"PERSONAL CINEMA IS MADE WHEN EVERYTHING GOES WRONG ... " 1
Cinema Is Power, 1985, still.
From My Window (1978 – 1999), 2000, still.
Im Folgenden möchte ich From My Window als Skript verwenden, um die für mich fesselnden (intriguing) Aspekte von Robakowskis Beobachtung und Kommentierung von Welt genauer heraus zu arbeiten. Das Video-Werk Robakowskis ist gekennzeichnet von entschiedener Präzision und poetischer Leichtigkeit, bestimmte Bilder und Situationen vor allem des Alltäglichen auszuwählen, ohne modischen oder ästhetischen Codes zu folgen. Der medialen Konkretion liegt eine klare Konzeption zugrunde: die filmische Zeit seiner Werke bemisst sich oft an zeitgebundenen Abläufen des wirklichen Lebens. Acoustic Apple (1994/95) ist dafür ein anschauliches Beispiel, denn die filmische Erzählung wird auf der Basis eines akustisch verstärkten Schälens und Verspeisens eines Apfels zeitlich wie auch inhaltlich fixiert. Robakowski selbst und der Apfel sind die Protagonisten, wobei der Apfel im Laufe von drei Minuten unsichtbar wird, da er dem (filmischen wie metabolistischen) Appetit Robakowskis zum Opfer fällt. Durch die visuelle und auditive Fokussierung auf dieses sehr alltägliche Ereignis entsteht eine Art Konzentrationsübung, die das Eindringen in die Realität dieses Geschehens mit all ihren Details möglich macht.
Mit ähnlich starker Konzentration, diesmal in einem visuell lokalisierten Zusammenhang, geht Robakowski auch in From My Window vor: Eine Vielzahl flüchtiger Momenten des Alltags werden durch selektive Beobachtung, hörbare Kommentierung und kaum sichtbaren Schnitt zueinander gefügt. Sound bzw. das gesprochene Wort spielen für Robakowski bei der Präzision des Visuellen eine entscheidende Rolle. Nicht zur Illustration, sondern zur Erweiterung der Wahrnehmung lässt die Tonspur den Filmraum wie eine Geschichte im Moment des Berichtens Wirklichkeit werden.
Meine Affinität zur politischen Dimension Robakowskis Filmrealitäten mag vielleicht auch darin begründet liegen, dass ich den tiefgreifenden Wandel von einem sozialistischen zu einem kapitalistischen Gesellschaftssystem in Ostdeutschland als eine extraordinäre Alltäglichkeit erfahren habe. Tägliche Berichterstattung in den Nachrichten hatte direkte Auswirkungen auf meine Existenz. Das Politische und das Persönliche erlebe ich seitdem als eine unmittelbar zusammenhängende Struktur. Jedoch, und das lässt mir die Arbeit Robakowskis so vertraut werden, geht es grundsätzlich um die Entdeckung des Alltäglichen als Potential für Aktivität. Diese flüchtigen Momente der auswählenden Beobachtung und seine Manifestationen finden sich in From My Window wieder, wenn das Politische zum Persönlichen wird, indem der politische Wandel in Paraden und Architekturen sichtbar wird.
In einem Text2 von 1981 spricht Robakowski über das Personal Cinema. Es ist nichts Neues, dass wir den fotografischen oder filmischen Abbildungen von der sichtbaren Welt nicht trauen können, nicht erst seit dem Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit. Robakowski aber geht es um mehr: um die Produktion von Realität durch das Bild. In vielen Arbeiten von Robakowski findet auf der Bild- sowie auf der Tonspur eine Überlagerung der faktischen und der medialen Realität statt. Die physische Projektionsfläche in Form von Leinwand oder Monitor wird zum Interface zwischen Fiktion und Realität. Robakowski beschreibt das so: "Finally, also take it into consideration that your memory often becomes the memory of those watching YOUR films."
