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CONNY BECKER
 

DOCUMENTA: HEILUNG DURCH KUNST?

In der Installation "The Repair" von Kader Attia bleiben Kriegsversehrungen in den Portraitbüsten deutlich sichtbar. Nicht in allen Kulturen wird Heilung mit dem Kaschieren von Wunden gleichgesetzt.
Foto: Documenta 13 / Roman März
Zeichnungen von Korbinian Aigner aus der Serie "Apples": Im Konzentrationslager Dachau züchtete der Pfarrer neue Apfelsorten, womit er der Vernichtung ein Werden und Wachsen entgegensetzte. Anlässlich der Documenta wurde in Kassel ein Baum der Sorte KZ3 gepflanzt - ein Symbol der Heilung.
Foto: TU München / Roman März
Pedro Reyes, "Sanatorium", 2012, Verschiedene Materialien, Gruppenaktivität
Foto: Documenta 13 / Nils Klinger
Fukushima, Finanzkrise, Kriege: Unsere kollabierende Welt kann die Kunst zwar nicht retten, aber sie regt dazu an, sich unserer Umgebung aus neuen Blickwinkeln zu nähern. Sehr gut gelingt das zurzeit auf der dreizehnten Documenta in Kassel, der weltgrößten Ausstellung für Gegenwartskunst, die neben klassischer Kunst auch zahlreiche naturwissenschaftliche Projekte präsentiert.


„The brain“ – so nennt sich die Kunst- und Wunderkammer in der architektonisch auffälligen Rotunde im Museum Fridericianum, die erneut das programmatische Zentrum der Documenta beherbergt. Neben klassischen Stillleben, Zeichnungen oder Videoarbeiten finden sich hier auch Artefakte aus dem Nationalmuseum von Beirut, die aufgrund der Bombardierungen während des Bürgerkriegs (1975 bis 1990) miteinander verschmolzen sind. Nach den Werken des Surrealisten Man Ray trifft man auf Gegenstände, welche die Kriegsberichterstatterin Lee Miller 1945 aus dem Badezimmer von Adolf Hitler entwendet hat, oder auf die Skulptur „Calcium Carbonate“ von Sam Durant, die aus Carrara-Mamor gehauen ist, in ihrer Form einem Sack Marmormehl gleicht und darauf verweist, dass Marmor inzwischen vor allem als Mamormehl für die Herstellung von Farben verwendet wird. Die sehr unterschiedlichen Objekte und Artefakte geben einen Hinweis darauf, dass diese Documenta über eine reine Kunstausstellung hinausgeht. Sie ist eher eine Kulturausstellung, die sich auch den alltäglichen und normalerweise kunstfernen Dingen widmet.

Die alle fünf Jahre stattfindende Documenta steht in diesem Jahr unter dem Thema „Collapse and Recovery“, Kollaps und Heilung, welches die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Im nordhessischen Kassel, das wegen seiner Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg stark zerstört wurde, liegt der Verweis auf die deutsche Geschichte nah. Viele Künstler verarbeiten diese in ihren Werken und vergleichen sie auffällig häufig mit dem Krieg in Afghanistan. Nicht von ungefähr, denn Kabul wie auch das ägyptische Kairo zählen zu den Orten, an denen parallel zu Kassel Ausstellungen oder Seminare der Documenta stattfinden. Diese gibt sich damit politisch, kann aber zumeist auch sinnlich und ästhetisch überzeugen.

Eindrucksvoll etwa zeigt der Raum des französisch-algerischen Künstlers Kader Attia die zerstörerischen Auswirkungen des Krieges und zugleich ein uns fremdes kulturelles Verständnis von „Reparieren“ oder „Heilen“: Hier sind zum einen Schwarz-Weiß-Fotografien von Soldaten des Ersten Weltkriegs präsentiert, welche nach einer Wiederherstellungschirurgie weiterhin entstellt blieben. Zum anderen sind zeitgenössische afrikanische Holzskulpturen zu sehen, denen die alten Fotografien als Vorlage dienten. Einer eigenen Vorstellung von „Reparatur“ folgend, kaschieren die Künstler die unübersehbaren Makel der Portraitierten keineswegs, sondern lassen sie bewusst sichtbar. Demgegenüber wird in der Ersten Welt versucht, posttraumatische Störungen per Schönheitschirurgie zu heilen.

Einem gleichermaßen oberflächlichen und quasi schönheitschirurgischen Versuch hat leider auch Michael Rakowitz in seinem Documentabeitrag unternommen. Er schuf aus den Trümmern der 2001 von den Taliban zerstörten Buddha-Statuen von Bamiyan Nachbildungen von Büchern, die während des Zweiten Weltkriegs im Fridericianum verbrannten, womit offenbar beide Traumata geheilt werden sollen. Auratisch aufgeladenes Material ist aber noch lange kein Garant für eine gute Arbeit, zumal sich diese automatisch mit den entsprechenden Assoziationen – hier den Erinnerungen an die Buddha-Statuen – messen lassen muss und dabei schwerlich gewinnen kann. Abgesehen von der diskussionswürdigen historischen Vergleichbarkeit der beiden behandelten Kriege stößt einem die wiederholt auftretende und zu direkt angesprochene Parallelisierung im Fridericianum letztlich leider unangenehm auf.

