RAUMANEIGNUNG
Katalogtext & Ausstellungsansichten
Ausstellungsansichten von: Agentur für Fotografie
RAUMANEIGNUNG versammelt Werke, die sich mit der Anpassung unseres Körpers an den umgebenden Raum, seine Reaktion auf verschiedene Räumlichkeiten sowie deren Inbesitznahme beschäftigen. Je nach Schwerpunkt der einzelnen Arbeiten oszilliert die Ausstellung zwischen konkretem Portrait und abstrakter euklidischer Geometrie, unserem dreidimensionalen Anschauungsraum und dem Kosmos.
RAUMANEIGNUNG vereint eine klassische Ausstellung mit einer für den Außenraum konzipierten Performance, weshalb das Projekt im Ausstellungspavillon der Ateliergemeinschaft Milchhof gezeigt wird. Seine vitrinenartige Architektur verbindet das Außen mit dem Innen auf ideale Weise und gestattet die Ausstellung unabhängig von Öffnungszeiten und Events anzusehen. Zudem steht der Pavillon am Milchhof exemplarisch für einen der fabelhaften Orte, die sich KünstlerInnen angeeignet beziehungsweise selber geschaffen haben – die Projekträume Berlins, ein so schützenswertes, fragiles Gut in Zeiten der globalen Immobilienspekulation.
MELANIE IRWIN und zwei Berliner Performerinnen erobern in 'Action with Compass and Coordinates' spielerisch und dennoch akribisch die Einfahrt und die Parkflächen des Milchhofs, wobei sie mit überdimensionierten Zirkeln zeichnen und so ihre Körperbewegungen in den Asphalt einschreiben. Die Arbeit verbindet Irwins Interesse in die Beziehung von Körper und Objekten, Körper und Bewegung, Bewegung und Linien.
Im Gegensatz zu verbreiteten Aneignungen des öffentlichen Raumes (z.B. Graffiti) ist diese Intervention ephemer und diskret, da die Performance zeitlich limitiert ist und Irwin mit Kreide arbeitet. Die Künstlerin reduziert die Bodenzeichnung auf die geometrische Form des Kreises und die Farben auf die drei unifarbenen Kostüme der Performerinnen, welche die wachsende Kreidezeichnung um ein bewegliches räumliches Element ergänzen. Im Laufe der Performance entstehen so mehrere konzentrische Kreise, welche auf quadratische Bodenplatten treffen. Gemeinsam mit den durch die Zirkel in der Vertikalen beschriebenen Dreiecken ergeben auch die geometrischen Formen der Performance einen Dreiklang, was an das 'Triadische Ballett' von Oskar Schlemmer (1922) erinnert.
Poetisch-tänzerisch scheinen die drei Performerinnen die Außenfläche vermessen zu wollen, ganz in Euklidischer Tradition mit hölzernen Zirkeln, welche durch ihre Größe verlebendigt scheinen. Jeder Strich muss zwischen den Protagonisten – Mensch / Objekt – unentwegt ausgehandelt werden und es wird deutlich, dass die körperliche Beziehung zu Objekt, Ort, Bodenzeichnung und Geometrie einen entscheidenden Bestandteil der Arbeit bildet.
In diesem Sinne stellt Irwins Performance eine humane Art der Raumvermessung dar, weil sie sich am Maß und den Grenzen des menschlichen Körpers orientieren muss, durch sie definiert und begrenzt wird. Dabei weisen die extreme Vergrößerung des Alltagsobjekts Zirkel à la Claes Oldenburg sowie die anachronistische Anmutung des Zeichenwerkzeugs eine humorvolle Seite auf, so dass die Performance auch als Metapher für die Absurdität des künstlerischen Arbeitens (wie auch allen menschlichen Schaffens) gedeutet werden kann.
