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DANIEL LERGON
 

"DANIEL LERGON. EIGENGRAU" VON PETER LODERMEYER

I.
Betrachten wir gleich die erste Abbildung in diesem Buch: ein quadratisches Gemälde von 2009, 130 × 130 Zentimeter messend, mit transparentem Lack auf graue retroreflexive Leinwand gemalt, wie alle Arbeiten von Daniel Lergon ohne Titel. Vom ersten Blick an entfaltet sich das uralte Spiel des gemalten Bilds, man kann auch sagen: die uralte Magie der Malerei, wirksam seit den ersten Höhlenbildern, als irgendjemand aus irgendwelchen lange vergessenen Beweggründen die Umrisse seiner oder ihrer Hand auf eine Felswand bannte. Figur auf Grund – und schon tut sich der magische, unbestimmte Raum des Bildgrundes auf, der nicht länger völlig identisch ist mit der materiellen Fläche. Es beginnt das interpretatorische Spiel des Betrachtens, die Suche nach Vergleichbarkeit, um dieser zuvor nie gesehenen Figur eine Deutung zu geben. Mitten im Bildfeld platziert, ist eine ungefähr viereckige Form zu sehen, deutlich vom Untergrund abgegrenzt, sie hat genügend Platz nach allen Seiten, um sich in diesem einheitlich grauen Bildraum ungestört zu entfalten. Leicht verzogen und doch die quadratische Umgebungsform des Bilds bestätigend, steht sie fremd-vertraut da, mit klarem Umriss, hell schimmernder Kontur – zumindest erscheint es so auf der Fotografie. Unmittelbar beginnt man sich zu fragen, was das für ein Ding ist, das so konkret-unkonkret vor Augen erscheint. Die Unregelmäßigkeiten der Binnenstruktur, insbesondere die helle Linie rechts oben, verlangt geradezu nach einer räumlichen, dreidimensionalen Lesart des doch flächigen Gebildes. Ein Block? Ein Klotz? Eine oben abgeschrägte Rolle? Das nicht zu unterdrückende, nur durch Einübung in das Sehen nichtgegenständlicher Malerei gebändigte Bedürfnis nach Signifikation, das illusionistische Grundgefühl von „das erinnert mich an ...“, „das sieht aus wie ...“ steht immer parat. Was unmittelbar vor Augen steht, soll ein Zeichen sein für etwas anderes – auch wenn sich partout kein überzeugender Vergleich einstellen will.
Komplex wird es dann, wenn man das Original vor Augen hat und nicht das Foto. Wenn man – womöglich zum ersten Mal – mit einem Bild auf retroreflexivem Bildträger konfrontiert ist. Wenn sich mit jedem Schritt, egal in welche Richtung, das Bild verändert, Helles dunkler, Dunkles heller wird, Teile des Bilds mit einem Mal aufblitzen, andere sich zurückziehen, Kontraste sich verschärfen oder verschwinden. Wenn man die Erfahrung macht, dass die Erscheinungsveränderungen des Bilds von der Bewegung des eigenen Körpers abhängig sind, dabei aber der Willkür entzogen, weil sich das, was zu sehen ist, nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten vollzieht. Und dann die plötzliche Einsicht, dass das Licht die Hauptsache ist bei diesem Bild, nicht jene Figur auf Grund, die sich noch immer hartnäckig der gegenständlichen Identifizierung widersetzt. Es ist zunehmend das Licht in verschiedenen Erscheinungsformen und Veränderungen, was im realen Betrachtungsvorgang die Aufmerksamkeit auf sich zieht, das Licht als Bedingungsgrund und Voraussetzung aller Sichtbarkeit. Retroreflexives Gewebe, das die Eigenschaft aufweist, das Licht vorwiegend in die Richtung zurückzuspiegeln, aus der es einfällt, ist nicht für die Malerei entwickelt worden, es kommt vor allem als Leinwand für Bild- und Filmprojektionen und bei Sicherheitskleidung zum Einsatz. Indem Daniel Lergon es mit transparenten, farblosen Lacken bemalt, ergeben sich überraschende Brechungseffekte, wird das Bild aus seinem statischen Zustand gelöst und zu einem immerzu veränderlichen Gebilde gemacht. Das bedeutet freilich, dass fotografische Reproduktionen immer nur Andeutungen sein können, zufällige Ansichten aus nur einer Perspektive und in einer Lichtsituation. Die Retroreflexbilder lassen sich nicht angemessen reproduzieren. Indem die Gemälde unmittelbar auf das Licht unter seinen wechselnden Bedingungen reagieren, die vom Einfallswinkel, der Lichtmenge, dem Betrachterstandpunkt und so weiter abhängen, indem es also lichtsensibel dem erstaunlichsten Erscheinungswandel unterliegt, kommt ihnen die ungewöhnliche Eigenschaft zu, dass Bildlicht und reales Beleuchtungslicht auf direkte Weise aneinander gekoppelt sind. Die Erfahrungen, die man als Betrachter angesichts dieser Tatsache macht, sind untrennbarer Teil des Bilderlebens. Hier zeigt sich, dass das Sehen von Malerei nicht einfach das Erfassen der Bildgegebenheiten ist – das Auge ist eben kein bloßer sensorischer Registrierapparat –, sondern all die komplexen Wahrnehmungen im Verbund mit Bewegung, Körperempfinden, Raumgefühl mit impliziert.
