiv dadurch zu überwinden [...], dass er ihn als Ergebnis einer universellen, ja sogar metaphysischen Unvollkommenheit versteht, die vom Schöpfer der Welt gewollt ist.“(21)
Der barocke Humor ist demnach kein abwertender, sondern ein produktiver, bei dem der Humorist mit dem behandelten Gegenstand tief übereinstimmt und ihn sogar gewissermaßen „verherrlicht“.(22) Die durch barocke Künstlichkeit und Theatralik erwirkte Distanz mindert dennoch nicht die unbedingte Intention, gerade angesichts aller Unzulänglichkeiten dem Tod mit dem eigenen Leben, dem eigenen kreativen Ausdruck – und sei er noch so pathetisch – etwas entgegenzusetzen.
Ihre künstlerischen Botschaften schreibt Lorent explizit als Text in die Arbeit Apotheosis ein, angelehnt an die Thesenblätter des Hochbarock, welche damals Disputationen an zumeist jesuitischen Universitäten propagierten. Diese Grafikgattung, die, häufig als Gebrauchsgrafik gewertet, wenig bekannt ist, konnte in ihrer Blüte überdimensionierte Formate von bis zu zwei Metern Höhe annehmen, was Lorent noch überbietet.(23) Bezüglich ihrer Thesen verfährt die kürzlich promovierte Kunsthistorikerin jedoch analog der Gestalter früher Blätter aus dem 17. Jahrhundert (vgl. Abb. 11) und verstreut Texte über das gesamte Blatt, so dass sie hermetischer, schwerer erfassbar sind. Ihre quirligen, allerdings häufig halbseitig mit Totenkopf erscheinenden Engel, demonstrieren Lorents unterschiedlichste musikalische Einflüsse: Einem Engel sind auf der Brust die Namen Johann Sebastian Bachs wie auch der Trash-Metal-Gruppe Slayer tätowiert, andere halten Kartuschen mit Songtiteln – wie Thesen-stützende Argumente: Live and let die (Paul McCartney), This ist the end (The Doors), So what (Anti Nowhere League) oder das selbst komponierte Dying in style – allesamt wie die Engel selbst Memento-mori-Motive.
Die eigentlichen Thesen Lorents finden sich fragmentarisch in einem Spruchband, das flatternd die Zeichnung umläuft. Sie fordern im Kern ganz wie der schwarze Romantiker William Blake dazu auf, sich seiner selbst bewusst zu werden und das wenn auch kurze Leben nach seinen innersten Wünschen zu leben: „Never remain silent in your desert – stay and listen to the sound of your thoughts – remindin’ you of your true skills and invite you to drone life and to doom your day (...).“ Mit diesem Plädoyer wird Lorent zu Blakes Schwester im Geiste; fordert jener doch beispielsweise in den Aphorismen Proverbs to hell eindringlich zur Aktion, gar zum Exzess auf:
„The road of excess leads to the palace of wisdom.
Prudence is a rich ugly old maid courted by Incapacity.
He who desires but acts not, breeds pestilence.
[...] Exuberance is Beauty.”
Apotheosis kann somit als ein Schlüsselwerk der Ausstellung betrachtet werden, zumal Lorent hier auch die Relegation ihrer barocken Seite durch eine partielle Autozensur der Zeichnung mittels Kohleübermalung thematisiert. Ihre Forderung, die vom Wunsch nach genialem Schaffen geprägt ist, zu erfüllen, lässt sich nicht ohne Hindernisse bewältigen. Stets droht zur Seite der Pascalsche Abgrund, den Lorent gleichsam zu suchen scheint und mit Titeln wie Reminiszenz/Zensur/Acedia/Relegation mitschwingen lässt. Trotz (innerer oder äußerer) feindlicher Mächte gilt es jedoch, sein inneres Paradies zu bewahren (Relegate your paradise), um dem Jüngsten Gericht oder dem Universum als ein Mensch zu begegnen, der, sich seiner Unzulänglichkeiten bewusst, seine Potenziale genutzt hat. Als Amalgam mit zeitlosen Themen wie Fragen nach dem Genie, der Vanitas, dem Tod kann die Ausstellung als Apotheose des Lebens und barocke Aufforderung zum cape diem verstanden werden, wobei dem Betrachter die existenzielle Dimension spätestens im letzten Raum bewusst wird: Ein durch Schwarzlicht beleuchtetes Dunkel und ein unter der Decke präsentierter, halluzinatorisch fluoreszierender Engelssturz (Relegatio+Absolutio) werfen ihn auf sich selbst zurück – auf sein im Vergleich zum unendlichen Universum kleines menschliches Dasein. Was können wir in unserem Leben erreichen? Mit ihrer vierdimensionalen barocken Montage liefert Catherine Lorent keine konkreten Antworten, vielmehr einen Impuls, der schließlich den Betrachter (ein)fordert. Durch diese Verstrickung von Objekt (Kunstwerk) und Subjekt (Betrachter), sind Lorents Arbeiten in Venedig eher als „Ereignisse des Werdens denn des Seins“ aufzufassen(24). Bei dieser für den Barock charakteristischen „halluzinatorischen Perzeption“(25) bleibt manches hermetisch, aber stets mit einem Quantum an barocken Humor.
