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CONNY BECKER
 

ZUM FRESSEN GERN – DIE AUSSTELLUNG „ALLES KANNIBALEN?“ IM ME COLLECTORS ROOM, BERLIN

Dana Schutz thematisiert den Kannibalismus in ihrem Gemälde „Self Eater 3“ (2003) verglichen mit anderen Künstlern der Ausstellung sehr direkt.
Foto: Florence und Philippe Segalot, New York
Anonymer Fotograf: "Porträt (der Kannibale Tom)", ca. 1880 © Courtesy Sammlung Cayetana & Anthony JP Meyer
Patty Chang: "Melons at a Loss", Video, 1998
© Courtesy Sammlung Antoine de Galbert, Paris
ZUM FRESSEN GERN – die Ausstellung „Alles Kannibalen?“ im me Collectors Room, Berlin

Der menschliche Körper interessiert den Mediziner und Sammler Thomas Olbricht auch in der Kunst. In der aktuellen Ausstellung in seinem Berliner Privatmuseum spielt die menschliche Gestalt eine ungewöhnliche Doppelrolle, ist gleichsam Täter wie Opfer. Denn die Schau widmet sich dem Kannibalismus und seinen mannigfachen künstlerischen Deutungen.

Kannibalismus stellt ein immer wiederkehrendes Phänomen dar, überliefert in Schriften des Aristoteles, der Bibel, bei Shakespeare oder in Kindermärchen. Er bildet jedoch eine solche Grenzüberschreitung alles Menschlichen, ein derartiges Tabu, dass Sigmund Freud festgestellt haben soll, er komme noch nicht einmal in Träumen vor. Der Psychologe verwendete den Begriff auch im übertragenen Sinn, als er die orale Phase bei Kleinkindern als „positiv-kannibalistisch“ bezeichnete. Und so wird verständlich, wieso in einer Kunstausstellung zur so genannten Anthropophagie auch Bilder der Jungfrau Maria mit Kind zu sehen sind. Schließlich sei, so die Kuratorin Jeanette Zwingenberger, das Saugen an der mütterlichen Brust die früheste, liebevollste Art des Kannibalismus, der Einverleibung des Anderen.

Die Ausstellung „Alles Kannibalen?“ präsentiert somit ein weites Bild des Kannibalismus und fragt vor allem nach dem Monster in uns. Denn Menschenfresser sind nicht nur Teufel in mittelalterlichen Höllendarstellungen, die die Sündigen verschlingen, oder einige wenige Naturvölker, die sich ihre Ahnen im Bestattungsritual oder Gegner als Potenzmittel einverleiben. Auch unsere westliche Gegenwart bietet diesbezüglich einen großen Fundus an Bezugspunkten, was die rund 40 internationalen Künstler auf verschiedenen Ebenen deutlich machen. „In ihren Werken geht es ja nicht um das Klischee von wilden Menschenfressern, sondern um einen erweiterten Begriff des Kannibalismus: den imaginär-subjektiven, biologischen und sozial-politischen Bezug zu sich selbst wie zu Anderen im Sinne einer Einverleibung“, so Zwingenberger im Begleittext zur Ausstellung.

Die Künstlerin Oda Jaune etwa wirft mit ihren surrealistischen Landschaftsbildern, in denen Teile des menschlichen Körpers wie selbstverständlich eingebaut sind, die Frage nach dem Organhandel auf. Gilles Barbier zeigt sich in einer großformatigen Fotografie gleich sechsmal als Klon, der sich selbst auf die Schlachterbank legt. Patty Chang wiederum thematisiert den grausamen Druck auf Frauen durch gesellschaftliche Schönheitsideale, wenn sie sich in einem Video die eigene Brust abzuschneiden scheint. Diese entpuppt sich jedoch als Melone, welche die Künstlerin schließlich, wie von einer Bulimieattacke gepackt, auslöffelt. Unter der Metapher Kannibalismus können also sowohl Selbstzerstörung und Gewalt gegen Andere als auch grenzenloser Konsum und Konkurrenzkampf verstanden werden.