Auch CATHERINE EVANS nimmt für ihre Serie 'Constellation' ihren eigenen Körper als Ausgangspunkt, genauer ein invertiertes Foto ihres Rückens, auf dem ihre dunklen Leberflecke zu glänzenden Lichtpunkten wurden. Gemäß Euklids erstem Postulat aus seiner Abhandlung 'Die Elemente' (3. Jh. v. Chr.), in welchem er fordert, dass man von jedem Punkt zu jedem Punkt eine gerade Linie ziehen können muss, verbindet die Künstlerin die hellen Punkte der Fotografie mit einem Kugelschreiber linear in jedmöglicher Weise. Dieses Netzwerk aus Linien bildet einen fiktiven Raum, eine eigene Entität basierend auf den Körper-Koordinaten der Künstlerin, wobei der resultierende unregelmäßige geometrische Körper an das Polyeder in Albrecht Dürers 'Melencolia I' (1514) erinnert und eine ebenso mysteriöse agency (1) zu besitzen scheint.
Bei der installativen Arbeit 'Standing Stone' überträgt Evans ihre persönliche „Konstellation“ auf den jeweiligen Ausstellungsraum und klebt analog der auf den Fotografien gezeichneten Linien ein raumeinnehmendes Netz aus glänzendem Klebeband. Auf den Koordinaten der Lichtpunkte respektive Leberflecke platziert Evans nun Steine, die an der Wand fixiert und durch einen rosafarbenen Metallstab diagonal abgestützt werden.(2) Während in einer ersten, in Australien gezeigten Variante vulkanische Basaltsteine aus der Nähe der Aboriginal Steinanlage Wurdi Youang eine Brücke zu alter australischer Tradition und Wissenschaft schlugen, so verwendet Evans für die Berliner Variante hiesige Quarzsteine. Die australische Künstlerin, die seit wenigen Jahren in Berlin lebt, eignet sich möglicherweise auf diese Art ihre Wahlheimat an.
In BILL BERGERs 'Portrait'-Serie finden sich ebenfalls Spuren von Körpern, und zwar in einer noch stärker abstrahierten Weise. Für seine großformatigen Fotografien nutzt der US-amerikanische Künstler Staub als Material – kleinste Partikel, fast unsichtbar, wenn sie sich nicht gerade auf einem Negativ befanden und so versehentlich in einem Foto extrem vergrößert wurden. Ein zufälliges Malheur beziehungsweise eine willkommene Alltagsbeobachtung führen Berger häufig zu neuen Serien. So schafft er etwa enigmatische, abstrakte Portraits von Freunden, die ihm getragene Kleidung zum Ausschütteln zur Verfügung stellten. Visuell an das Universum erinnernd verbindet die Arbeit wie auch Evans’ 'Constellation' den Mikrokosmos und den Makrokosmos.
Doch mit der Unendlichkeit ist bei Berger noch nicht Schluss. So betitelt er eine Videoarbeit, für die er die Farbverläufe im Himmel während eines Sonnenuntergangs gefilmt hat, mit dem wenig bescheidenen Titel '...and beyond the infinite'. Tatsächlich bezieht sich der Titel auf den sehr psychedelischen Teil „Jupiter and beyond the Infinite“ in Stanley Kubricks '2001: A Space Odyssey' (1968). Bergers deutlich ruhigere Hommage gleicht einer zeitgenössischen Variante der Farbfeldmalerei von Mark Rothko, die man angesichts des Titels ebenfalls religiös aufladen könnte. Oder aber man schmunzelt ob der Beschreibung der technischen Daten des Videos, das als Endlosschleife geloopt ist, aber jeweils vor- und rückwärts aneinandermontiert, wodurch Berger mit der vierten Dimension Pingpong spielt. Wie in vielen Arbeiten schenkt er uns hier eine „unbeabsichtigte metaphysische Studie von etwas, was (man) am besten als Nichts beschreiben kann.“ (3)
Auch ULI AIGNER zeigt mit 'Territorial Claim' wenig Zurückhaltung. Sie will sich gleichsam die ganze Welt aneignen und zwar, indem sie Porzellanobjekte dreht. Im Jahr 2014 beschloss sie, für 'One Million' bis zu ihrem Lebensende eine Million Essgefäße (Becher, Tassen, Teller, Schüsseln etc.) immer in Bezug auf eine bestimmte Person, Organisation, Institution oder Situation zu produzieren und chronologisch zu nummerieren. In dem Teilprojekt 'Territorial Claim' graviert die Künstlerin neben den „Produktionsnummern“ auch die Namen aller Staaten der Erde ein. So entstehen 206 + 1 Gefäße analog der im Jahr 2017 gelisteten 193 UN-Mitgliedsstaaten, der Vatikanstadt und zwölf weiteren Nicht-UN-Mitglieder plus ein Gefäß für einen staatenlosen Menschen. Aigner nimmt mit diesem Projekt, wie sie sagt, „die Globalisierung persönlich“,(4) was sich etwa darin ausdrückt, dass die Künstlerin „Weltperformances“ organisiert, bei denen die unterschiedlichsten Nationalitäten zusammenkommen und über ein gemeinsames Mahl auf Porzellanservice zur Kommunikation gebracht werden.(5) Und so gewinnt die Arbeit eine noch stärkere soziale Dimension in einer persönlichen trans-nationalen und trans-kulturellen Netzstruktur.
