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ELLEN BLUMENSTEIN
 

DENKEN IM AFFEKT. WARUM DIE ZEITGENÖSSISCHE KUNST EIN GUTER ORT FÜR WUNDER IST



Ein Kommentar in der Süddeutschen Zeitung, der sich mit der aktuellen Konjunktur des Wunders in Technik und Natur beschäftigt, stellte neulich wenig überraschend fest, dass je rationalistischer die Epoche sei, desto empfänglicher der Mensch für das Wunderbare. Man könnte auch sagen: Da die Grenzen der säkularisierten Welt, in der wir leben, so deutlich definiert und bewacht sind, verweist die Lust am Wunder auf das Bedürfnis, diese Grenzbereiche aufzusuchen und einen Blick über sie hinaus zu wagen.
Wenn wir heute von Wundern sprechen, stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Das Erbe des antiken Verständnisses, demzufolge das Wunder einfach ein unvorhersehbares Ereignis oder Phänomen bezeichnet, erlaubt es, Wunder metaphorisch zu verstehen, vor allem in Wissenschaft, Technik und Natur, aber auch bei zufälligen oder als schicksalhaft empfundenen Begebenheiten. Das Wunder in seiner christlich-religiösen Tradition ist dagegen komplexer angelegt und stellt eine Öffnung in der Wirklichkeit her, die den Einzelnen seines Glaubens (seiner Verortung in der Welt) und die christliche Gemeinschaft ihrer Zusammengehörigkeit versichert. Mit dem Verschwinden des Glaubens aus unserem Alltag ist uns die Selbstverständlichkeit für jene Erfahrungen verloren gegangen, die sich auf ein Jenseits des Erklär- und Verstehbaren hin öffnen; seither sind andere Strategien, uns in der Welt zu verankern und Gemeinschaft herzustellen, in der Vordergrund gerückt. Dieser Text richtet sein Interesse auf jene Strategien, die sich diesen Rändern des Rationalen vermittels Wahrnehmung und Empfindung nähern. Er möchte das Potenzial der Kunst aufzeigen, einem solchen ‚affektiven‘ Denken Ausdruck zu verleihen und es als Möglichkeitsraum zum Erproben eines anderen Weltbezugs zu begreifen.
Historisch ist das Wunder aufs Engste mit der Geschichte des Christentums und dessen Bildtradition verknüpft, die sich grundlegend von der anderer Religionen unterscheidet. Während im weitgehend bilderlosen Judentum das geschriebene Gesetz dem Einzelnen einen festen Platz im Leben und in der Gemeinschaft zuweist und die hellenistisch-polytheistischen Kulte vielfältigste Bilder je nach Erfordernis verehrten, entwickelte sich im Abendland das „echte Bild“ zu einer wichtigen Rückversicherungsinstanz des zweifelnden Gläubigen und damit auch zum Machtinstrument der Kirche. Das frühe Christentum benutzte das ‚von Gott gemachte‘ Acheiropoíeton, um die Wunderkräfte Jesu nach dessen Tod auf das Bild (die Ikone, das Grabtuch, die Reliquie) zu übertragen. Das Bild wurde zum bevorzugten Medium des Wunders, das es sowohl ermöglichte (indem durch Berührung Kraft auf den Gläubigen übertragen wurde) wie auch sichtbar und kommunikabel machte. Das von der Kirche sanktionierte Wunder wurde im Gegenzug zum Unterscheidungsmerkmal zwischen ‚echten‘ und ‚Trugbildern‘.
In der Neuzeit löste sich das Bild zunehmend aus dem rein religiösen Begründungszusammenhang, und die Kirche verlor die Kontrolle darüber, was die Bilder darstellten und wie sie rezipiert wurden. Entsprechend verloren Wunder nach und nach an gesellschaftspolitischer Bedeutung.
Der grundsätzliche Anspruch an das Bild aber, die Wahrheit beziehungsweise die Realität zu repräsentieren, gilt bis heute. Zwar hat sich damit die Position des Bildes in seiner Funktion als Mittler zwischen den Welten (der diesseitigen und der jenseitigen) deutlich hin zur diesseitigen verlagert, und Wunder findet der aufgeklärte Abendländer eher auf der Seite unerklärlicher technischer oder wissenschaftlicher Neuerungen denn als religiöse Erfahrung. Aber dass es so etwas wie ‚Wahrheit‘ überhaupt geben kann, dafür braucht es implizit noch immer die Referenz auf eine ‚andere‘ Seite.
