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DOREEN MENDE
 

„EVIRONMENTAL EXPERIENCE"1

Glenn Gould.
Ausgehend von der Ausstellung „Ear Appeal", die ich 2006 in der Kunsthalle Exnergasse in Wien in Kooperation mit dem „Kunstradio"2 des ORF kuratierte, möchte ich im Folgenden weniger auf einzelne Arbeiten der Gruppenausstellung3 eingehen als vielmehr die Erweiterung des Ausstellungsraum ins Zentrum meines Vortrags stellen: Kann Radio-Technologie einen Präsentationsraum zur Verfügung stellen, der neue Ausstellungsstrategien aktiviert? An welche Bedingungen sind die Übertragung von Informationen und die Entstehung von Räumen außerhalb des kodierten Ausstellungsraums geknüpft? Hierbei interessiert mich eine Audio Culture, die Christoph Cox und Daniel Warner als „discourse" beschreiben, als „a loose collection of terms, concepts, and statements gathered from across the cultural field ..."4 Um die Komplexität von Audio Culture aufnehmen zu können, verwende ich den Terminus „Sound", der gegenüber den deutschen Alternativen den Vorteil hat, dass er als Überbegriff für Geräusch, Ton oder Klang sowohl im populären als auch künstlerischen Sprachgebrauch gleichermaßen verwendet wird. Vor diesem terminologischen Hintergrund thematisierte „Ear Appeal" Sound weniger als mediales Objekt - im Sinne von „Sound-Art" - sondern fragte, wie Sound Gesellschaft abbildet und wie Sound bürgerschaftliches Verhalten kontrolliert.

Radio
"Hello. Can you hear me? I'm talking to you. Whether you believe me or not. You shouldn't believe me. Because my voice is not here - or there. It's everywhere. You can't see me. (Pause) When my voice is audible you are listening to a strange materialization. As strange as the electro-magnetic invisibility of my voice. Perhaps ... perhaps the materialization is even stranger. You hear me, but I'm not here. I'm everywhere. And I am one, two, three, four, five ... I cannot count how many voices I am. Me, my voice. (Pause) I'm dispersed. My radio voice is not my voice. You know what I mean. But then, what are you listening to? My voice does not belong to me. My voice is not my private property. But at the same time it belongs to nobody. It can never be property."5 LIGNA, „The Future of Radio Art"

Elektromagnetische Wellen ermöglichen bekanntlich eine drahtlose Übertragung von Information. Im Sinne des Veröffentlichens, auf das ich später noch genauer eingehe, stellen sie ein immaterielles Displaypotential zur Verfügung, um Information zu multiplizieren, beweglich zu machen und räumlich zu zerstreuen. Im Gegensatz zum Ausstellungsraum, der das ausgestellte Objekt in direkte Verbindung mit dem Betrachter treten lässt, löst die Radioübertragung die direkte Verbindung zwischen dem Ort der Soundquelle und der -wahrnehmung auf. Ein Materie-freier Raum entsteht ohne Anfang und Ende im euklidischen Sinn. Mithilfe künstlicher elektromagnetischer Wellen entsteht ein unsichtbares Netz, das von Dis-Lokalität und permanenter Veränderung hinsichtlich seiner Ausbreitung geprägt ist. Wohnungen oder Autos können vorübergehend zu Präsentationsräumen von Informationen werden. Die Übertragung der Information in den Privatraum wird zum individuellen Erlebnis, das jedoch zentral gesteuert ist. Diese Orte der Zerstreuung, auf die der französische Wirtschafttheoretiker Jacques Attali mit Beschreibungen wie „a new network, a new economy, and a new politics"6 antworten würde, werden zu Räumen der Präsentation und der Öffentlichkeit. Per Ein-/Ausschalter am Radio hört der Privatraum hört auf, privat zu sein und wird zum öffentlichen Raum.

Wenn es um Fragen nach der Reproduktionsautorität von Information geht, wird Radio zu einem politischen Verbündeten: Wer überträgt was und wohin? Wie wird Information ausgewählt? Was für eine Öffentlichkeit wird erzeugt? Welche Verhältnisse zwischen Sender und Empfänger werden etabliert? Eine Industrialisierung dieser Vertriebstechnologie, wie sie für das Radio als Massen-Medium angewendet wird, stabilisiert politische Apparate und deren öffentlichen Repräsentation - eine Form der Repräsentation, die in der verinnerlichten Wahrnehmung erst ihre vollkommene Erfüllung findet. Attali stellt fest: „Possessing the means of recording (and broadcasting, Anm. D. M.) allows one to monitor noises, to maintain them, and to control their one's own noise and to silence others ... "7 Entsprechend fordert die Hamburger Künstler- und Theoretikergruppe LIGNA als politische Konsequenz des vervielfältigten, zerstreuten Raums eine Auflösung von Eigentumsrechten an Informationen unter kapital-ökonomischen Vertriebskriterien.