Während die 207 Einzelobjekte von 'Territorial Claim' bislang analog des Erdenballs zu einer Kreisfläche angeordnet wurden, ist für Raumaneignung eine geometrische Abstraktion der Welt in Form von Dreiecken geplant. Diese ungewöhnliche Art der Repräsentation oder Neuordnung der Erde lässt sowohl Assoziationen zu überholten Weltbildern zu wie auch zu utopischen Parallelräumen im Geiste der Situationisten.
Die Interaktion von menschlichem Körper und Raum thematisiert Aigner ganz konkret in den Zeichnungen ihrer Serie 'Selbstportrait innen', welche die Künstlerin in einem nur durch wenige Linien angedeuteten Raum zeigt, der ungewöhnlich klein ist im Verhältnis zu ihrem Körper. Die Künstlerin, die mit sich und der Umgebung zu ringen scheint und versucht, sich dem gegebenen Raum anzupassen – oder ihn vielmehr zu definieren?
HESTER OERLEMANS schließlich definiert mit ihren 'Frames' klar den Raum zwischen vier miteinander verbundenen und auf vier Schrauben gespannten Modellierballons und eignet sich mit Augenzwinkern eine Leerstelle an. Diese so schlicht daherkommende Arbeit weist eine Fülle an Referenzen auf, rekurriert in ihrer formalen Strenge und Farbgebung auf Piet Mondrian und ist ein zeitgenössisches memento mori. Während die Ballons zunächst eine humorvolle, das Leben bejahende Note anschlagen, so ist kaum einem andern Material die Vergänglichkeit so eingeschrieben wie ihnen. Sieht man noch den prallen Glanz, so ahnt man schon die matten Falten.
Da Oerlemans „Rahmen“ visuell anziehend sind, aber nichts als den leeren Raum „präsentieren“, kann die Arbeit auch als Kritik an unserer von Guy Debord benannten Gesellschaft des Spektakels verstanden werden, welche noch immer des Kaisers neue Kleider bewundert. Die niederländische Künstlerin inszeniert das Absurde in der Kunst, fragt nach ihrem Platz, relativiert ihren Stellenwert.
Ihre Arbeit 'All that I’ve Heard 2016-2017' basiert auf einer Raumaneignung, die dem dreidimensionalen euklidischen „Anschauungsraum“ die Ebene des akustischen Raums hinzufügt. Die seit ihrer Kindheit schwerhörige Künstlerin hat ein Jahr lang die benutzten Batterien ihrer Hörgeräte gesammelt und diese 178 runden, glänzenden Metallobjekte – Zeugen unzähliger Gespräche und Informationsströme – in einer Plexiglasröhre angehäuft. Was die meisten als normal empfinden, muss Oerlemans sich per Technik erringen und so thematisiert diese Arbeit indirekt auch die Schwierig- oder gar Unmöglichkeit einzelner, sich bestimmte Räume anzueignen.