LE MOMENT DÉCISIF
Eine Frau geht mit einem Kinderwagen auf einem betonierten Platz. Sie hat die Geschwindigkeit ihres Schrittes an ein kleines Kind angepasst, das in heller Mütze, Jacke und dunkler Hose den Kinderwagen schiebt. Die dunkelhaarige Frau in Rock und Mantel hält inne, steht mit dem Rücken zur Kamera. Der Wind zerzaust ihre langen Haare. Hinzu kommt ein Junge, der mit dem Ball von links ins Bild dribbelt. Er läuft auf einen umher liegenden Stein im Zentrum des Bildes zu. Der Stein scheint wie für ihn gemacht: nicht hoch, aber mit gleichmäßiger Oberfläche und Körper bietet er ausreichend Platz, um den Jungen zu tragen. Er stellt sich auf den Stein und steht darauf wie auf einem Sockel. Man sieht den dunkel gekleideten und dunkelhaarigen Jungen jetzt gut von der Seite. Für einen Moment wird er zu einer unbeweglichen Figur, wie eine Statue. Er hält den Ball ruhend vor seinem Bauch. Sein Blick geht geradeaus. Er bewegt sich nicht als hätte er genau auf diesen Augenblick gewartet. Das Bild, der Moment, scheint still zu stehen. - Meine Beschreibung gibt hier eine sekundenkurze Sequenz aus From My Window wieder. Die Aktivität des Jungen wird von der kommentierenden Stimme nicht ausführlich erwähnt. Mein Blick blieb zunächst an der schnellen Bewegung und am Moment des stillen Bildes, als die Figur zur Statue wird, hängen. Ich beginne, aus der medialen Realität entscheidende Augenblicke auszuwählen.
Der französische Fotograf Henri-Cartier Bresson, der seit den 30er Jahren auch Filme realisierte, führt 1952 in einem Aufsatz über die Kunst der Fotografie den Begriff Le Moment Décisif ein. Er schreibt dazu: "Die Wirklichkeit bietet sich in einer solchen Überfülle dar, dass man nur hinzugreifen braucht, um vereinfachend und sichtend etwas herauszuholen."3 Es ist sicherlich ein gewagtes Unterfangen, eine mediale Wirklichkeit mit der realen und vergänglichen Wirklichkeit, von der Bresson gesprochen hat, hier gleichzusetzen. Im weiteren Verlauf des Textes werde ich darauf noch genauer eingehen. Mir geht es an dieser Stelle jedoch zunächst um die Produktion von Sichtbarkeit: Welche punktuellen Erscheinungen und bildkompositorischen Konstellationen lassen meine Wahrnehmung schärfen? Wann wähle ich sichtbar gewordene Bruchstücke eines Moments für die Erinnerung aus? Bressons Begriff Le Moment Décisif markiert hier als Wort-Werkzeug und als Seh-Praxis einen Referenzrahmen sowohl aus der Perspektive des Künstlers als auch der des Betrachters. Die fotografischen Aufnahmen Bressons zeugen von einer Akzeptanz des Alltäglichen als künstlerische Bildproduktion. Der entscheidende Augenblick, schreibt Henri-Cartier Bresson weiter, entsteht in der "Wahrnehmung der Dinge, so wie sie sind ... ". Auf andere Weise, durch andere technische Apparaturen mit denen Zeitlichkeit artikuliert werden kann, sprechen auch Robakowskis Video-Arbeiten von einer Leidenschaft für die Entdeckung des Entscheidenden im Alltäglichen mit den Mitteln des Videos und des Films. From My Window kann als "optische Chronik" (Bresson) des Platzes vor seinem Wohnblock bezeichnet werden. Ob die Frau mit dem Kinderwagen, der Junge mit dem Ball, der Elektriker vor seinem Auto, der zur Arbeit hastende Nachbar - es sind Momente, die als Alltäglichkeit erkennbar sind und Nicht-Geschichte schreiben. Geschichte, die in einem kulturellen Gedächtnis zwar diffus verankert ist, aber in keinem Geschichtsbuch als Ereignis erzählt wird. Diese Geschichte gewinnt erst in der selektiven und medial festgehaltenen Beobachtung an Bedeutung, die für den Beobachter vielleicht sogar gegenwärtiger ist als für den, der beobachtet wird. Wie ein Informant berichtet der Ich-Erzähler über die Tätigkeiten und Adressen der vorbeilaufenden Personen, die in der medialen Realität, auf der Leinwand, zu Charakteren werden.
