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DANIEL LERGON
 

"EIN FALL VON LICHT" VON EMMA GRADIN

„Das Gelingen [...] des Werkes [...] ist sehen zu lassen, was sehen lässt, und nicht, was sichtbar ist.“
—Jean-François Lyotard

Auf den ersten Blick scheinen Daniel Lergons weiße retroreflexive Bilder vor allem hervorzuheben, was wir sonst nicht sehen können. In der Malerei wird seit jeher Farbe auf eine zweidimensionale Oberfläche aufgetragen, die einzig und allein als Träger fungiert. Lergon benutzt jedoch transparente Lacke auf synthetischem Gewebe, welches das Licht in die Richtung zurückwirft, aus der es kommt.
Betritt man die Ausstellung Whiteout mit den 16 weißen Bilder von Lergon, die in einem hyperbolischen White Cube gezeigt werden, findet man sich in einem schwindelerregend starken Lichtfeld wieder. Der Raum wird von einer Reihe Neonröhren erleuchtet, die sich entlang der Wände erstrecken. Das weiße retroreflexive Material, das Lergon für seine Leinwände benutzt, wird üblicherweise – und besser bekannt in grauer Farbe – für Sicherheitskleidung oder Fahrradausrüstung eingesetzt, um den Träger im Dunkeln sichtbarer zu machen. Das Material reflektiert Lichtstrahlen direkt zurück zur Strahlungsquelle. Es besteht aus einer Schicht Hintergrundfarbe, die in diesem Fall weiß ist, und einer weiteren Schicht kleiner Plastikperlen, die das Licht auf eine ganz andere Art und Weise streuen und brechen, als wenn die Oberfläche ohne Perlen verbliebe und damit flach wäre. Der Lack, den Lergon über die Oberfläche streicht, um Spuren zu hinterlassen, fungiert als Barriere, um Reflexionen zu beeinflussen. Er ebnet die Oberfläche und blockiert einen Teil des Lichts. In der Ausstellung gibt es eine unglaubliche Bandbreite an Weißtönen: bläuliches Weiß, graues, gelbes und metallisches Weiß – der Lack scheint diese Farben anzunehmen, da sich darunter Licht befindet.
Obwohl wir weißes Licht als die Summe aller Farben des Spektrums kennen, ist Weiß als Nichtfarbe bekannt. Eine weiße Fläche oder Oberfläche wird als neutral betrachtet und gilt als unfertig oder nackt. Und doch spielt das Weiße eine entscheidende Rolle in unserem Leben. Man findet es in den kräftigen Strahlen des Tageslichts, in den ersten essenziellen, nährenden Tropfen Milch, in der weißen Friedensfahne, in den gesellschaftlich konstruierten Rassenidentitäten, im weißen Blatt Papier, auf dem die Gedanken eines Künstlers notiert sind, in sterilen Räumen eines Krankenhauses oder Labors; oder auch in den für ihre Ästhetik geschätzten Materialien wie Perlen oder Marmor oder in der „Reinheit“ und im hohen Ansehen eines weißen Galerieraumes, des White Cube.
Bei den Arbeiten von Whiteout zerstreut sich das Licht in alle Richtungen und erzeugt damit eine dichte Atmosphäre in der unmittelbaren Umgebung der Bilder. Das Weiße ist dicht und weich, flach und prall, sichtbar und unsichtbar – je nach Bewegung des Betrachters. Die sonst hintergründigen, schwer zu erkennenden Figuren rücken dank der leeren, umgebenden Oberfläche in den Fokus. Da das Licht die Sichtbarkeit simultan begünstigt und erschwert, lässt man sich auf eine bewusste Wahrnehmung ein.
Diese Methode, Licht statt Farbpigmente für Bilder zu nutzen, wird bereits seit den 1960ern von den Künstlern der Light-and-Space-Bewegung in Südkalifornien praktiziert. Auch die Arbeiten von Mary Corse bestehen aus retroreflexivem Material und werfen ähnliche Fragen bezüglich der Grenzen von Sichtbarkeit und den metaphysischen Aspekten des Mediums Malerei auf. In der Besprechung einer Ausstellung von Mary Corses Arbeiten beschrieb die Kunstkritikerin der LA Times, Sharon Mizota, dass „wir uns, wie bei jedem guten Light-and-Space-Kunstwerk, als Sehende erleben“.