Einverleibung alter Meister

Die Ausstellung umfasst größtenteils zeitgenössische Werke, sei es Malerei, Fotografie, Zeichnung oder Skulptur. Einige von ihnen beziehen sich aber ganz konkret auf den Hofmaler Francisco de Goya, dessen berühmte Stiche der Serie „Los Caprichos“ (1799) ebenfalls zu sehen sind. Eine wesentliche Rolle spielt der spanische Künstler etwa in den Zeichnungen der Chilenin Sandra Vásquez de la Horra, die wie Goya Dämonen und mystische Rituale zu Papier bringt, welche in Südamerika weiterhin stärker präsent sind als in Europa. Daneben übersetzt Vik Muniz Goyas Gemälde „Saturn frisst seine Kinder“ mithilfe alltäglicher Materialien in die Gegenwart, indem er die Vorlage mit Abfallprodukten präzise nacharrangiert und dann fotografiert. Schon lange trägt auch die künstlerische Praxis kannibalistische Züge.

Trotz oder gerade wegen des per se unheimlichen Themas finden sich bei den Künstlern auch sehr spielerische Herangehensweisen. So gestaltete Wim Delvoye im Eingangsbereich einen Teil des Fußbodens, der an einen roten Teppich sowie an herrschaftliche Mamorböden erinnert, dessen Muster bei genauem Betrachten aber auf verschiedene Wurstarten zurückgeht. Makaber-humorvoll nimmt schließlich Philippe Mayaux sehr direkt Stellung zu Schönheits-OPs und Körperkult und arrangiert rosarote Plastiktorten aus nachgeformten Fingern, Fett, Gesichts- oder Geschlechtsteilen.

Ergänzt wird die Ausstellung mit historischen Fotos von (vermeintlichen) Kannibalen, die auf Expeditionen im 19. Jahnhundert gemacht wurden. Nicht selten wurden damals Ängste vor den Fremden pauschal in eine Anklage als grausame Menschenfresser verwandelt. Betrachtet man retrospektiv das Verhalten der Kolonialisten, aber auch unsere eigenen persönlichen oder sozialen Beziehungen, so muss man dem Anthropologen Claude Lévi-Strauss zustimmen, auf den sich der Ausstellungstitel bezieht: „Wir sind alle Kannibalen. Das einfachste Mittel, sich mit dem Anderen zu identifizieren, ist noch ihn zu essen.“

Leider hat die Ausstellung in Berlin jedoch ihren logischen Aufbau verloren, den sie in „La maison rouge“, dem renommierten Pariser Ausstellungsraum des Sammlers Antoine de Galbert besaß. So hängen gerade die historischen Fotos recht verloren mitten im großen Ausstellungsraum, in dem selbst größere Arbeiten aufgrund der Dimension des Raumes nur schlecht eine Kommunikation untereinander eingehen können. Die Inszenierung einer Ausstellung, vor allem der Auftakt, ist im me Collectors Room jedoch zusätzlich dadurch erschwert, dass sowohl der Gastronomie- als auch der Kassenbereich Teil der jeweiligen Schau sind. Und wenn über der Bar eine großgezogene Postkarte aus dem Jahr 1905 auf Augenhöhe mit den Kunstwerken hängt, dann macht sich der Sammler zu Künstler und es wird einem allzu bewusst, dass man sich an einem Ort befindet, der völlig vom Geschmack eines einzelnen abhängt. Dies ist in einem Privatmuseum zwar völlig legitim und zu erwarten; der Vergleich mit „La maison rouge“ zeigt jedoch, wie man es auch dezenter machen kann. In Paris wie in Berlin wäre es wohl günstiger gewesen, auf einige Arbeiten zu verzichten, um Redundanzen zu vermeiden und den einzelnen Werken mehr Raum zu geben. Es wird manchmal zu deutlich, dass das – äußerst spannende – Thema im Vordergrund steht.

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„Alles Kannibalen?“ bis 21. August 2011, me Collectors Room Berlin, Auguststraße 68, 10117 Berlin, Di-So 12-18 Uhr, www.me-berlin.com

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kürzere Version veröffentlicht in der PZ 27/2011: http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=38491&no_cache=1&sword_list[0]=kannibalen