„Ich zeichne einen Raum um mich herum – als einen Lebensraum, als einen Platz, um mich mit meinem Selbst zu verbinden, und als einen Raum für meine kreative Arbeit,“ so beschreibt Melanie Irwin ihre Performance Action with Compass and Coordinates.(6) Ein solch poetischer Ton, begleitet von einer humorvollen Note, durchzieht die gesamte Ausstellung RAUMANEIGNUNG, gleichwohl die KünstlerInnen im Alltag nicht immer ausreichend Raum finden oder gar unter Raummangel leiden (Atelier / Wohnung / Ausstellungsraum). Ihre Art der künstlerischen Raumaneignung, die spielerisch und stets körperbezogen ist, könnte eine humane Alternative zur derzeit vorherrschenden Reißbrett-Architektur und –Stadtplanung aufzeigen. Denn sie ließe Freiräume offen, die stets neu besetzt werden könnten, um Diskurse anzustoßen und geistige wie körperliche Bewegungsfreiheit zu erlauben.
Der Pavillon der Ateliergemeinschaft Milchhof ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie sich eine KünstlerInnengruppe konkret und mittels eines eigens geplanten Gebäudes einen Raum angeeignet hat.(7) In seiner von Transparenz bestimmten Bauart wirkt er geradezu ephemer und nimmt sich – vergleicht man die geringe Dimension im Verhältnis zu den umstehenden Gebäuden – nicht so wichtig. Und dennoch ist der Pavillon am Milchhof wie auch das Atelierhaus für den Kiez so wichtig wie die letzten Parks und Grünflächen. Schlimm genug, dass sein ehemaliger Nachbar und Projektraum General Public vor wenigen Jahren todsaniert und Ende 2017 die Künstlerbar Babette vom Immobilienunternehmer Nicolas Berggruen aus dem so wunderbar zu ihr passenden Glaspavillon in der Karl-Marx-Allee vertrieben wurde (um nur zwei Beispiele zu nennen). Zudem gehen laut dem Stadtmagazin tip in Berlin wegen der stetig steigenden Mieten jährlich mindestens 350 bezahlbare Künstlerateliers verloren.(8) Die Stadt Berlin sollte gegen diesen Trend anarbeiten, will sie ihren Ruf der Stadt der Kreativen sowie die damit verbundene Lebensqualität für ihre BürgerInnen erhalten. Denn um kreativ sein zu können, so konstatierte Virginia Woolf bereits vor 90 Jahren, brauchen KünstlerInnen ihr jeweils „eigenes Zimmer“, einen Rückzugsort, der geistige Freiheit ermöglicht.(9)
(1) Der Begriff der agency bezieht sich auf Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, in der er auch Objekten eine aktive Macht zuschreibt; vgl: Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2010.
(2) Das Rosa in Evans Arbeiten bezieht sich auf den Farbton, der sich (nach mehreren Farbänderungen) bei Lichteinwirkung auf unfixiertem Farbfotopapier als finaler Farbton einstellt.
(3) Bill Berger in seinem Bewerbungstext für PICTURE BERLIN in 2013.
(4) Uli Aigner in ihrer Projektbeschreibung zu Territorial Claim 2017. Der Verbleib von jedem Gefäß von One Million wird in einer digitalen Weltkarte festgehalten, siehe: www.eine-million.com.
(5) Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Bauhauses veranstaltete Uli Aigner eine „Weltperformance“ im Januar 2019 in der Berliner Akademie der Künste.
(6) Melanie Irwin in einer Email an die Autorin vom 18.03.2019.
(7) Der Milchhof e.V. ist eine 1991 gegründete Ateliergemeinschaft, mit mehr als 40 KünstlerInnen, die gemeinsam in einem ehemaligen Schulgebäude arbeiten. Seit 2009 bespielen sie regelmäßig ihren eigenen Ausstellungspavillon, der auch für Gastprojekte offen ist.
(8) Vgl. Constanze Suhr: „Wer Ateliers vernichtet ...“, tip online vom 26.02.2019, www.tip-berlin.de/wer-ateliers-vernichtet/?fbclid=IwAR1hfjFGLdtCqFk0Joty_TQMpcXrHOSVWbZUdO7TX6A3MF3F2YrX8t8UDt0
(9) Vgl. Virginia Woolf: Ein eigenes Zimmer, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. Der Originalessay A Room of One's Own wurde 1929 gedruckt.