CONNI BRINTZINGER: DAS MYSTISCHE IM REALEN
Conni Brintzinger, Camille, 2014
Gouache auf Holz, Mischtechnik, 130 x 340 cm zweiteilig
Gouache auf Holz, Mischtechnik, 130 x 340 cm zweiteilig
ODER EINE ALCHEMISTISCHE FORMEL AUS PRÄZISION UND ZUFALL
"Ich sah die Bäume entschwinden, sie streckten die Arme aus, ganz als wollten sie sagen: Was du heute von uns nicht erfährst, wirst du niemals erfahren."
(Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte)
Eine Gruppe Birken verstellt den freien Blick auf das Sacrower Ufer, die im Sommerlicht glänzende Havel und die Berliner Pfaueninsel. Während sich die Bäume im Vordergrund mit ihrer hellen Rinde deutlich vom schattigen Boden abheben, scheinen sich im Mittelgrund das sonnenbestrahlte Gras und vor allem der Fluss in Licht aufzulösen. Das Wechselspiel von Licht und Schatten, Kontrast und Unschärfe setzt sich auch in der Landschaft aus der rechten Diptychonhälfte fort, in der eine reich beblätterte Eiche wie ein Negativ zum benachbarten Birkenstamm wirkt. Zudem scheint hier der rechte Bildteil durch seine Unschärfe wie eine Buchseite in der Mittelachse wegzuklappen und gleich dem Baum bei Proust zu entschwinden.
Die Künstlerin Conni Brintzinger fordert mit ihrem Diptychon "Camille" die Wahrnehmung heraus und unterzieht sie einer subtilen Prüfung. Je nach Lichteinfall nimmt sich das mit Silberbronze auf schwarzer Lasur gedruckte Bildmotiv sehr zurück oder blendet die Betrachter geradezu. So scheint das Bild im Moment des Betrachtens neu zu entstehen und zu einem Plädoyer für das bewusste Wahrnehmen des Augenblicks, ganz im Sinne Prousts, zu werden. Das "Jetzt" ist schon vorbei, wenn man es ausgesprochen hat; was bleibt und immer wieder aufgerufen werden kann, ist die Erinnerung und womöglich ein Gefühl.
Mit dem Titel "Camille" nimmt Conni Brintzinger konkret Bezug auf den französischen Landschaftsmaler und Vorreiter des Impressionismus Jean-Baptiste Camille Corot, zu dem sich diverse Parallelen erkennen lassen. Wie der Vertreter der Schule von Barbizon, der mit der Staffelei in den Wald von Fontainebleau zog, wählt auch die 1962 in Basel geborene Künstlerin einen unmittelbaren Zugang zur Natur und fokussiert mit ihrem Malerblick auf landschaftliche Kompositionen. Geändert hat sich rund 150 Jahre nach Corots Spätwerken wie dem Bild "Die Brücke von Mantes", welches eine ähnliche sommerliche Frühabendstimmung vermittelt, allerdings die technische Herangehensweise: Brintzinger hat die Malerei weitgehend zugunsten von Fotografie und Siebdruck aufgegeben und ist seit Jahren mit ihrer Spiegelreflexkamera auf der steten Suche nach Bildmotiven.
Die digitalen Fotografien überführt die Künstlerin in eine feine Rasterung, in der sich nur kleinste Lichtpunkte gegenüber dem schwarz lasierten Hintergrund ihrer Arbeiten abheben. Mit dieser Technik – der Reduzierung auf den Punkt und die Zweifarbigkeit – gewinnen die Silberdrucke eine Ebene der Abstraktion und fragen, so Brintzinger, nach der "Gleichmächtigkeit endlicher und unendlicher Mengen". Bei geringer Distanz zerfällt das scheinbar realistische Bild in feine Punkte und wirkt damit wie im Wandel, in einer Reaktion begriffen – als etwas vermeintlich Ephemeres. Die Künstlerin nennt ihre Arbeitsmethode, die sie sich in nunmehr acht Jahren Siebdruckpraxis angeeignet hat, durchaus nachvollziehbar eine "alchemistische Formel".
Für den metaphysisch-transzendenten Charakter der Arbeiten spielt allerdings noch ein weiterer Aspekt in der Produktion eine Rolle, welcher der digitalen Präzision und Feinheit diametral gegenübersteht. Wie auch bei "Camille" so druckt Brintzinger in der Regel auf Holzplatten, die ihrer Natur gemäß sowohl eine Maserung als auch mehr oder weniger markante Unebenheiten aufweisen, was die Ästhetik der Arbeit stark prägt. Dieses "Imperfekte" des Materials akzeptiert die Künstlerin ebenso ganz bewusst wie gewisse "Fehler" beim Druck und nutzt diese, um in der Arbeit die Lebendigkeit der Natur wiederaufzurufen und eine unwirkliche Stimmung im realistischen Motiv zu erzeugen.
So entscheidet sie sich zum Beispiel auf der rechten Seite des Diptychons für einen Druck, in dem die Naht zwischen den zwei Sieben sichtbar bleibt – ein Bruch in der Darstellung der Realität, der einerseits auf deren Fragilität, die Vergänglichkeit verweist, andererseits aber auch das Künstlerische, das über das reine Abbilden hinausgeht, als solches thematisiert. Ferner fügen die zufälligen Unebenheiten der Holzplatte über die hervorgerufenen Schlieren dem Ausgangsmotiv eine bedrohliches Wolkengebilde hinzu, das im Wasser gespiegelt erscheint und zudem eine neue horizontale Ebene schafft, über die sich rechte und linke Diptychonhälfte gleichsam wunderbar entsprechen.
Das Akzidentelle und "gute Produktionsfehler" wie das Nebeneinander von gestochen scharfem Gras und nebulös verhängtem Schloss sind daher ebenso Bestandteil der "alchemistischen Formel" wie die vorausgegangene präzise Kalkulation am Computer. Doch mancher "Fehler" muss per Hand bearbeitet werden, um Brintzingers Spiel mit der Wahrnehmung – mit Realität und mystischer Aufladung – gerecht zu werden. So setzt die Künstlerin etwa im linken Birkenensemble zahlreiche Lichtpunkte, die zunächst kaum auffallen, sich aber in ihrem malerischen Strich vom Siebdruck unterscheiden und dem Bild eine unterschwellige Bewegung verleihen. Und so ist Brintzingers "Rezept" nicht reproduzierbar und das Werk ein Unikat, wenngleich die Bildmotive auch in anderen ihrer Konstellationen – Überlagerungen oder farbigen Übermalungen – künftig reinkarniert werden können.
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Conni Brintzinger präsentiert das Diptychon "Camille" vom 13. bis 16. März 2014 als Statement auf der Art Karlsruhe (Galerie Clemens Thimme).