Es ist ein transformatives, übersinnliches Betrachtungserlebnis: Während sich unsere Augen an das Lichtphänomen anpassen, verändert sich unser Erlebnis der Arbeiten drastisch und die Figuren auf den Leinwänden rücken in den Fokus. Wir sind uns nicht nur bewusst, dass wir Kunstwerke anschauen, sondern durchlaufen verschiedene Schritte der Wahrnehmung. Wir werden mit einem starken Lichtfeld konfrontiert, sodass das Licht uns beeinflusst, bevor wir die Bilder wahrnehmen können. Flecken und Teilchen erscheinen direkt auf der Netzhaut als entoptische visuelle Erfahrung – eine physisch im Auge stattfindende Wahrnehmung, und keine Interpretation unseres Gehirns von etwas, was wir erleben. Das blendende Licht trifft uns sozusagen vor der Wahrnehmung. Lergons mit Lack gemalte Zeichen und Spuren erscheinen. Es dauert eine Weile, bis wir die Motive jedes Bildes erkennen können, und wir müssen sie ständig neu gestalten, während sich unsere Augen über die Oberfläche der Leinwand bewegen. Es ist so, als ob wir, die Betrachter, die Bilder noch einmal neu erschaffen.
Diese bewegende Erfahrung des Betrachtens in Kombination mit der Großflächigkeit einiger von Lergons größten Arbeiten (wie beispielsweise die Serie States of Matter, die 2008 bei Andersen’s Contemporary in Berlin ausgestellt wurde) sind Hinweise auf das Erhabene. Aufgrund der schieren Größe von 400 × 720 Zentimeter und der Lichteffekte, die durch das markante Ausgangsmaterial hervorgerufen werden, sind die Bilder schwer fassbar. Wenn wir direkt davorstehen, überschreiten die Bilder die Grenzen des Sichtfeldes und gehen darüber hinaus. Der Titel der vier Bilder der Serie, States of Matter, bezieht sich auf die verschiedenen Aggregatzustände: fest, flüssig, gasförmig und plasmatisch.
Das Zitat am Anfang dieses Textes stammt aus Jean-François Lyotards Essay „Das Erhabene und die Avantgarde“, der 1984 im Merkur veröffentlicht wurde. Erst kürzlich erschien er erneut in einer englischsprachigen Anthologie über das Erhabene, herausgegeben von dem britischen Künstler und Kunsthistoriker Simon Morley. Im Einführungskapitel betrachtet Morley die Herkunft des englischen Begriffes „sublime“, in dem er die Etymologie des Ausdrucks „sublimare“ beschreibt: „sublimare (erhaben) war ein verbreiteter Begriff (im Mittelalter), den Alchemisten verwendeten, um das reinigende Verfahren zu beschreiben, bei dem Stoffe durch Wärmezufuhr zu Gas werden, wieder abkühlen und sich in einen neuen Festkörper verwandeln.“ Der Begriff der Sublimation wird nach wie vor in der gegenwärtigen Physik für die Umwandlung eines Festkörpers zu Gas und umgekehrt verwendet.
Die Idee, einen Festkörper oder eine flüssige Substanz in einen gasförmigen oder ephemeren Zustand zu versetzen, scheint mir mit einigen Aspekten von Lergons Arbeit vergleichbar zu sein. In den Ausstellungen Iapetus und dualis wurden retroreflexive Bilder gegenüber und neben metallischen Wandzeichnungen gezeigt. Diese metallischen Wandzeichnungen stellen den Raum an sich in den Vordergrund und die Räumlichkeit selbst als Konzept dar. Der Schwerpunkt dieser Ausstellungen ist die phänomenale Dichotomie von Licht und Materie – und der Welle-Teilchen-Charakter, den beide mit sich bringen. Daniel Lergon zeigt besonderes Interesse für dieses Phänomen und erklärt bei einem Besuch in seinem Studio seine Arbeitsmethode. Er schafft für die Entstehung seiner Motive die geeigneten Voraussetzungen, trägt Pfützen von Lack auf die Leinwand auf, um diesen dann darüber hinwegzuziehen. So entsteht Form aus einem Bündel von Gelegenheiten.
