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DANIEL LERGON
 

"DIE GRENZEN DER VORSTELLUNGSKRAFT UND DIE MALEREI DER BEWEGUNG" VON ODED NA’AMAN

„Bewegtheit ist eine Qualität gewisser Anschauungen.“
Georg Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch


Daniel Lergon ist Maler, aber vor allem ist er ein Künstler der Vorstellungskraft. Bei ihm ist die Oberfläche nicht nur eine Leinwand und der Farbton nicht nur eine Farbe. Seine Arbeit ist Malerei, doch das Bild ist kein Fenster zur Welt, es ist die Welt. Das Licht, die Farbe, die Fläche und die Beschaffenheit sind nicht nur Merkmale seiner Werke, sie sind seine Werke. Obendrein ist das Bild kein Objekt, es ist eine Begegnung mit dem Betrachter, der aktiv daran teilnimmt. Man betrachtet die Bilder ähnlich wie andere Werke von Minimalisten wie Richard Serra oder Fred Sandback – als stehe man vor ihnen, bis man merkt, dass man mittendrin ist und an der Erschaffung mitwirkt. Man vervollständigt die Werke, indem man wahrnimmt, wie sie mit uns – den Betrachtern – kommunizieren, das Licht auf uns reflektieren, unseren Blickwinkel und unser Verständnis von Sichtbarkeit verändern. Lergons Kunst bietet zuerst eine visuelle Entdeckung, bevor man die künstlerische Seite erfährt. Sie ist eine Ahnung von Welt – von Natur – wie wir sie sonst nicht sehen, da es uns unmöglich ist, sie so zu sehen. Während wir uns auf ein Bild nach dem anderen einlassen, wird uns allmählich klar, dass diese Arbeiten nur die Spitze des Eisberges einer Schönheit sind, die jenseits aller menschlichen Wahrnehmung existiert.

Klappen wir das Buch zu und schauen es uns an. Das Cover zeigt uns nichts als die Farbe grau und ein Wort, Eigengrau, das für den Grauton steht, den wir sehen, wenn wir unsere Augen schließen. Das Cover ist die erste Arbeit dieses Buches. Es definiert ganz genau den Platz von Lergons Kunst. Dieses eine Wort, Eigengrau, erklärt uns von Anfang an, worauf es in all seinen Bildern ankommt: Mit geschlossenen Augen siehst du, mit offenen Augen erblickst du deine Blindheit. Das ist weder eine abstrakte Philosophie noch eine leere Redensart, sondern eine Überzeugung, die Lergons Kunst antreibt und immer dann auftaucht, wenn seine Arbeiten gezeigt werden. Negation kann sichtbar und Abwesenheit gegenständlich gemacht werden. Das Unermessliche, das wir möglicherweise nicht wahrnehmen können, wird uns vergegenwärtigt – und dadurch schätzen wir das, was wir wahrnehmen können, umso mehr.

Wenn man Lergon zuhört, wie er über Astrophysik, geologische, meteorologische und kosmologische Ereignisse und Prozesse spricht, die seine Arbeit inspirieren, lässt man sich von seiner Faszination und Bewunderung dafür anstecken. In dieser Welt, die sich nach dem Urknall 400 000 Jahre lang ausdehnte, bevor sie sich hinreichend abkühlte, um Licht freizulassen – in dieser Welt sind wir nicht mehr als schnelle Durchreisende, ein flüchtiger Hauch von Existenz. Mit Lergons Bildern konfrontieren wir die Realität der Dinge, die uns bisher unbekannt sind, Dinge, die wir bisher als unmöglich oder unvorstellbar glaubten. Bedenken wir nur einige Motive von Lergons vergangenen Ausstellungen: der Schatten des Mondes, der sich kegelförmig auseinanderzieht und an der Spitze einen umgedrehten, ebenso kegelförmigen Schatten erschafft (Antumbra, 2011); ein Satellit des Saturns, der fast nur aus Wasser und Eis besteht, und den größten Hell-Dunkel-Kontrast eines Planeten im Solarsystem zeigt (Iapetus, 2010); ein schneebedeckter Boden, der sich mit einem wolkenbedeckten Himmel verbündet, um den Horizont zu verwischen (Whiteout, 2011); Licht, das ohne Erzeugung von Hitze erzeugt wird (Cold Fire, 2008); großflächiges Rosten in den Meeren, das durch den Prozess der Fotosynthese hervorgerufen wird (Rost, 2012). Diese visuellen Ereignisse, die Lergon faszinieren, geschehen, wenn Gegensätzliches kollabiert und sich dadurch neue Möglichkeiten herausstellen.