Mit gutem Grund ist in Zusammenhang mit Lergons Retroreflexbildern immer wieder auf den psychologischen Begriff des Eigenraums hingewiesen worden. Dieser bezeichnet das Körperbewusstsein, genauer das Bewusstsein des Wahrnehmungs-, Handlungs- und Verfügungsspielraums unseres Körpers, jenseits dessen der Fremdraum beginnt – freilich mit fließenden Übergängen dazwischen. Die Gemälde auf retroreflexivem Grund erlebe ich als Betrachter interessanterweise als in meinen Eigenraum einbezogen, weil sie ja mit mir interagieren, ich also ihre Erscheinungswechsel beeinflussen kann. Sehen und Bewegen sind unmittelbar gekoppelt, das Auge des Betrachters ist hier definitiv ein „mobile eye“. Zugleich – und das ist das Frappierende – erlebe ich mich selbst als in den Eigenraum des Gemäldes einbezogen, will heißen: Ich schreibe dem Bild einen Eigenraum zu, denn ich erlebe ja, wie es, als ein Quasisubjekt, auf mich und meine Bewegungen unmittelbar reagiert. Ich erfahre das Bild als ein Gegenüber, von dem ich mich gleichsam wahrgenommen fühle: Was wir sehen, blickt uns an.
Insofern ist die physikalische Reflexion des Lichts zurück in Richtung des Lichteinfalls metaphorisch in Verbindung zu bringen mit der Rückwendung des Sehens auf sich selbst und seine Bedingungen. Diese Doppelbedeutung des Worts Reflexion hat Lergon in seiner gleichnamigen Ausstellung anlässlich der Mediations Biennale 2012 in Poznan (Polen) thematisiert. Das „sehende Sehen“ (ein Grundwort der Ikonik Max Imdahls ) wird als ein „das Sehen sehendes Sehen“ reflexiv. Sehen ist kein rein sinnlicher, sondern immer ein komplex kognitiv-erkenntnishafter Prozess. Das Reflexivwerden des Betrachtersubjekts kommt in Lergons Malerei nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als bei den auf helle retroreflexive Leinwände gemalten Bildern, wenn sie so im Licht hängen, dass die Lichtquelle sich hinter dem Betrachter befindet, dessen Schatten auf die Leinwand fällt und aufgrund der Reflexionseigenschaften des Materials einen Lichtkranz, einen Nimbus aufweist. Die für die Bildrealität mitkonstituierende Rolle des Betrachters wird so augenscheinlich: „Der Betrachter ist im Bild“ – so der Hauptsatz der Rezeptionsästhetik –, und Lergon gelingt es zugleich, ihn (noch ein Imdahl’scher Ausdruck) „auratisch zu nobilitieren“. Mit der Ausstellung nimbi in der Kölner Galerie Christian Lethert hat Lergon 2008 dieses optische Phänomen und seine Bedeutung für die Bildrezeption veranschaulicht.

II.
