ROLLENTAUSCH - ODER ÜBER DIE SCHWIERIGKEIT, DAS VERTRAUEN IN ZEIT UND RAUM WIEDERHERZUSTELLEN
Walid Raad: „I might die before I get a rifle“
'Maha Traboulsi (1983), Ohne Titel, Archivel Inkjet print, 112 x 152,4 cm, © The Atlas Group'
'Maha Traboulsi (1983), Ohne Titel, Archivel Inkjet print, 112 x 152,4 cm, © The Atlas Group'
Walid Raad: „I might die before I get a rifle“
'Mhammad Sabra (1988), Ohne Titel, Archivel Inkjet print, 112 x 152,4 cm, © The Atlas Group'
'Mhammad Sabra (1988), Ohne Titel, Archivel Inkjet print, 112 x 152,4 cm, © The Atlas Group'
Zu sehen ist nur ein „Projekt“ von Raad, in dem er die Geschichte der zeitgenössischen Kunst im Nahen Osten untersuchen will. Die Arbeiten stammen von fünf anderen libanesischen Künstlern, die sich mit den Auswirkungen des libanesischen Bürgerkrieges auseinandersetzen, und waren bereits 1989 in einer Ausstellung in Alexandria, Ägypten, zu sehen.
Ungewöhnlich ist nur, dass weder die fünf Künstler zur Vernissage erscheinen noch der angeblich berühmte arabische Kurator Marwan Baroudi, der die über die ganze Welt verstreuten Werke in mühevoller, vierjähriger Arbeit wieder zusammensuchte. Was verbirgt sich also wirklich hinter der Ausstellungsrekonstruktion, dem Projekt mit dem sperrigen Namen „I might die before I get a rifle“ (Ich könnte sterben, bevor ich eine Knarre bekomme)?
Sucht man auf die Schnelle Informationen zum Kurator, enttäuscht einen das sonst so hilfreiche Internet. Abgesehen von einem wenig validen Eintrag auf Facebook oder dem Verweis auf den Hafendirektor im libanesischen Tripolis findet sich merkwürdigerweise nichts. Also bleibt einem nur die Pressemitteilung, die etwas abgewandelt auch als Wandtext in der Ausstellung fungiert.
In Baroudis Vita macht zunächst der Begriff Ausstellungsmacher stutzig – schließlich wird heute wie auch zu Beginn der Heidelberger Pressemitteilung meist die Bezeichnung Kurator gewählt und sein Synonym mit der Legende Harald Szeemann verbunden. Spätestens beim Titel der vermeintlich von Baroudi kuratierten Ausstellung „When attitudes become form“ wird Insidern die Konstruktion dieser Persönlichkeit klar: Während Jahreszahlen und Projektnamen von Szeemanns Vita bleiben, mutiert Bern zu Kairo, und die Documenta5 zur Al-Fan Biennale in Beirut.
Wer Raad’s Oeuvre kennt, den verwundert dies kaum, ist der Konzeptkünstler doch mit dem Konstrukt „The Atlas Group“ und ihrem fiktiven Archiv zum libanesischen Bürgerkrieg (1975-90/91) bekannt geworden. Er stellte damit die Möglichkeit einer objektiven Geschichtsschreibung infrage, mischte Fiktion mit Fakten und gab dem Mischwerk den Anschein historischer Dokumente, deren Glaubwürdigkeit nur mittels absurder Titel oder inkonsistenter Jahresangaben Brüche erhielt. Obwohl die Arbeit an der Atlas Group seit 2004 oder 2006 beendet ist – auch hier sind die Daten flexibel –, spielt sie weiterhin eine Statistenrolle. Wie man in Heidelberg erfährt, sollen einige der zunächst in Alexandria gezeigten Werke und Dokumente 2002 im Zusammenhang mit der Atlas Group aufgetaucht sein.
Dies erklärt, wieso innerhalb eines neuen Projekts auch bereits aus der Retrospektive zur Atlas Group im Hamburger Bahnhof bekannte Werkgruppen gezeigt werden. Zu sehen ist etwa eine Serie von Fotografien, die Raad während des Angriffs der Israelis auf Beirut im Jahr 1982 aufgenommen hat; oder aber seine Orgelpfeifen-gleich aufgereihten und vor weißem Hintergrund abfotografierten Patronenhülsen, die er in seiner Kindheit sammelte wie andere Murmeln. In einer mal kitschig-süßen mal klinisch-archäologischen, in jedem Fall Distanz schaffenden Ästhetik werden Spuren des Krieges festgehalten, die das dahinter stehende, verdrängte Grauen nur erahnen lassen.