Samochodoy, Samochody! (Cars, Cars!), eine der Video-Stücke aus Cykl: Cwiczenia dla video (Video-Übungen, 1985), scheint vom ähnlichen Standpunkt den Blick aus dem Fenster wiedergegeben zu sein wie in From My Window. Diesmal in Farbe und mit Fokus auf eine Strasse, folgt in Samochodoy, Samochody! die Kamera den polyphonen Bewegungen des Straßenverkehrs: "Autos! Autos! ... Die Autos fahren ... Leute. Die Leute laufen!" etc. Die sprachliche Kennzeichnung der Akteure - Autos, Fußgänger, Straßenbahnen - scheint die bewegten Video-Bilder von der Straßenszene zu bestätigen. Oder folgen die bewegten Bilder dem Rhythmus der sprachlichen Anweisung aus dem Off? Die sprachliche Ebene in Samochodoy, Samochody!, ähnlich wie auch in der jüngsten Video-Arbeit Rozmyslania przy lizaniu (Kontemplation beim Lecken, 2007), legt sich wie ein sprachliches Wahrnehmungsraster über die Bilder. Ohne interpretatorische Züge wird die "Wahrnehmung der Dinge, so wie sie sind ..." kommentiert.
Kommen wir zurück auf die oben beschriebene Szene: Die Frau, das Kind und der Junge sind in einer Situation dargestellt, wie sie sich täglich unzählige Male ereignen, aber in dieser spezifischen Konstellation singulär ist. From My Window stellt dem Betrachter eine Art Modell zur Verfügung, das Wahrnehmung für Alltäglichkeit schärft und Raum-Zeit produziert, um eigene Kriterien fest zu legen. Die Kommentare des Erzählers wirken dabei wie ein Skript, das die entscheidenden Momente aus der Perspektive des Erzählers sprachlich-skizzenhaft fixiert: wie in einer Karte werden im Laufe von 20 Jahren die flüchtigen gleichberechtigt neben den statischen Gegebenheiten eingetragen.
DAS POLITISCHE IST PERSÖNLICH
Es ist ein wunderbarer Moment mit feinem Humor, wenn die Stimme aus dem Off folgende Szenen der Mai-Demonstrationen kommentiert: "Mayday, 1979. My neighbour Karol Ptys ́ knows that I'm making a film. He asked me to shoot him when he is marching in the parade with his fellow workers from the factory. He is in the very center of the frame now, I can see him. He is waving to me with his ballon. A friendly gesture. Mr. Ptys ́ will be glad that I shoot him. (...) It's 1983. I want to end my film but I decide to wait for the next Mayday. It's about a quarter to ten in the morning. This must be the parade's security. Or the first participants. No, it's security. But where is the Mayday-parade? Ah, there they are. Altough something hast changed. They used to march from right to the left. And now they switched from the left to the right. But this doesn't really mean anything."