Ein Triptychon am Eingang der Ausstellung Whiteout erzählt eine Art Geschichte, ein sich entwickelndes Ereignis: Zuerst hängt da ein Gipfel, auf dem flüssige Linien nach unten fließen. Im Bild daneben befindet sich ein rautenförmiger Köper in einer Fallbewegung von der oberen rechten zur unteren linken Ecke der Bildebene, ein anfänglich sphärischer Himmelskörper, der unter der Reibung der Atmosphäre zu einem Oval verglüht. Das dritte Bild zeigt einen Klotz mit einem schmelzenden „Ende“. Im weiteren Verlauf der Ausstellungen befinden sich dreieckige Formen wie Finnen eines Urzeitfischs oder eines walähnlichen Tiers. Das starke Licht lässt ein anderes Bild wie das Röntgenbild einer Wirbelsäule oder eines fossilen Skeletts erscheinen. Tritt man jedoch näher, verändert sich das Licht und stattdessen wird eine Handvoll Lehm mit Fingerabdrücken sichtbar, etwas, das mehr oder weniger bewusst entstand und geformt wurde.
Gedanken an die Entstehung der Welt und den Anfang allen Lebens geben den Bildern weitere Nuancen – wie Kreaturen, die aus der Feuchtigkeit aufsteigen, und schäumende Formen von Eis oder Eisbergen, die schmelzen. Auf einem der Bilder (ohne Titel) steigt ein namenloses Wesen aus einem Sumpf oder womöglich aus dem Meer empor. Die Lichtreflexionen animieren seine Bewegung, während wir uns davor bewegen. Die Bilder strömen so viel Licht aus, dass wir uns von einer Seite zur anderen bewegen, näher an die Leinwand rücken und uns wieder entfernen müssen, um die Motive zu sehen. Dabei stimmen wir unseren Rhythmus auf die visuelle Erfahrung und die Geschwindigkeit unserer Augen ab, welche die Oberfläche abscannen.
Es heißt, das Leben habe im Meer begonnen, wo Vulkane vor über 3,5 Milliarden Jahren auf dem Meeresboden organisches Material ausstießen, noch vor der Eiszeit und der Periode der „Schneeball-Erde“, als der gesamte Planet mit Eis bedeckt war. Cyanobakterien und einzelne Zellen und Proteinpartikel schwammen gefangen und eingefroren im Eis durch das Meer, bis bessere Zeiten anbrachen. Als das Eis schmolz, kamen sie ans Sonnenlicht und begannen Sauerstoff zu produzieren, was die Entwicklung von Pflanzen, und letztendlich auch von Tieren vor rund 550 Millionen Jahren ermöglichte. Ähnlich erstarrt wie Fossilien oder erste Zellen im Gletschereis erscheinen die Staubpartikel im Lack der weißen Bilder gefangen und verhüllt.
In der Ausstellung 3000K, die auf Whiteout folgte, werden die weißen Bilder von der Mitte der Galerie an den Rand gerückt, in der Mitte befinden sich jetzt metallische Wandzeichnungen. Hier, und im Titel, sind Hinweise auf die Momente kurz nach dem Urknall zu finden, als Licht und Materie sich trennten. Die Motive strahlen und breiten sich aus – Schwaden transparenten Lacks wurden über die Oberfläche in einer nach außen schwingenden Bewegung aufgetragen und lassen nur einen dünnen Film zurück. Die reflexiven Fähigkeiten der Leinwände sind dadurch schwächer und die direkte Umgebung ist stabilisiert. Die rostigen, metallischen Staubzeichnungen auf den weißen Wänden des Gebäudes sind das materielle Gegengewicht zu den flüchtigen Lichtreflexionen. Fotosynthetisierte Organismen erscheinen als dunkles Granulat auf eisweißen Gletschern. Sie wurden eine Zeit lang konserviert und eingefroren. Nun werden sie der Sonnenenergie ausgesetzt und beginnen sich zu verändern. Wir können immer noch so etwas wie Verschmutzung auf der Oberfläche moderner Gletscher erkennen, während diese in der Sonne schmelzen und Organismen hervorbringen.
Daniel Lergons Arbeit erlaubt nicht nur „sehen zu lassen, was sehen lässt“, sie zeigt auch, wie etwas ins Dasein kommt und sich wandelt, von einem Zustand zum anderen und umgekehrt. Das passiert genau hier, unabhängig davon, ob wir es sehen oder nicht.