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1 Dt: Überschwang ist Schönheit, Aphorismus von William Blake, Proverbs of Hell (aus The Marriage of Heaven and Hell), in (W.H. Stevenson (Hg.): Blake – The complete poems, second Edition, London/New York S. 108-111; 110. Der Begriff Re-Vision ist Mieke Bal entlehnt, s.u.
2 Ennio Concina: „The eighteenth century: anti-baroque polemics, „stil veneziano“ and innovation“, in ders. A history of Venetian architecture, Cambridge Univ. Press, 1998, S. 267-290, hier: 267.
3 Vg. ebd. und Deborah Howard: The architectural history of Venice, London Batsford, 1980.
4 Deborah Howard: The architectural history of Venice, London Batsford, 1980, s. 194.
5 Vgl. Conny Becker: „Fast explosiv. Die viel diskutierte Sommerausstellung „based in Berlin“ kann nicht überzeugen“, In: artmagazine vom 17.07.11, URL: www.artmagazine.cc/content56074.html (Stand: 12.02.13).
6 Sabine Folie, Michael Glasmeier: „Die Kunst der Künstlichkeit“, in: Kunsthalle Wien (Hg.): Eine barocke Party, Wien 2001, S. 14-27; S. 15.
7 Ebd. S. 18.
8 Erwin Panofsky, Was ist Barock? Übersetzung des Essays What is Baroque?, 1934, von Holger Wölfle, mit einem Nachwort von Michael Glasmeier und Johannes Zahlten, Berlin/Hamburg 2005, S. 42ff.
9 Vgl. Ludwig Seifert: „Die Welt als Theater – Catherine Lorents barocke Bildwelten“, in: Ausst.kat. Catherine Lorent: Acedia. Réminiscences censurées, Centre d’Art Nei Liicht (Hg.), Berlin 2012, S.7.
10 Das Effektgerät wird seit 1969 für elektrisch verstärkte Gitarren benutzt, vgl. http://www.ebow.com/
11 Sabine Folie, Michael Glasmeier, „Die Kunst der Künstlichkeit“, in: Kunsthalle Wien (Hg.): Eine barocke Party, Wien 2001, S. 14-27; S 17.
12 Vgl. Ulrich Bischoff/Neue Pinakothek München (Hg.): John Cage. Kunst als Grenzüberschreitung. John Cage und die Moderne, Düsseldorf 1992.
13 Sabine Folie, Michael Glasmeier, „Die Kunst der Künstlichkeit“, in: Kunsthalle Wien (Hg.): Eine barocke Party, Wien 2001, S. 14-27, S. 18.
14 Otto Betz: Die geheimnisvolle Welt der Zahlen. Mythologie und Symbolik, München 1999.
15 Vgl. Nathalie Dimmer, „Genau hinsehen“, in: Revue, Nr. 30, 25 July 2012, S. 59.
16 Vgl. Harald Kimpel: documenta. Die Überschau, Köln 2002, S. 7ff. u. S. 45ff.
17 Lorent hat seit 2009 vereinzelt Werke unter die Decke gehangen, in einer Einzelausstellung erstmals im Centre des arts pluriels CAPe in Ettelbrück 2012, vgl. Ausst.kat. Catherine Lorent: Acedia. Réminiscences censurées, Centre d’Art Nei Liicht (Hg.), Berlin 2012
18 Harald Kimpel: documenta. Die Überschau, Köln 2002, S. 45.
19 Otto Betz: Die geheimnisvolle Welt der Zahlen. Mythologie und Symbolik, München 1999, S. 130.
20 Mieke Bal: „Auf die Haut/Unter die Haut: Barockes steigt an die Oberfläche“, in: Peter J. Burgard (Hg.): Barock: Neue Sichtweisen einer Epoche, Wien 2000, S. 28.
21 Erwin Panofsky, Was ist Barock? Übersetzung des Essays „What is Baroque?“, 1934, von Holger Wölfle, mit einem Nachwort von Michael Glasmeier und Johannes Zahlten, Berlin/Hamburg 2005, S. 88.
22 Ebd.
23 Vgl. Stift Göttweig (Hg.), Das Barocke Thesenblatt – Der Göttweiger Bestand, 1985
24 Mieke Bal: „Auf die Haut/Unter die Haut: Barockes steigt an die Oberfläche“, in: Peter J. Burgard (Hg.): Barock: Neue Sichtweisen einer Epoche, Wien 2000, S. 30.
25 Ebd., S. 40.