Daniel Lergon ist ein Künstler der, wie viele andere auch, in Werkserien arbeitet – zumindest spricht er selbst von „Serien“, in den anderen Texten in diesem Katalog wird das Wort aufgegriffen. Ich ziehe es hingegen vor, von „Reihen“ zu sprechen, weil der Begriff der Bildserie impliziert, dass bestimmte Faktoren der Bildgestalt durchvariiert werden, dass es also eine Bildregel gibt, die systematisch eingehalten wird, was zur Folge hat, dass eine einzelne Arbeit vollständig nur zu verstehen ist, wenn ihre Stellung innerhalb der Bildserie miterfasst ist. Das alles ist bei Lergons Arbeiten nicht der Fall. Der innere Zusammenhang seiner Werkreihen wird durch die Wahl der Arbeitsmaterialien – Malmittel wie Bildträger – gewährleistet. Doch davon abgesehen ist jede Bildgestalt individuell ausgeprägt. Bei den Gemälden auf grauem retroreflexivem Gewebe zum Beispiel werden nicht nur ganz unterschiedliche Formen entwickelt: Solche mit geschlossenen Konturen wie in dem zuerst betrachteten Gemälde stehen neben offenen Formen, bei denen Lackspritzer, Schlieren und Verwischungen auf einen schnellen, gestischen Auftrag schließen lassen. Vor allem aber unterscheiden sich die Bildformate erheblich voneinander. Es gibt in der Reihe der Retroreflexbilder quadratische, hoch- und querrechteckige Formate, aber auch Tondi, also Gemälde mit kreisrunder Form. Auch die Bildmaße weichen stark voneinander ab und schwanken zwischen vergleichsweise kleinen 130 × 100 und riesenhaften 270 × 720 Zentimetern. Es handelt sich bei der Abfolge der Bilder also nicht um ein serielles Abarbeiten eines Formproblems als vielmehr um eine Art Untersuchungsreihen, in denen verschiedene Bildmöglichkeiten ausgelotet werden.

III.
In der vorliegenden Publikation werden drei Werkreihen vorgestellt, die sich alle wiederum anhand der unterschiedlichen Bildträger weiter unterteilen lassen. Die erste Reihe bilden die Gemälde mit transparentem Lack auf retroreflexivem, entweder grauem, weißem oder schwarzem Gewebe. Die zweite Reihe sind Bilder, die mit verschiedenen pulverisierten Metallen auf die Wand, auf Papier oder aber auf metallbeschichtete Leinwände gemalt sind. Es folgen als dritte Reihe die Arbeiten, bei denen Lergon mit gesäuertem Wasser auf einen Untergrund aus Eisen, Kupfer oder Zink malt. Die auffällige Gemeinsamkeit aller drei Werkreihen ist die Tatsache, dass es sich jeweils nicht um konventionelle Malerei mit Pigmenten, mit „Farben“ im konventionellen Sinne handelt, ebenso, dass die Eigenschaften der Bildträger ganz wesentlich für das Erscheinungsbild der Gemälde sind. So ist die Eigenfarbe der retroreflexiven Leinwände – um noch einen Moment bei dieser Werkreihe zu verweilen – keineswegs ein beiläufiger Faktor, sondern beeinflusst die Wirkung der Gemälde in hohem Maße mit. Bei den Bildern auf grauem Untergrund ist die Veränderlichkeit des Erscheinungsbilds durch Lichteinfall und Betrachterstandort besonders deutlich. Bei jenen auf weißem Grund hingegen sind die Veränderungen subtiler. Das Weiß sorgt dafür, dass die Lichtbrechungen durch den aufgetragenen transparenten, farblosen Lack, je nach Betrachtungswinkel, die bemalten Flächen ganz oder partiell aufscheinen oder wieder verschwinden lassen – ein Spiel mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Deutlich zurückgenommener sind die Lichtbrechungseffekte bei den schwarzen Leinwänden, da diese ja einen Großteil des Lichts absorbieren. Hier tritt viel stärker als bei den helleren Varianten der Gegensatz zwischen den glatten, wegen des dunklen Hintergrunds spiegelnden Lackschichten und den matten Leinwandoberflächen hervor. Die gemalten Partien erscheinen viel dunkler und kompakter, als dies bei den grauen und weißen Bildern der Fall ist.

IV.