Subtilere, indirektere Arbeiten wie das intelligent komponierte Video „Cabaret Crusades: The Horror Show File“ erzeugen historische Parallelen ganz automatisch im Kopf von Besuchern, die zum Denken keine Hinweisschilder benötigen. Der ägyptische Künstler Wael Shawky erzählt in seinem Puppenanimationsfilm die Geschichte der Kreuzzüge aus der Sicht der Araber, mit denen die Betrachter mitfühlen, sich mit ihnen identifizieren, selbst wenn sie aus der Perspektive der Kreuzritter sozialisiert wurden. Dabei ziehen zunächst die dramatische Ausleuchtung der Szenen sowie die schlichtweg schönen, 200 Jahre alten Marionetten in den Bann; dann lässt einen die tragische Geschichte nicht mehr los, ebenso wie die anmutige Ungelenkigkeit der Figuren und die Entschleunigung, die man im Vergleich etwa zu dokumentarischen Videoarbeiten verspürt. Hinzu kommt die einnehmende Chormusik, die eine feierlich-melancholische Stimmung vermittelt, wie sie in den meisten Ausstellungsorten der Documenta zu finden ist (gleichfalls musikalisch z.B. durch Ceal Floyers „’Till I Get It Right“ oder Nalini Malanis „In Search of Vanished Blood“).

Besuch im Sanatorium

Die Documenta-Leiterin bietet den Besuchern verschiedene Weltanschauungen an, die sie in einem feministischen Gestus gleichberechtigt nebeneinander stellt. Sie zeigt Künstler aller Kontinente wie auch bereits verstorbene Künstlerinnen unserer westlichen Welt, die bislang im Männer-dominierten Kunstkanon zu wenig Beachtung fanden. Unbedingt sehenswert sind etwa die Wandteppiche von Hannah Ryggen zum europäischen Faschismus oder die (pseudo-)autografischen Gouachen von Charlotte Salomon.

Selbst Tieren und Pflanzen, sprich der Ökologie will die Documenta ein Sprachrohr sein, was auch im Ottoneum zu erkennen ist. In diesem Jahr sind nämlich auch das Kasseler Naturkundemuseum sowie das Astronomisch-Physikalische Kabinett in der Orangerie als Ausstellungsorte miteinbezogen, in denen die jeweilige Dauerausstellung nun auf zeitgenössische Kunst trifft. In der Orangerie erfährt der Besucher etwa, dass der Vater des Computers, Konrad Zuse, ein talentierter Maler war, dessen futuristische Gemälde an Lyonel Feininger oder die italienischen Futuristen erinnern. Nebenan wiederum feiert ein finnischer Filmemacher in einem Video die jüngste Technikgeschichte, indem er den Bau des leistungsstärksten Atomkraftwerks Olkiluoto 3 an der Westküste Finnlands dokumentiert. Wie hier stellt sich allerdings in vielen Arbeiten die Frage, ob sich die Wissenschaftsgeschichte tatsächlich stets in Richtung Erfolg entwickelt oder man sich vom naturwissenschaftlich-positivistischen Standpunkt lösen muss.

Dennoch ist der Tenor auf der Documenta keineswegs wissenschaftsfeindlich, ganz im Gegenteil. In Kassel spiegelt sich ein Trend der letzten Jahre wider, in denen sich Künstler zunehmend mit den Wissenschaften auseinandersetzen. Darüber hinaus wurden Naturwissenschaftler wie der Quantenphysiker Anton Zeilinger, dessen Team im Fridericianum Experimente mit Photonen erklärt, oder der Epigenetiker Alexander Tarakhovsky eingeladen. Von ihm sind – neben den traumhaften Bildern von Salvador Dalí – ein Gerät zu Gensequenzierung sowie Regale voller Genproben ausgestellt. Auf kleinstem Raum dem Erbmaterial zahlreicher Individuen gegenüberzustehen, übersteigt das Vorstellungsvermögen der meisten Besucher, schafft eine unwirkliche Atmosphäre und ist doch gleichfalls wissenschaftliche Alltagssituation. Interessant ist die von Tarakhovsky untersuchte Frage, inwiefern Erfahrungen, bei denen Umweltfaktoren eine Genexpression bewirken, letztlich vererbt werden.

Eher spielerisch beschäftigen sich Künstler im Park der Karlsaue mit medizinischen Themen: Der Mexikaner Pedro Reyes lädt in ein hölzernes „Sanatorium“ ein, in dem seine Studenten per Performances Therapiesituationen nachstellen und den Besuchern positive Voodoo-, ex-voto- oder Paartherapien anbieten. Dabei präsentieren sie sich den „behandelten“ Besuchern zwar von vornherein als medizinische Laien. Und dennoch können in diesem selbsternannten „Distributionssystem für Placebos“ wie in einer realen Behandlung autosuggestive Mechanismen angeregt werden – wenn man nur daran glaubt. Im gewissen Sinn kann Kunst also doch heilen, sei es auch nur dadurch, gelassener, toleranter zu werden und andere Perspektiven neben der eigenen zu akzeptieren.

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kürzere Version veröffentlicht in PZ 27, S. 48f.

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