Die Werke sind jedoch weder Illustrationen von Naturvorkommnissen noch stichfeste, stillstehende Schatten von Materie und Licht, welche die Zustände der Natur aufzeigen. Die Arbeiten sind hauptsächlich Fälle von Bewegungen. In Lergons Werken ist Bewegung der Ausdruck von Spannung, die von den Gegensätzlichkeiten, die jedes Bild definieren, ausgelöst wird. Bei Rost wird beispielsweise pulverisiertes Eisen mit Wasser „bemalt“, und durch die chemische Reaktion entstehen Bewegung, Formen und Farben. Wir beobachten sowohl die Bewegung in jedem einzelnen Bild als auch die Bewegung, die die Bilder auslösen, wenn man eines nach dem anderen betrachtet. Zuerst erhält man den Eindruck, Naturprozesse durch ein Teleskop (oder ist es ein Mikroskop?) zu betrachten, also Prozesse, die jenseits der Erreichbarkeit menschlicher Intentionen liegen. Doch dann sammelt sich nach und nach eine Reihe von Bewegungen an, und der Betrachter beginnt die Linien, Berührungen, Pinselstriche, Umrisse und Dynamiken von Erregung und Stillstand zu erkennen. All das, was nur eine Sekunde zuvor unberührt aussah – sowohl geologisch, kosmologisch und chemisch –, erscheint dem Betrachter nun beseelt zu sein. Die Arbeiten wirken wie die Spuren eines Kindes, das mit der Unermesslichkeit der Zeit, den Farben ferner Sterne und den tiefsten Schichten der Erde gespielt hat. Man stelle sich vor, dies seien Bilder eines ungehemmten Babys, das am Rande des Universums mit eigenartigen Gasen, Metallen und Flüssigkeiten tanzt. Wenn wir uns dann nun einem anderen Werk zuwenden, erkennen wir es sofort, als sei es ein vertrautes Gesicht.

Wir erkennen das Werk nicht nur, sondern das Werk scheint uns zu erkennen. Greg Carlock schreibt über einen Kegel, der sich in beide Richtungen über die Zweidimensionalität eines Bildes und bis hin zum Betrachter selbst ausdehnt. Dieser Kegel beschreibt die Grenzen des von Carlock benannten „Eigenraumes“. Der Betrachter wird vom Bild angesprochen, als ob dieser „von einer Reihe sinnlicher und wahrnehmbarer Impulse stimuliert wird“. Mit dieser persönlichen Begegnung nimmt man das Werk erst vollkommen wahr, so wie ein gesprochenes Wort erst vollkommen wahrgenommen wird, wenn es gehört und verstanden wird. Die Bewegung des Betrachters im Raum vor dem Bild und zu einem bestimmten Moment in der Zeit entspricht den Bewegungen in dem Bild selbst, den Bewegungen des Künstlerkindes, den Spuren seiner Instrumente und seiner Berührungen. Wie etwas so Großes und Universelles wie die Grenzen von Sichtbarkeit oder der Beginn der Erscheinung von Licht mit einem intimen, persönlichen Erlebnis verschmilzt, ist kaum beschreibbar. Der Betrachter begegnet dem Künstler über die Mediation von Licht und Materie in Bewegung.

