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CONNY BECKER
 

FIKTION AUF VERMINTEM BODEN - ODER ÜBER DIE SCHWIERIGKEIT, IN BEIRUT DAS VERTRAUEN IN ZEIT UND RAUM WIEDERHERZUSTELLEN.

Walid Raad: "Hannah Mrad (1989), Ohne Titel, Archival Inkjet Print, 160x203 cm, © The Atlas Group"
Walid Raad: "Maha Traboulsi (1983), Ohne Titel, Archival Inkjet print, 112x152,4cm, © The Atlas Group"
Walid Raad: "Mhammad Sabra (1988), Ohne Titel, Archival Inkjet print, 112x152,4cm, © The Atlas Group"
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Bekannt wurde Walid Raad durch sein Konstrukt „The Atlas Group“ und ihrem Archiv zum libanesischen Bürgerkrieg (1975-90/91). Im Heidelberger Kunstverein wird nun ein neues Projekt des libanesischen Künstlers präsentiert, das sich mit der zeitgenössischen arabischen Kunstgeschichte beschäftigt. Die gezeigten Arbeiten waren bereits 1989 in einer Ausstellung in Alexandria, Ägypten, zu sehen und stammen von fünf libanesischen Künstlern, die sich mit den Auswirkungen des Krieges auseinandersetzen.

Stutzig macht jedoch, dass weder die fünf Künstler zur Eröffnung erschienen noch der vermeintlich berühmte arabische Kurator Marwan Baroudi, der die über die ganze Welt verstreuten Arbeiten in vierjähriger, mühevoller Arbeit wieder zusammensuchte. Was also steckt hinter der Ausstellungsrekonstruktion, dem Projekt mit dem sperrigen Namen „I might die before I get a rifle“?

Wer sich die Biografie des Kurators in Pressemitteilung oder Wandtext genauer ansieht, erkennt, dass es sich um eine fiktive Person handeln muss, da nicht Baroudi, sondern der legendäre Ausstellungsmacher Harald Szeemann 1968 die Schau „When attitudes become form“ kuratierte. Ebenso wenig existieren die Künstler außerhalb des Raad-Universums, sondern sind wie die Fotoserien und dazugehörigen Texte vom Konzeptkünstler geschaffen.

Zu sehen ist etwa eine Serie von Fotografien, die Raad während des Angriffs der Israelis auf Beirut im Jahr 1982 aufgenommen hat, oder seine Orgelpfeifen-gleich aufgereihten und vor weißem Hintergrund abfotografierten Patronenhülsen, die er in seiner Kindheit sammelte wie andere Murmeln. In einer mal kitschig-süßen mal klinisch-archäologischen, in jedem Fall Distanz schaffenden Ästhetik werden Spuren des Krieges festgehalten, die das dahinter stehende Grauen nur erahnen lassen.

Der fiktive Charakter bleibt in der Ausstellung jedoch weitestgehend verborgen – alles scheint dem gemeinen Besucher glaubwürdig: Fünf Künstler verarbeiten in ihren Arbeiten den Bürgerkrieg, die libanesische Geschichte. Und Walid Raad untersucht das junge Phänomen vom Einzug der Gegenwartskunst in den Nahen Osten. Aber auch das ist ok, denn auch auf dieser Ebene funktioniert die Ausstellung.

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FICTION IN MINED TERRITORY

Or the difficulty to restore trust in time and space in Beirut.

Walid Raad became well known with his construction “The Atlas Group” and its archive on the Lebanese Civil War (1975 – 1990/91). The Heidelberger Kunstverein is currently showing his new project dealing with contemporary Arab art. The works were already exhibited 1989 in Alexandria, Egypt and were created by five Lebanese artists, who dealt with the after-effects of war.

It was, however, rather surprising that none of the five artists or the curator, Marwan Baroudi, attended the opening of the exhibit. So what could be behind the show with the awkward title “I might die before I get a rifle”?

Taking a closer look at the biography of the curator clarifies the situation: Baroudi and the artists are fictitious people – they were, just like the photo series and their texts, created by Raad.

Raad’s photo series show bullet cases set up in a line, which Raad collected in his childhood, and scenes shot during the Israeli attack against Beirut in 1982. He captures the traces of war in distance-constituting aesthetic way, letting one only surmise the horrors that had happened.

Throughout the exhibit the fictitious character remains hidden – everything seems trustworthy to the visitor: five artists focus on the Civil War, the Lebanese history. And Walid Raad examines the still young phenomenon of contemporary art in the Middle East. But that is perfectly alright - the exhibition fulfils its function on this level as well.

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„I might die before I get a rifle“, ein Projekt von Walid Raad
Heidelberger Kunstverein, Hauptstr. 97, 69117 Heidelberg, bis 01.02. 09
www.hdkv.de

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Artikel veröffentlicht bei artmagazine: http://www.artmagazine.cc/content38790.html