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CONNY BECKER
 

WECHSEL VON KLAUSTRO- UND AGORAPHOBIE: ORIENTIERUNGSSUCHE AUF DEM BERLINER SCHLOSSPLATZ

Allora & Calzadilla
How To Appear Invisible (Filmstill), 2009
Super 16 mm-Film auf HD Video, Farbe, Ton, 21'30"
© Allora & Calzadilla
Allora & Calzadilla
How To Appear Invisible (Filmstill), 2009
26,2 x 45,2 cm
photographic print, Edition 50 + 3 AP
signiert und nummeriert
© Allora & Calzadilla
Allora & Calzadilla
Compass, 2009
Abgehängte Holzdecke, Tänzer, variable Dimensionen
Installationsansicht Temporäre Kunsthalle Berlin, 2009
Foto: Jens Ziehe, Berlin
© Temporäre Kunsthalle Berlin / Allora & Calzadilla
Geradezu diametral entgegengesetzt geben sich die beiden aktuellen Arbeiten von Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla in der Temporären Kunsthalle Berlin. Während die Videoarbeit des Künstlerpaares in einer dem Buchshop vorgelagerten Nische platziert ist, die derzeit zu einer kleinen, intimen Black Box umfunktioniert wurde, und geradezu als additiver Prolog zur eigentlichen Ausstellung daherkommt, entpuppt sich diese ebenfalls als Präsentation eines einzigen Werks, jedoch von gigantischem Ausmaß. Bei diesem Konterpart zum narrativen Video wird die Lust am Sehen fundamental enttäuscht. Denn im 600 qm großen Ausstellungsraum ist zunächst kein Exponat zu erkennen, vielmehr werden Weite, Licht und Leere erfahrbar, in welcher der Betrachter, der gleichsam im Raum präsentiert zu werden scheint, nach Orientierung sucht.

Orientierungssuche ist auch eines der Bindeglieder zwischen den beiden Arbeiten, die im Rahmen eines DAAD-Stipendiums in Berlin entstanden sind. So streunt ein Schäferhund in der halb surrealistischen, halb dokumentarischen Videoarbeit „How to appear invisible“ (2009) auf der Baustelle des Schlossplatzes herum, der mit den zu diesem Zeitpunkt gerade im Abriss befindlichen Treppentürmen des Palastes der Republik einem Ruinenfeld gleicht und in manchen Einstellungen die Assoziation zu Nachkriegsaufnahmen von Berlin aufkommen lässt.

Beklemmend nah rückt der Blick des Betrachters an die frische Wunde inmitten der wiedervereinten Hauptstadt und nimmt retrospektiv wahr, mit welcher Standhaftigkeit sich die Mahnmal-gleichen Palastskulpturen den sie mühsam, aber unablässig zerpflückenden Maschinen entgegensetzten. Beklemmend auch das maschinelle Hämmern, das jedoch in der nächsten Szene von traumhaft gedämpft erscheinenden Straßengeräuschen abgelöst wird. Vermutlich ein Versuch, zu imitieren, wie man durch eine Halskrause hören würde, wie sie der auf dem Schlossplatz herumirrende Hund trägt, der durch den blauroten Aufdruck auf seinem trichterförmigen Fremdkörper – dem Logo der amerikanischen Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken – zu einer lebenden Assemblage wird und zum Symbol des heutigen Deutschen schlechthin: Durch den Kapitalismus gebändigt und geradezu zur Unkenntlichkeit verstellt – aus der Seitenansicht trägt der Körper des Hundes den Kopf des KFC-Mannes –, sucht er nach seiner Identität, indem er die Spuren der SED-Herrschaft verwischt. Die zwischen dem überdimensioniert langen Greifarm des Abrissbaggers und den Treppentürmen collagengleich aufscheinenden Ausschnitte von Zeughaus, Friedrichswerderscher Kirche, Dom oder Altem Museum antizipieren gleichsam die städtebauliche Zukunft des Trümmerfelds: die Rückbesinnung auf Schloss, Schlüter und Schinkel.

Eine minimalistische Architektursprache dagegen haben Allora und Calzadilla gewählt, als sie eine hölzerne Zwischenebene in den Hauptausstellungsraum einziehen ließen und damit die für den Betrachter wahrnehmbare Raumhöhe von mehr als 10 auf rund 3 Meter absenkten. Diese vermeintliche Decke dient in der ortsspezifischen Arbeit „Compass“ (2009) gleichsam als Bühne, auf der außer Sichtweite eine Tanzperformance geschieht, die nur als rhythmische Klangspuren im darunter liegenden Resonanzraum nachempfunden werden kann.

In der gattungssprengenden Installation wird der Betrachter gleich dem Schäferhund zum desorientierten Spurensucher im gestauchten White Cube, dessen materielle Leere nicht nur auf das Vakuum verweist, das der Palast der Republik hinterlassen hat (hier hatte die Temporäre Kunsthalle Berlin ihren Ursprung genommen).

Sie erinnert auch an die sich aktuell zersetzenden Strukturen des temporären Kunsthallenprojekts – der Künstlerische Beirat ist Ende Juni zurückgetreten und nahm in Gestalt von Dirk Luckow mit der Kuration der aktuellen Ausstellung gleichsam Abschied. Benjamin Anders, neuer Geschäftsführer (aber nicht künstlerischer Leiter), präsentierte sich derweil erstmals der Presse in seiner neuen Position, verriet aber nicht mehr über das weitere Programm, als dass am 24. September sowohl die kommende Ausstellung starten als auch eine neue Außenhülle zu sehen sein wird.

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Temporäre Kunsthalle Berlin,
10178 Berlin,
Schlossfreiheit 1, bis 06.09.09
Zur Ausstellung erscheinen ein Katalog sowie eine Künstler-Edition.

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