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CONNY BECKER
 

UNWIRKLICHE BILDER DER REALITÄT

Labor zur Erforschung der Marihuanapflanze
National Center for Natural Products Research
Oxford, Mississippi
Das National Center for Natural Products Research (NCNPR) ist die einzige Einrichtung in den Vereinigten Staaten, die bundesstaatlich autorisiert ist, Cannabis für die wissenschaftliche Forschung anzubauen. Zusätzlich zum Anbau von Cannabis-Pflanzen, ist das NCNPR dafür verantwortlich, beschlagnahmtes Marihuana auf dessen Wirkungsverlauf, Herbizidrückstände (Paraquat) und auf Fingerabdrücke hin zu untersuchen, die der Identifizierung dienen. NCNPR ist durch das National Institute on Drug Abuse lizenziert und erforscht außerdem aus Pflanzen oder Meeresorganismen zu gewinnende Chemikalien und andere Naturprodukte.
Während elf Bundesstaaten den medizinischen Gebrauch von Marihuana legalisiert haben, ermöglicht eine Entscheidung des U.S. Supreme Court von 2005 die Festnahme jeder Person, die Marihuana zu diesem Zweck benutzt. Nahezu die Hälfte der jährlichen Festnahmen wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz betreffen den Besitz von oder den Handel mit Marihuana.
UNWIRKLICHE BILDER DER REALITÄT

Was haben eine Glasampulle mit virulentem HI-Virus, Cannabispflanzen und ein weißer Tiger gemeinsam? Sie befinden sich an versteckten oder geheimen Orten, die die amerikanische Künstlerin Taryn Simon mit ihrer Großbildkamera erstmals öffentlich macht.


Dicht an dicht stehen sie nebeneinander, die Cannabis sativa-Pflanzen in kräftigem Grün, und man meint, ihren markanten Geruch in der Nase spüren zu können. Ungewöhnlich mutet die Umgebung an. Die Pflänzchen gedeihen nicht auf freiem Feld, in keinem lichten Gewächshaus oder versteckt auf einem Hinterhausbalkon, sondern auf Tischen in einem geschlossenen Raum, der von Kunstlicht beleuchtet wird: in einem Labor des amerikanischen »National Center for Natural Products Research« (NCNPR) in Oxford, Mississippi.

Dieses Foto ist charakteristisch für eine Serie von Fotografien der amerikanische Künstlerin Taryn Simon. Es ist ästhetisch, perfekt arrangiert, dabei von einer Sterilität, die es unwirklich erscheinen lässt und Fragen aufwirft. Diese beantwortet Simon jedoch prompt, denn zum Kunstwerk gehört jeweils ein Text, der den Bildinhalt erläutert. Beispielsweise ist das NCNPR die einzige Einrichtung in den USA, die autorisiert ist, Cannabis für die wissenschaftliche Forschung anzubauen.

Die »geheimen Orte« durfte die Künstlerin zumeist erst nach zähen Verhandlungen betreten und ablichten, und nicht selten stieß sie bei ihren Recherchen auf Widersprüche, auch zum Thema Rauschmittel: »Während elf Bundesstaaten den medizinischen Gebrauch von Marihuana legalisiert haben, ermöglicht eine Entscheidung des U.S. Supreme Court von 2005 die Festnahme jeder Person, die Marihuana zu diesem Zweck benutzt.«

Mehr als 60 großformatige Fotografien zählt die Serie »Ein amerikanischer Index des Versteckten und Unbekannten«, die erstmals im Frankfurter Museum für Moderne Kunst vollständig zu sehen ist. Der Titel lässt vermuten, dass die Künstlerin in ihrem dokumentarischen Werk Kunst und Politik zusammenfließen lässt, häufig mit einem Seitenhieb auf die Protagonisten. Angesprochen werden daher auch typisch amerikanische Problemherde wie der Ku-Klux-Klan, Scientology sowie die in den USA auf 200 Millionen geschätzten Feuerwaffen im privaten Besitz.

Medizinische Themen gerieten Simon ebenso vor die Linse, ist dieses Terrain für die meisten Menschen doch ein tabuisiertes oder unzugängliches. Im Begleittext erfährt der Besucher, wie unter der Biosicherheitsstufe 2 plus HI-Viren in der Impfforschung eingesetzt werden oder medizinischer Sondermüll möglichst umweltschonend entsorgt wird: mit Mikrowellen statt durch Verbrennen. Das Hochglanzbild der Sondermüllhalde wirkt dabei ebenso wohl komponiert wie dasjenige eines Zoll-Raumes am Flughafen John F. Kennedy in New York, in dem Simon konfiszierte Lebensmittel von Passagieren – von Mangos über frische Eier bis hin zum Schweinskopf – gefällig nebeneinander drapierte.

Menschen kommen in der Fotoserie eher selten vor und sind ebenfalls »steril« in Szene gesetzt, wie etwa die Schauspielerin Sharon Grambo. Sie wurde vom medizinischen Zentrum der University of California engagiert, um als so genannte »Standardpatientin« die diagnostischen Fähigkeiten der Behandelnden zu testen.
Gesundheitlich tatsächlich beeinträchtigt ist dagegen ein anderes Modell Simons, ein weißer Tiger, den die 32-Jährige bei seinem Züchter in Arkansas entdeckte. Er ist, wie alle weißen Tiger in den USA, Resultat einer selektiven Inzucht und hat, geistig zurückgeblieben und hinkend, aufgrund seines Fehlwuchses Schwierigkeiten zu atmen.

Gewiss ist Simon nicht an alle versteckte Orte der USA gelangt – Disney versagte ihr beispielsweise den Zutritt in seine »Welt« ­, und auch bei der CIA mag man größere Geheimnisse vermuten als die gezeigten Bilder, die die CIA-Kunstkommission im Amtsgebäude ausgestellt hat. Auf den zweiten Blick bergen aber auch sie ein Geheimnis. Denn die »harmlose« abstrakte Kunst ist im Kalten Krieg in Amerika instrumentalisiert worden. In der Abgrenzung zur gegenständlichen Malerei, die sowohl die Nazis als auch die Sowjets förderten, diente die Abstrakte als Aushängeschild für die scheinbar grenzenlose Freiheit westlicher Demokratien.

Simon kaschiert die politischen oder sozialkritischen Bezüge in ihren Bildern keineswegs, aber verurteilt nicht, lobt nicht. Sie liefert Vorlagen und überlässt alles Weitere dem Betrachter, der nach der Ausstellung tatsächlich mit reichlich Gesprächsstoff nach Hause geht.