Aber was ist diese Bewegung? Man vermag davon auszugehen, dass ein Bild nur „mumifizierte“ Bewegungen erfassen kann, sprich: wenn Bewegungen eingefroren sind und nur ihre Merkmale bewahrt werden. Das würde darauf hinauslaufen, dass man Bewegung nur auf Kosten ihrer Einsparungen repräsentieren kann. Aber was können wir sonst noch erhoffen? Wie kann es Bewegung in einem Bild geben, wenn die Dimension der Zeit fehlt?

Georg Simmel behauptet, Rembrandts größter Erfolg sei es gewesen, Bewegung in Bildern darzustellen, ohne ihr die Bewegung zu nehmen:
„Während in der klassischen und der in engerem Sinne stilisierenden Kunst die Darstellung einer Bewegung durch eine Art Abstraktion geschieht, dadurch, dass der Anblick eines bestimmten Momentes dem bis zu ihm hin und unter ihm fortströmenden Leben entrissen wird und zu einer selbstgenügsamen Form kristallisiert — scheint bei Rembrandt der dargestellte Moment den ganzen, bis zu ihm sich hinlebenden Impuls zu enthalten, er erzählt die Geschichte dieser Lebensströmung.
Er ist nicht ein zeitlich fixierter Teil einer physisch-psychischen Bewegtheit, jenseits dessen, zu künstlerischer Formung herausgehobenen Fürsichseins noch das Ganze eben dieser Bewegtheit, dieses innerlich abrollenden Ereignisses, stünde; sondern er macht anschaulich, wie der eine dargestellte Augenblick der Bewegung wirklich die ganze Bewegung ist oder vielmehr überhaupt Bewegung und nicht ein verfestigtes So und So ist.“

Simmel untersucht mit diesem Buch Rembrandts Erfolg auf philosophischer Ebene. Statt sich Bewegtheit als die Zusammensetzung von aufeinanderfolgenden Bewegungen vorzustellen, also jeden Bewegungsmoment als Fall für sich, schlägt Simmel vor, dass wir jeden beliebigen Moment so verstehen sollten, als drücke er die größere Bewegung aus, in die er eingebettet ist. Bewegung verhält sich zu Zeit wie Geometrie zu Raum: So wie Geometrie unser Verständnis von Materie im Raum formt, strukturiert Bewegung unser Verständnis einzelner Momente in der Zeit. Oder weniger abstrakt gesagt: Ein dreieckiges Objekt stellt ein abstraktes Dreieck dar, und nach demselben Prinzip stellen Rembrandts Bilder die größere Lebensbewegung dar, in der der gemalte Augenblick eingebettet ist.


„Wie es das Wesen des Lebens ist, in jedem Augenblick ganz da zu sein, weil seine Ganzheit nicht die mechanische Summierung von singulären Augenblicken, sondern ein kontinuierliches und kontinuierlich formwechselndes Strömen ist — so ist es das Wesen der Rembrandtschen Ausdrucksbewegung, das ganze Nacheinander ihrer Momente in der Einmaligkeit eines einzelnen fühlen zu lassen, ihre Zerspaltung in dieses Nacheinander getrennter Momente zu überwinden.“

Auch wenn wir wenig davon zeigen, tragen wir doch jeden Moment unsere ganze Vergangenheit und unsere mögliche Zukunft in uns. Vergleichen wir das Bild mit einer Fotografie. Das Ziel der Kamera ist es, einen Moment von einer Bewegung zu lösen, um all das Sichtbare darin festzuhalten. Wenn man die Bilder in eine Reihenfolge bringt, kann man die Bewegung rekonstruieren (rekonstruieren statt aufzeichnen, da Bewegung hier aus aufeinanderfolgenden Fällen von Stillstand konstruiert wird). Im Vergleich dazu vermag die Malerei – oder zumindest Rembrandts Malerei, laut Simmel – die Totalität der Bewegung in einem einzelnen Moment zu präsentieren. Während die Kamera ihr Objekt auf die sichtbaren Eigenschaften reduziert, verzichtet Rembrandts Malerei zwar auf die kleinen Details des Sichtbaren, erkennt aber das versteckte Unsichtbare darin. Noch einmal Simmel: „Wunderbarerweise trägt Rembrandt in die feste Einmaligkeit des Anblicks das ganze bewegte Leben ein, das zu ihr geführt hat, die sozusagen formale Rhythmik, Gestimmtheit, Schicksalstönung des vitalen Prozesses.“