Der Nachbar möchte gern gefilmt werden. Jedoch ist für den fremden viewer diese Person im Bild nicht zu finden, die dem Filmer mit einem Ballon zuwinkt, da noch viel mehr Menschen einen Ballon in der erhobenen Hand tragen. Konkrete und real-politische Strukturen manifestieren sich in der Formation einer Menschengruppe sowie in der Aktivierung/Nutzung der Strasse als öffentlicher Raum. Die gefilmte Bewegung der Mai-Parade schreibt sich sichtbar in den öffentlichen Raum ein. Die Änderungen der Marsch-Bewegung löst Irritationen aus. Robakowski nimmt als filmender Beobachter an der Demonstration teil. Im Gegensatz zu seinem Nachbar, der als Mai-Demonstrant sich den politischen Apparaten auf der Strasse unmittelbar aussetzt und durch polizeiliche Ordnung jederzeit zur Disziplin aufgerufen (to interpellate) werden kann, geht der Beobachter am Fenster über den Nachbarn eine stille Beziehung mit der Demonstration ein und entzieht sich zugleich der direkten politischen Disziplinierung und Normierung. Wann eigentlich entsteht das Politische? Und worin ist das Politische persönlich, wie dieser Textabschnitt behauptet? From My Window artikuliert von Beginn an die persönliche Dimension des Filmers selbst, indem der Erzähler aus der Ich-Perspektive des Künstlers über die Ereignisse auf dem Platz vor seinem Wohnblock spricht. Das Persönliche wird Teil der künstlerischen Praxis und Arbeit. Robakowski Traktat Personal Cinema, dessen Inhalt mit seinen Filmen wie From My Window, Sztuka to potega! (Art Is Power!), Kino to potega! (Movies are Power!) or Zabawy Polakow (Plays of Poles) in Verbindung bringt, unterstützt diese Übertragung: "Personal Cinema - that is to say, a direct projection of the film-maker's thoughts. Having freed itself from fashions and asthetic rules, as well as from established languages codes, it comes closer to the film-maker's own life."
Ich möchte die spezifischen Ordnungssysteme dieser komplexen Verknüpfungen von Politisch und Persönlich vor dem Hintergrund jüngerer Ausführungen über Politik und Kunst von Jacques Rancières beleuchten. In Le Partage du sensible. Estétique et politique.4 stellt Rancière "Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien" auf die Basis einer ästhetischen Unterteilung von Raum und Zeit. Über das Ästhetische sagt Ranciére: "Ästhetik ist weder eine allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die die Kunst durch ihre Wirkung auf die Sinne definiert, sondern eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst. " Es ist mir nicht möglich, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein noch die Zeitlichkeit so zu erleben, wie es mein Nachbar tut. Die Wahrnehmung des Sichtbaren und Sagbaren muss einer Aufteilung von Räumen, Zeiten und Tätigkeiten unterliegen. Das umfasst die Gesamtheit einer gemeinsamen (rationalen) Existenz durch fragmentierte und de-zentralisierte Wahrnehmungen. Die spezifische Aktivierung eines bestimmten Orts, einer bestimmten Zeit und Tätigkeit artikuliert den signifikanten Sinneseindruck. Eben dort genau, in diesem Spannungsverhältnis aus Teilnehmen und Fernbleiben, siedelt Rancière eine Politik im Dissens an. Ranciére: „Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Sie definiert die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit ..." Dissens entsteht durch Konfrontation zwischen hierarchischer Ordnung und neuen/gegensätzlichen Einteilungen von Sichtbarkeit oder Sagbarem. In dieser relationalen und antagonistischen Auseinandersetzung über Sichtbarkeit entsteht das Politische, das gleichzeitig persönlich ist, denn die Person wird hier als Subjekt innerhalb der Gesellschaft konstituiert. Folgt man dieser These, lassen weniger die dokumentarischen oder interventionistischen künstlerischen Strategien real-politische Inhalte wahrnehmbar werden, sondern formulieren jene künstlerischen Tätigkeitsformen eine Differenzierung der Sinne, die einer spezifischen Ordnung der Identifizierung der Zusammenhänge zwischen ICH und WIR nachgehen. Gehen wir zurück zu dem Moment wo der Nachbar dem Filmer zuwinkt: obwohl sich faktisch und rational betrachtet Nachbar und Filmer an einem Ort und in einer Zeit befinden, demonstrieren der Nachbar auf der Strasse im öffentlichen Raum und der Künstler am Fenster seiner eigenen Wohnung die Aufteilung von Raum, Zeit und Tätigkeit. Es geht sogar noch einen Schritt weiter: da der Nachbar gefilmt werden will, befindet er sich mit seinem Bewusstsein am Ort des Filmers und Robakowski durch sein verlängertes (Kamera-)Auge auf der Strasse.