Allerdings werden, gemäß dem aktuellen Konzept, sowohl die alten als auch neuen Arbeiten weder Raad noch der Atlas Group zugeschrieben, sondern den Künstlern Farrid Sarroukh, Janah Hilwé, Maha Traboulsi, Hannah Mrad und Mhammad Sabra. Auch über sie spuckt die Suchmaschine nur wenig aus, aber mittels logischer Kombinatorik kommt man zu der Vermutung, dass sich Maha Traboulsi, welche zuvor schon als vermeintliche Gründerin der Atals Group auftauchte, auf Fawwaz Traboulsi, einem libanesischen Historiker, sowie seine Frau Amal verweist, die in Beirut eine Galerie führt und damit die Verbindung zum neuen Projekt darstellt.
Raad bestätigt dies im Gespräch, und ebenso, dass er sich andere Namen bei den grausamen Massakern in Sabra und Schatila von 1982 entliehen hat. Mhammad Sabra zeugt eindeutig davon und verweist darüber hinaus – sucht man ihn online als Muhammad Sabra (Schreibfehler bei Übersetzungen aus dem Arabischen sind ja nicht selten) – auf eines der 1109 Opfer der israelischen Angriffe während des Krieges im 2006 (Human Rights Watch Report).
Stößt man schließlich bei der Recherche zu Hannah Mrad auf Hanna Mrad Sleimann, die laut Wikipedia seit 1982 vermutlich illegal in Syrien gefangen gehalten wird, fühlt man sich endgültig als Komplize Raads. Denn ist es legitim, solche Verbindungen zu ziehen, wenn man zuvor die Schreibweise des Namens manipuliert hat? Hier tauscht der Kunsthistoriker wohl mit dem Künstler die Rolle, der diese Verbindung nicht kennen und auch keine Wikipedia-Seiten geschaffen haben will. Dies muss dem inzwischen halbparanoiden Quasi-Ermittler aber geradezu so scheinen, tut sich ihm doch eine weitere Koinzidenz in Wikipedia auf: Raad, der auch Ra’ad geschrieben wird, verweist nämlich je nach Schreibweise seines Namens selbst auf eine pakistanische Cruise Missile oder eine im Iran produzierte Panzerabwehrrakete, von denen die Hisbollah 2006 etliche im Libanonkrieg eingesetzt haben soll.
Die Existenz dieser beiden im Nahen Osten verwendeten Waffen bestätigen allerdings auch valide Quellen. Die groteske Verbindung besteht also lediglich in der Bedeutung des Namens: Donner. Dennoch hinterlässt die Recherche ein unterschwelliges Misstrauen – in die Geschichtsschreibung, wie zuvor bei der Atlas Group; in die Kunstwelt, die momentan im Nahen Osten einem aberwitzigen Duplikat der westlichen gleicht; in die Kommunikationsmedien, insbesondere das leicht zu manipulierende Internet. Ein müdes Lächeln kommt einem über die Lippen, erinnert man die Projektbeschreibung im Vorfeld der Ausstellung, laut der sich Raad in seinen neuen Arbeiten mit dem Problem der Wiederherstellung vom Vertrauen in Zeit und Raum in Beirut beschäftigt.
Doch glücklicherweise bekommt der unbescholtene Museumsbesucher von alldem nichts mit. Denn die Hinweise auf die Fiktion sind in Heidelberg zu versteckt, alles scheint glaubwürdig: Fünf Künstler verarbeiten in ihren Arbeiten den Bürgerkrieg, bringen die Betrachter dazu, die libanesische Geschichte zu reflektieren; und Walid Raad untersucht das junge Phänomen vom Einzug der Gegenwartskunst in den Nahen Osten. Aber auch das ist okay, denn auch auf dieser Ebene funktioniert die Ausstellung.
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Walid Raad: „I might die before I get a rifle“
Heidelberger Kunstverein,
Hauptstr. 97, 69117 Heidelberg, bis 01.02. 09
www.hdkv.de
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Veröffentlicht im PortalKunstgeschichte am 8.01.09