Das steht im Gegensatz zu Walter Benjamins berühmter Aussage (genau 20 Jahre, nachdem Simmel sein Buch über Rembrandt im Jahre 1916 veröffentlichte), dass das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit seine Aura verliere. Laut Benjamin gehe die Idee der Einmaligkeit aufgrund der wachsenden Masse an Reproduktionen verloren. Aus denselben Gründen überwiegt das Konzept der Bewegung als eine Ansammlung von perfekt produzierten Standbildern. Wir sprechen davon, Bewegung aufzunehmen, da wir ein Abbild davon rekonstruieren können, und übersehen dadurch die Bewegung, die in jedem einzelnen Moment dargestellt wird. Die alternative Auffassung von Bewegung, die Simmel darstellt, erlaubt uns, hinter die falschen Annahmen zu schauen, die von mechanischer (und nun digitaler) Reproduktion verstärkt werden. Mit dieser Auffassung sind die Betrachter von Daniel Lergons Werken vertraut: Das Unsichtbare kann vorhanden sein, das Abwesende gegenständlich, und große Ausmaße von Zeit und Raum können in eine einzige Begegnung fallen.

Lergons Nutzung von retroreflexivem Material erlaubt eine außergewöhnliche Verstärkung der Bewegung in und vor dem Bild, aber diese Bewegung kann man nur in einer Begegnung mit dem Originalwerk erfahren. Die Oberfläche dieser retroreflexiven Bilder, die auch unter dem Titel Nimbi (der Plural von Nimbus, ein Heiligenschein) gezeigt wurden, reflektiert eingehendes Licht zurück zur Strahlquelle. Dies produziert einen Heiligenschein aus Licht auf dem Bild um den Schatten des Kopfes des Betrachters, wenn sich die Strahlquelle hinter seinem Rücken befindet. Dieses Phänomen existiert auch in der Natur, wenn beispielsweise eine von Tau benetzte Wiese in ähnlicher Weise von der Sonne angestrahlt wird. Jedes einzelne Bild dieser Serie gibt wortwörtlich jedem seiner Betrachter eine einmalige Aura. Die fotografischen Standfotos in diesem Katalog können unmöglich die Bewegung in den Originalwerken nachbilden. Paradoxerweise muss man ein entscheidendes Zugeständnis an die „mumifizierte“ Auffassung von Bewegung machen, um Lergons Arbeit zu dokumentieren, da sie eine Alternative dazu darstellen.

Während Simmel Rembrandts Porträts einzelner Leute untersucht, malt Lergon die Bewegungen des Lebens in der Welt der Natur. Oder besser gesagt: Lergon porträtiert die Erweiterung des Lebens zu den äußeren Grenzen dieser Welt. Diese Erweiterung durch Bewegung wird in den Bildern initiiert, aber erst durch die Wahrnehmung des Betrachters vervollständigt. Demzufolge bildet Lergon die Bewegung nicht ab, sondern fordert sie heraus. Die Bewegung geschieht nicht nur in seinem Werk, sondern im Moment der Begegnung zwischen dem Betrachter und dem Werk. Trotz dieser Unterschiede teilt Lergon die Überzeugung mit Simmels Rembrandt, dass Leben nur im Moment gegenwärtig ist und dass man das Leben auslöscht, wenn man es zum Stillstand bringt. Lergon ist natürlich hauptsächlich ein Künstler der Vorstellungskraft, aber in seinen Untersuchungen der Vorstellungskraft stößt er an die Grenzen der Malerei, wo Bewegtheit eine Qualität gewisser Anschauungen ist.