From My Window ermöglicht dem Betrachter wiederum, in der Einfachheit der Erzählung politische Inhalte zu erspüren, ohne dass explizit oder didaktisch real-politische Fakten eingeführt werden müssen. Die gesellschafts-politische "Wende", die durch die polnische Solidarnoc ausgelöst wurde und die ökonomische und politische Strukturen des gesamten Ostblocks auflöste, wird in From My Window als Lauf der Geschichte, als eine alltägliche Station des Lebens wahrgenommen, die letztlich mit sichtbaren Spuren im Stadtbild durch den Bau eines Luxus-Hotels auf dem Platz vor dem Fenster den Blick beenden lässt. Die Hochhaus-Architektur des Hotelneubaus verhindert den Blick auf den Platz. Mit diesem architektonischen Eingriff findet auch das Film-Vorhaben ein Ende. Hier wirken unterschiedliche politische Entscheidungen ganz unmittelbar auf persönliches Leben und künstlerisches Werk ein.
FIKTION -- REALITÄT
"My name is Józef Robakowski. I live in a tower block at 19 Mickiewicza street, on the 9th floor. I have been filming the great square of concrete under my window since 1978 (...) The white Renault is driven by Mal ́gosia, my wife, who has just walked our doughter Matylda to the kindergarden." Diese Worte sind am Anfang des Videos zu hören. Haben wir es eigentlich überhaupt mit Robakowskis Blick aus seiner Wohnung zu tun? Ist es tatsächlich seine Frau, die im weißen Auto mit hellem Mantel zum Einkaufen fährt, nachdem sie die gemeinsame Tochter in den Kindergarten gebracht hat? In allen kommentierten Ereignissen auf dem Platz vor dem Fenster ist die Gleichzeitigkeit von Fiktion und Realität zu finden. Eine unterschiedliche und besser werdende Bildqualität lässt zumindest eine Aufnahme über einen längeren Zeitraum annehmen. Allein das zeitliche Ausmaß betreffend macht From My Window zu einer außergewöhnlichen Videoarbeit. Wie La/Lu (1985), Idle Line (1993) oder Accoustic Apple (1994/95) sind die meisten Filmarbeiten, die ich als Konzept-Studien bezeichnen würde, oft nicht länger als vier Minuten. Zwanzig Jahre destilliert in zwanzig Minuten. From My Window könnte die textliche Vorlage für ein Theaterstück von Peter Handke sein, denn die Narration besteht aus verdichteten Momenten wie in dem Schauspiel Die Stunde da wir nichts voneinander wussten (1992) für "Ein Dutzend Schauspieler und Liebhaber"5: der Ort der Handlung ist wie bei From My Window ein öffentlicher Platz. Ausführliche und präzise Regieanweisungen sind einzige Orientierungspunkte für die Aufführung zahlreicher absurd-alltäglicher Ereignisse, die von den Schauspielern ohne Worte aufgeführt werden. Auf der Bühne ist ein Kommen und Gehen. Die Handlung fügt sich aus fragmentierten Situationen zusammen, ohne dass auch nur ein Wort im Theaterraum gesprochen wird. Die Realität des Platzes vor Robakowskis Wohnblock ist "the hero of this film along with his events and my neighbours"6 und ist das visuelle Skript für die Kommentare aus dem Off. Hier ist es vor allem das gesprochene Wort, das Zweifel an der Echtheit der dokumentarisch anmutenden schwarz-weiß Bilder aufkommen lässt.