Daniel Lergon verzichtet konsequent auf Bildtitel, seinen Ausstellungen jedoch gibt er immer Namen sowie kurze Texte mit, die oft dem Bereich der Naturwissenschaften entstammen. Manche der Ausstellungstitel verweisen auf Eigenschaften der Werke oder auf visuelle Effekte, die sich an ihnen beobachten lassen. Die schon erwähnten Ausstellungen Reflexion und nimbi sind Beispiele dafür. In anderen Titeln werden Phänomene benannt, die eine Analogie zu gewissen Eigenschaften der Bilder aufweisen. Das gilt zum Beispiel für die Ausstellung Whiteout, die 2011 in der Galerie Almine Rech in Paris stattfand. Als Whiteout bezeichnet man die meteorologische Besonderheit, die in Polarregionen und im Hochgebirge beobachtet werden kann, dass eine verschneite Bodenfläche und der Himmel ununterscheidbar werden und die Horizontlinie dazwischen verschwindet, wenn bestimmte wetterbedingte Lichtverhältnisse herrschen. Das muss hier nicht weiter ausgeführt werden, es ist klar, dass die weißen Retroreflexbilder, die Lergon in der Ausstellung zeigte, dieses Phänomen nicht illustrieren oder gar darstellen, sondern analog dazu eine – optisch völlig anders verursachte – Kontrastverringerung aufweisen, die bewirkt, dass die Konturlinien der gemalten Formen verschwinden und diese mit den weißen Grundflächen verschwimmen können. Andere Ausstellungstitel wiederum sind nur in freier Assoziation mit den ausgestellten Werken zu verknüpfen, 3000 K etwa (Galerie Andreas Huber, Wien, 2011), ein Titel, der auf die Temperatur des frühen Universums zu dem Zeitpunkt verweist – etwa 380 000 Jahre nach dem Urknall –, als sich Materie und Strahlung trennten, als das Weltall mithin erstmals von Licht durchflutet wurde.
Die Titel und ihre naturwissenschaftlichen Erklärungen sind verständlicherweise beliebte Aufhänger für alle, die über Daniel Lergons Arbeiten schreiben oder berichten. Sie geben vermeintlich Anhaltspunkte für die Interpretation seiner nichtgegenständlichen Bilder. Dabei besteht die Gefahr, sie dahingehend misszuverstehen, als ob sie eine Erklärung der Bilder wären oder gar deren Motive oder Sujets. Daniel Lergon ist kein Naturwissenschaftler und will auch keine naturwissenschaftliche Belehrung geben. Die Ausstellungstitel erklären nicht die Bilder, und die Bilder illustrieren nicht die in den Titeln benannten Phänomene oder Sachverhalte. Was aber ist dann die Funktion oder gar künstlerische Strategie der Titel und Texte? Lergon selbst nennt sie „kleine populärwissenschaftliche Anekdoten, die interessant sind [...] und auf etwas verweisen, das eine Metapher für die Bilder sein kann“. Das klingt harmloser, als es ist. Meines Erachtens liegt die künstlerische Bedeutung der „populärwissenschaftlichen Anekdoten“ darin, auf intelligente Art den Erwartungen an eine avancierte Malerei zu entsprechen und sich ihnen zugleich zu entziehen. Mit seinen experimentellen Methoden Bilder zu malen, ohne dabei Farben oder Pigmente zu benutzen, entspricht Lergons Bildbegriff dem modernistischen Postulat des Materialfortschritts. Seine nichtgegenständliche Malweise schließt alles Abbildhafte und Narrative aus. Das auf Clement Greenberg und seine Nachfolger zurückgehende Postulat der Medienspezifik besagt, dass aus dem Medium Malerei alles auszumerzen ist, was nicht der Malerei als solche eigen ist. Indem er seine Ausstellungstitel setzt, befreit Lergon seine Bilder jedoch aus diesem allzu engen Rahmen der Selbstreferenzialität, wohlgemerkt aber verbindet er nicht die Bilder, sondern die Ausstellungen mit einer „anekdotischen“ Aussage.
Eine Ausstellung ist das Format, mit dem er seine Bilder präsentiert und dem Publikum, also uns als Betrachtern, vorstellt. Mit den Titeln und Texten adressiert er direkt den Betrachter und schafft einen Echo- oder Hallraum für die Wahrnehmung seiner Bilder. Was er damit erreicht, ist Welthaltigkeit. Malerei soll nicht nur im engen Korsett der Reflexion über das Wesen der Malerei selbst gefangen sein, sondern immer auch – und sei es auch nur in einem winzigen Splitter oder Fragment – eine Aussage über die Wahrnehmung der Welt treffen. Jedes Kunstwerk mit Anspruch sagt etwas darüber aus, wie wir die Welt wahrnehmen oder wahrnehmen könnten. Indem er mit seinen Ausstellungstiteln und den wissenschaftlichen Anekdoten etwas über das Wesen des Universums, der Materie, des Lichts, der Wahrnehmung andeutet, öffnet er den Resonanzraum für das Sehen seiner Bilder und deutet eine über die Kunst hinausgehende Relevanz an. Dies gilt auch für den Titel dieser Publikation, Eigengrau. So nennt man (Wikipedia-Wissen!) „die Farbe, die man in völliger Dunkelheit sieht. [...] Als Ursache des Eigengrau werden Aktionspotenziale des Sehnervs angesehen, möglicherweise verursacht durch eine Art Grundrauschen der Netzhaut.“ Auch mit geschlossenen Augen sieht man etwas, eine graue Farbe, die der Sehapparat in seiner Eigentätigkeit hervorbringt – eine großartige Metapher dafür, dass jeder Betrachter immer einen Eigenanteil seiner eigenen Wahrnehmungsweise an die Bilder heranträgt, die er betrachtet. Noch einmal: Das menschliche Auge ist kein sensorischer Apparat, Sehen ist eine komplexe Aktivität.