Die Radioübertragung ermöglicht sowohl die Erweiterung spezifischer Räume als auch die Markierung von Territorien, die im Moment des Empfangs definiert werden. So schreibt der kanadische Soundforscher und Komponist R. Murray Schafer: „The radio was the first sound wall, enclosing the individual with the familiar and excluding the enemy. In this sense it is related to the castle garden of the Middle Age which, with birds and fountains, contradicted the hostile environment of forest and wilderness. The radio has actually become the bird-song of modern life, the ‚natural' soundscape [...]" 8

Publikation
„L. Bollecker, in a 1935 article in the Revue Internationale de Radioélectricité, makes a distinction between radio broadcasting, which constists in transmitting waves though spaces, and recepetion, which consists in transforming those waves into sounds. In this view, only recepetion is representation, and it is generally private (it would only be public if the loudspeaker were the public). Radio broadcasting, for its part, would be a new form of publishing. An extraordinary fantasy of spatial writing, the marking of space. Bollecker, however, was not followed: since waves are not durable and are immaterial, radio broadcasting remained a form of representation."9 Jacques Attali: Noise: The Political Economy of Music

Die Präsentation im Ausstellungsraum produziert ähnlich einer Publikation Öffentlichkeit. Hierbei ist der Begriff „Display" hilfreich, der sich aus dem Lateinischen displicare („offen legen", „ausbreiten") ableitet und im Ausstellen darüber hinaus Raum aktiviert sowie Wahrnehmung beeinflusst.10 Sowohl die Auswahl des Kurators als auch die Art und Weise der Präsentation statten die Informationsübertragung innerhalb einer Ausstellung mit einem selektiven - meist optischen - Filter aus. Als Ausstellungsstandard hat sich im 20. Jahrhundert der so genannte „White Cube" herausgebildet. Die wiederholte Repräsentation von kulturellen Artefakten hat den White Cube zu einem rituellen Ort werden lassen. Dass er seit dem Ende der 1950er Jahre umfassend kritisiert, angeeignet, zerstört, zweckentfremdet, zum Material und zum Medium erklärt worden ist, hat ihn als Standard kaum geschwächt. Nur stichpunktartig sei auf die wichtigsten White-Cube-Attacken verwiesen: Ives Klein stellt im April 1958 in der Galerie Iris Clert mit „Le Vide" den Ausstellungsraum selbst aus und löst damit gehörig Unruhe aus; 1965 organisiert Willem de Ridder im Auftrag des Fluxus-Initiators George Maciunas das European Mailorder Warehouse in Form eines konzeptuellen Distributionssystems per Post (auch als Fluxshop bekannt); 1969 hängt Robert Barry die Textinformation „During the Exhibition the Gallery will be Closed" an die Tür der Art & Project Gallery in Amsterdam; Michael Asher gelingt 1970 durch einen einfachen architektonischen Eingriff in den Art Center des Pomona Colleges in Kalifornien die Thematisierung der Trennung zwischen Innen und Außen.

Derlei Befragungen von Präsentationsorten und deren Bedingungen haben im Bereich der Audio Culture nur bedingt stattgefunden. Eine Ausnahmeerscheinung ist jedoch der kanadische Pianist Glenn Gould. Er entschied sich 1964 im Alter von 32 Jahren, seine Karriere im Konzertsaal zu beenden, um sie ins Aufnahmestudio zu verlegen. Damit verzichtete er auf den originalen Augenblick der Aufführung, auf das durch die Raumordnung manifestierte (Macht-)Verhältnis zwischen Bühne und Auditorium, auf das gemeinsame Erleben von individueller Zeit in spezifischem Raum und schlussendlich auf den Applaus des Publikums. Im Aufnahmestudio produzierte er „contrapuntal radio" genannte Radiostücke, die zwischen Drama, Dokumentation und Musik changieren. Ähnlich der Collage-Technik von Pierre Schaeffer fügt Gould Stimmen und Töne zusammen, die sowohl die Rolle des Interpreten hin zum Editor/Kurator ändern als auch aus dem Zuhörer einen Interpreten machen. Glenn Gould war vor allem an veränderten Aufführungsbedingungen sowie -orten interessiert, die die neuen Aufnahme- wie auch Radiotechnologien zur Verfügung stellten: „The keyword here is ‚public'. Those experiments through which the listener encounters music electronically transmitted are not within the public domain. (...) the listener is able to indulge preferences and, through the electronic modifications with which he endows the listening experience, impose his own personality upon the work. As he does so, he transforms that work, and his relation to it, from an artistic to an evironmental experience."11 Gould spricht vom „participant listener", der in die Lage versetzt wird, am Radioapparat seine eigene Wahrnehmung zu finden, jenseits der Codes, die der Konzertsaal verlangt. Der Performer/Interpret gibt seine auktoriale Position auf und nimmt eine editorial role ein, indem er im Studio produziert und daraufhin das Gesendete dislokal empfangen wird. Der Terminus „Editorial" führt uns in Bereiche der Publizistik: Der Interpret (Pianist) als Editor einer Textur, die im Studio zusammengesetzt wird und über den Äther de-kontextualisiert und de-materialisiert vertrieben wird. So wird er zum Kurator und das Radio zur Präsentationsmaschine seiner Arbeit.