In Politik der Bilder schreibt Jacques Rancière: "Die Bilder der Kunst sind Operationen, die eine Abweichung hervorrufen, eine Unähnlichkeit. Worte beschreiben das, was das Auge sehen könnte, oder bringen etwas zum Ausdruck, was das Auge nie sehen wird, Worte beleuchten oder verdunkeln absichtlich eine Idee."7 Die "Veränderung der Ähnlichkeit" wie Rancière "das Spiel der Operationen" an anderer Stelle beschreibt, halte ich für eine treffende Formulierung, um die Gleichzeitigkeit von Fiktion und Realität bei From My Window zu verstehen. Letztlich ist es nicht entscheidend, ob wir es mit wahren Fakten oder einer erfundenen Realität zu tun haben. Auf dem Screen wird die Realität sichtbar, die durch die spezifische Konstellation aus Ort und Zeit existiert: "By its very existence, it is already a fact, altough it needn't relate at all to the facts of life."8, so Robakowski in Personal Cinema. Entscheidend ist unsere Beziehung zu den Bildern, die wir sehen, und die Beziehung zwischen den Bildern selbst. Das Bild wird zu einem zu entziffernden und zu erklärenden Material, das im Eintauchen in die "film-maker's thoughts" im Laufe der Betrachtung zur Gewissheit wird. Die Operationen, mit denen Rancière die Bilder der Kunst beschreibt, markieren Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und der Bedeutung, zwischen Erwartung und ihrer Erfüllung oder Enttäuschung, zwischen Wort und Wirkung, zwischen Geschichte und Fragment.
Das Bild ist nicht Bild, sondern es geht über das Bild in Ambivalenzen hinein: die konzeptuelle Struktur von From My Window - zwanzig Jahre in zwanzig Minuten - führt eine Fragmentierung von (medialer und realer) Realität ein, die in den Operationen sowohl Sinn bildet als auch Sinn zerstört. Denn einerseits schreiben sich faktische Ereignisse in den Bewegungen der Personen und in die Architektur des Platzes ein, andererseits werden wir durch das Bild mit einer reinen Anschauung konfrontiert. Das sichtbare Objekt selbst ist narrationslos. Diese hier dargestellten Operationen "entspringen nicht den Eigenschaften des Kinos", argumentiert Rancière. Die Besonderheit des Aufführungsortes, die spezifische Raum-Zeit, erzeugt verschiedene Wahrnehmungen und Kontextualisierungen. Eine Kunst-Institution beispielsweise, die mit diskursiven Reflektionsebenen operiert, erlaubt ein Bewusstsein über das Andere - das, was außerhalb des Bildes liegt. Durch verschiedene Performanzen entsteht somit eine "Alterität der Bilder". " ... wenn es das Andere des Bildes nicht mehr gibt, verliert der Begriff des Bildes selber seinen Inhalt, gibt es also kein Bild mehr."9 Oder mit Robakowskis Worten aus Personal Cinema: "Let's film EVERYTHING and it will turn out that we are forever on the screen: his posture resembles yours, yet his character and personality differ."
1 J. Robakowski: Personal Cinema. In: Jet Gallery (Ed.), Was Wäre Wenn #2, Berlin, 2007
2 a.a.O.
3 H.-C. Bresson: Der entscheidenden Augenblick. In: Meisterwerke, München, 2004
4 J. Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin, 2006
5 P. Handke: Die Stunde da wir nichts voneinander wussten, Frankfurt, 2002
6 Transkription des Kommentars aus From My Window.
7 J. Ranciére: Politik der Bilder, Berlin, 2005
8 Aus: From My Window
9 a.a.O.
Veröffentlicht auf Englisch und Polnisch in: Museum Sztuki (Ed.): Mirage of Józef R., Lodz 2007, pp. 29–39.