V.
Auf den ersten Blick sieht es aus, als ginge ein Riss durch Wand, fast wie bei einem zerrissenen Vorhang. Aus der Nähe betrachtet wird klar: ganz im Gegenteil, da ist keine Öffnung, vielmehr ist etwas auf die Wand appliziert. Die senkrechte Linie, die an den Rändern völlig ausgefranst ist, verjüngt sich nach oben hin, was ihr ein wenig das Aussehen eines vollständig entasteten Fichtenstamms gibt. Das Material wirkt stumpf und aus der Nähe körnig: Es handelt sich bei der Form um eine 2011 in der Sammlung Vergez in Buenos Aires angefertigte Wandmalerei mit Kupferpulver, das durch die Zugabe eines Acrylbinders vermalbar gemacht wurde. Die Arbeit mit Metallen, sei es als Farbmaterial, sei es als Bilduntergrund – manchmal auch beides zugleich –, stand in den letzten Jahren im Mittelpunkt von Lergons künstlerischen Experimenten. Einen besonderen Stellenwert kommt dabei den Wandgemälden zu, weil sie, anders als die Arbeiten auf Leinwand oder Papier, ortsspezifisch sind, meistens nur für die kurze Zeit der Ausstellungsdauer existieren, und weil sie den jeweiligen Realraum auf eine ganz besondere Weise miteinbeziehen. Bei den Wandarbeiten mit gebundenem Metallpulver gibt es keine klare materielle Bildgrenze. Die gemalte Form – fast ist man versucht zu sagen: die gemalte Formlosigkeit oder Formauflösung – aktiviert die Wandfläche um sie herum, aktiviert ganze Raumteile. Was davon man noch als Teil der Arbeit empfindet oder als bildextern, hängt sehr von der Perspektive und vom persönlichen Empfinden und Raumgefühl ab. Diese Art, mithilfe des Aufbringens von Metallteilchen die gegebenen Raumverhältnisse einzubeziehen und zu verändern, wird umso stärker empfunden, je mehr „Information“ der Raum bereits mitbringt, je weniger er also dem Ideal eines perfekten White Cube entspricht. So ist die Malerei mit Eisenpulver bei der Mediations Biennale 2012 in der Byla Synagoga in Poznan über die Fugen der gemauerten Wand sowie die darauf angebrachten elektrischen Leitungen gemalt und erscheint so als eine Intervention, die Raum selbst verändert.
Die Wandbilder sind jeweils monochrom, also mit einer einzigen Metallsorte – etwa Eisen, Kupfer, Zinn oder Zink – gefertigt, sodass es keine Farbkontraste oder -modulationen gibt. Dadurch wird der Raumillusionismus unterdrückt und die „Farbe“ als das, was sie ist, nämlich als Metallpulver auf der Wand, wahrgenommen. Dessen Materialeigenschaften werden dadurch betont, dass Lergon, statt kompakte, klar konturierte Flächen zu malen, das Material verwischt und vertrieben, tendenziell amorph aufträgt, manchmal bloß als eine Art verwehte, poröse Spur. Bezeichnend dafür ist das mit Hammerschlag, einem schwarzen Eisenoxid, gemalte Wandbild in der Ausstellung Iapetus 2010 im Kunstverein Mönchengladbach. Die schwere, dunkle, rundliche Form scheint sich am oberen Rand aufzulösen, zu „verdampfen“, eine lange, verwischte Spur macht den Anschein, als werde Material aus der Form herausgelöst und von einem imaginären Wind nach links davongeweht. Lergon hat die Wandmalereien als bewussten Gegenpol zu den Retroreflexbildern konzipiert, die, wie gesehen, mit Licht und Lichtwirkung arbeiten. Licht und Materie sind die beiden Pole, zwischen denen sich seine Kunst bewegt. Diese Polarität wurde in verschiedenen Ausstellungen thematisiert, unter anderem in der bereits erwähnten Ausstellung 3000 K, die im Titel auf die Trennung von Licht und Materie im frühen Universum anspielt.