Coda
Kann also die Radio-Technologie einen Präsentationsraum zur Verfügung stellen, der neue Ausstellungsstrategien aktiviert? Radio erweitert den Ausstellungsraum; es hebt Trennungen zwischen Innen und Außen auf. Jedoch bedarf es einer genaueren Untersuchung, was bei dieser Aufhebung entsteht. Radio kann museale Rezeptionsstandards unterlaufen, denn außerhalb des institutionalisierten Ausstellungsraums sind Orte des Privaten und Alltäglichen durch heterogene kulturelle Verhaltenscodes gekennzeichnet. Die Radioübertragung erfolgt räumlich zerstreut. Radio ist nicht an soziale Schichten gebunden. Es wird als tägliche Bezugsquelle der Berichterstattung eingesetzt, als Unterhaltungsapparat, aber auch als Institution, die Raum bzw. Territorien markiert. Radio ist in diesem Sinne auch ein politischer Apparat, indem er Öffentlichkeit erzeugt sowie steuert und Informationsübertragung kontrolliert.

Radio ist eine Form des Publizierens: Informationen werden gezielt ausgewählt, um sie zu veröffentlichen. Radio schafft Individualität - ein Schlagwort unserer Optimierungsgesellschaft - wie auch Gemeinschaft. Es editiert und kodifiziert unser kulturelles und gesellschaftliches Leben. Bezogen auf das Ausstellungsdesign verlangen diese heterogenen und gesellschaftskonstituierenden Kontexte des Radios eine Praxis, die zwischen Öffentlichkeiten vermitteln kann und die vielseitigen Anwendungen unterscheidet. Damit werden Ausstellungsstrategien relevant, die ihre unterschiedlichen institutionellen Kodifizierungen kritisch und situationsbezogen befragen. Es brauchte mehrere 100 Jahre, um den Bilderrahmen als Repräsentationsmodul zu thematisieren und in Frage zu stellen. Mit dem Ausstellungsformat Radio stehen wir offenkundig noch am Anfang einer emanzipatorischen Entwicklung, die den spezifischen Kontext des Präsentationsraums als einen situationsbezogen kodifizierten Ort in ihre Untersuchungen einbezieht.

1 G. Gould, The Prospects of Recording, 1966/1984.
2 Heidi Grundmann gründete vor 20 Jahren den Ö1-Programm-Slot „Kunstradio" (ORF, Wien). Seit Mitte der 90er Jahre ist das „Kunstradio" online und als Internet-Stream zugänglich. Seitdem entsteht ein umfassendes Archiv von künstlerischen Arbeiten, die Radiotechnologie nutzen sowie thematisieren (www.kunstradio.at).
3 Vgl. hierzu Doreen Mende‚ Radio as Exhibition Space, in: Heidi Grundmann, Elisabeth Zimmermann, Reinhard Braun, Dieter Daniels, Andreas Hirsch, Anne Thurmann-Jajes (Hg.), Re-Inventing Radio, 2008.
4 Christoph Cox, Daniel Warner (Hg.): Audio Culture. Readings in Modern Music, 2004, XIII.
5 LIGNA (Ole Frahm, Michael Hüners, Torsten Michaelsen): „The Future of Radio Art", Radio Copernicus, 2005, Stimme: Anna Stern, 5.17 Min.
6 Jacques Attali: Noise: The Political Economy of Music, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1985, S. 89.
7 Attali, Noise, a.a.O., S. 87.
8 R. M. Schafer, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tunning of the World, 1977, S. 93.
9 Attali, Noise, a.a.O., S. 99.
10 Zum Begriff „Display" siehe auch Heiner Mühlmann, „Vorwort", in: Stephan Trüby: Exit-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden, Wien/New York: Springer, 2008.
11 G. Gould, The Prospects of Recording, in: Audio Culture, S. 122.

In: Stephan Trüby (Hg.): Hertzianismus: Elektromagnetismus in Architektur, Design und Kunst, 2009.