VI.
Pulverisiertes Metall lässt sich nicht nur als Malmaterial verwenden, sondern bildet, wenn es gleichmäßig auf einen Untergrund – zum Beispiel eine Leinwand – appliziert wird, einen perfekten Malgrund. Unedle Metalle haben die Eigenschaft, auf Sauerstoff zu reagieren, also zu oxidieren, Rost anzusetzen. Daraus hat Lergon ein spezielles Malverfahren entwickelt, indem er gesäuertes, also mit geringen Mengen einer Säure versetztes Wasser auf den Metallgrund verteilt. Wie mit dem Lack in den Retroreflexbildern arbeitet Lergon also auch hier mit einer transparenten, farblosen Substanz. An den bearbeiteten Stellen setzt der Prozess der Säurekorrosion ein, das Metall oxidiert und beginnt sich zu verfärben. Es handelt sich also um eine Malerei, bei der kein Pigment auf den Malgrund aufgetragen, sondern vielmehr das chemische Potenzial des Metalls aktiviert wird, das dann „selbsttätig“, nach chemischen Gesetzmäßigkeiten Farben hervortreibt. Eine vergleichbare Vorgehensweise kennt man von Andy Warhols Oxidation Paintings aus den Jahren 1977/78. Mit ihren Spritzern und Rinnsalen wirken diese wie eine chemische Variante oder besser: eine Ironisierung des Abstrakten Expressionismus, umso mehr, als die Oxidationsprozesse der Arbeiten angeblich durch den Urin des Künstlers und seiner Mitarbeiter ausgelöst wurden, was den Gemälden den Beinamen Piss Paintings eintrug. Daniel Lergons Oxidationsbilder haben nichts mit einer drastisch-ironischen Kommentierung von Abstraktion zu tun. Schon auf den ersten Blick unterscheiden sie sich deutlich von der Drip-and-Splatter-Ästhetik der Piss Paintings, indem sie eine sehr sorgfältige, nuancierte Behandlung der Malfläche erkennen lassen und komplexe Formen hervorbringen, die sich aus mehreren Arbeitsschritten des Verteilens und Verwischens des gesäuerten Wassers ergeben. Im Vergleich zu seinen anderen Werkreihen weisen die Oxidationsbilder am stärksten einen – im traditionellen Sinne – malerischen Charakter auf, was auf der gesteigerten Farbigkeit und der vielfach nuancierten Farbmodulation beruht, die immer wieder eine illusionistische Plastizität und organisch anmutende Formqualität ermöglicht. Je nachdem, welches Material als Malgrund verwendet wurde, sind die Farbwirkungen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bei Eisen sind es verschiedene Helligkeitsstufen von Rostbraun, bei Zink diverse Graustufen, bei Kupfer mit seiner Vielzahl an Grünspantönen ergibt sich die größte Spannbreite an Farbnuancen und Modulationsmöglichkeiten, zugleich der größte Kontrast zur Ausgangsfarbe, dem typischen Kupferrot.
Betrachten wir zum Schluss noch die letzte Abbildung in diesem Buch: ein hochrechteckiges Gemälde von 2014, 200 × 130 Zentimeter messend, mit Wasser auf Zink auf Leinwand gemalt, wie alle Arbeiten von Daniel Lergon ohne Titel. Vom ersten Blick an entfaltet sich das uralte Spiel des gemalten Bilds: Figur auf Grund – und schon beginnt die Suche nach Vertrautheiten und Vergleichbarkeiten, um dieser zuvor nie gesehenen Figur eine Deutung zu geben. Fast das gesamte Bildfeld einnehmend, nur vom unteren Rand abgeschnitten, ist eine Figur zu sehen, die unvermeidlich anthropomorphe oder auch zoomorphe Assoziationen weckt. Auf einem Rumpf scheint ein rätselhaft gehörnter Kopf aufzusitzen, nach links setzt sich eine angewinkelte Extremität fort, die in einem keulenartigen Stumpf endet. Die gestische Malerei, hervorgebracht aus den chemischen Eigenschaften des Trägermaterials Zink, ist hier an die äußerste Grenze dessen geführt, was noch als gegenstandslos gelten kann. Es braucht nur wenig Anstrengung bei der Eigenleistung des Betrachterblicks, um im Bild ein wie auch immer zu benennendes Gegenüber zu erkennen.