Unser Glaube an die Aussagekraft des Bildes ist ungebrochen, auch wenn dessen Bedeutungsgehalte sich verlagert haben und vielfältig sind; wir können dem Bild nicht entkommen. Alles Wissen, alle Sehnsüchte und Vorstellungen, jede Konvention ist bereits ins Bild gesetzt und Teil der globalen Verwertungsökonomie (was nicht nahelegen soll, dass Bilder jemals nicht ökonomischen Interessen gedient hätten). Dinge, die nicht im Bild repräsentiert werden können, existieren nicht im öffentlichen Bewusstsein. In der Regel ist unser Leben so mit den Bildern verwoben, die uns umgeben, dass wir unser Verhältnis zu ihnen nicht in Frage stellen. Wir nehmen sie nur in Situationen bewusst wahr, in denen unser Glaube erschüttert wird, wenn also Zweifel daran aufkommen, ob ein Bild ‚echt‘, der angemessene Ausdruck für einen bestimmten Sachverhalt, zur rechten Zeit am rechten Ort sichtbar ist. Dann wird das ‚verräterische‘ Objekt aus dem Verkehr gezogen und/oder korrigiert, und die Ordnung ist, hoffentlich, wieder hergestellt.
Gerade dieser Moment der Verunsicherung aber rückt in der Kunst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Werke zeitgenössischer Kunst schärfen unseren Blick dafür, was wir im Alltag nicht wahrnehmen oder empfinden können, dürfen oder wollen, und wofür die Zeit, die Aufmerksamkeit, der Platz fehlt. Unser christlich geprägtes, auf (Nächsten-)Liebe und Glauben basierendes Weltbild hat Raum für den Zweifel, für die Frage, für Interpretation geschaffen, innerhalb dessen Wahrheiten nicht mehr durch das Gesetz verbürgt sind, sondern je neu sichergestellt werden müssen. Kunst hat sich als ein Bereich etabliert, in dem die damit verbundenen Unsicherheiten, Brüche, Fragen verhandelt werden können. Damit nimmt sie den Zweifel notwendig in ihr Feld mit auf, jedoch nicht, um den Glauben an das Wunder infrage zu stellen, sondern vielmehr, um unserer allgegenwärtigen Fixierung auf Logik und Ratio etwas an die Seite oder entgegen zu stellen. Kunst besetzt genau jene Lücke, aus der das Wunder sich als Bindemittel zurückgezogen hat. Damit adressiert sie unvermeidlich auch unser eigenes Verhältnis zum Bild und zur Wirklichkeit. Die Selbstverständlichkeit und der Bezugsrahmen des Bildes werden hier bewusst hinterfragt, wie auch der Automatismus, mit dem wir in der Regel das Bild zum Repräsentanten der Realität machen, obwohl es sie doch zugleich herstellt und sichtbar macht. Kunst merzt Irritationen nicht aus, sondern nimmt sie zum Anlass und Ausgangspunkt künstlerischer Befragung der Realität. Sie löst Bilder aus ihrem alltäglichen Kontext heraus und sensibilisiert uns für deren Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster, um anschließend visuellen Reiz und Bedeutungsgehalt neu zu verzahnen und einen Raum zu erschließen, von dem aus wir die Welt anders als gewohnt wahrnehmen und erleben können. Sie lenkt unseren Blick, fokussiert Situationen, die Bekanntes zeigen, aber im Bekannten das Fremde aufdecken. Sie kann negieren, ignorieren, unterbrechen, Gewissheiten außer Kraft setzen, Fragen aufwerfen, mit den Möglichkeiten der Wahrnehmung spielen. Sie greift nicht unmittelbar in gesellschaftliche Zusammenhänge ein, aber sie kann unseren Blick auf die Welt verschieben, verändern, umkehren – öffnen.
Kunst führt uns an eben jene Grenzen des Erfahrbaren, die wir auch im Wunder suchen. Während der Mensch sich von der Unerklärbarkeit des Wunders allerdings Sicherheit und Halt wünscht, das Wunder also Unsicherheit nehmen soll, indem es eine ordnende Transzendenz suggeriert, setzt Kunst sich selbst und uns der Unsicherheit aus. Das Kunstwerk verharrt in diesem ‚Dazwischen‘, und die Begegnung mit ihm ermöglicht eine spezifische Form der Auseinandersetzung, die von Philosophen wie Gilles Deleuze, Félix Guattari und Maurice Merleau-Ponty als das Denken der Kunst bezeichnet wird.

Endliches durchlaufen, um das Unendliche wiederzufinden
In ihrem Buch Was ist Philosophie? unterscheiden Deleuze/Guattari drei Formen des Denkens: Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Diese drei Bereiche ziehen auf je eigene Weise Ebenen in das universale Chaos ein, die es erlauben, sich auf die Welt zu beziehen und mit ihr umzugehen. Während Philosophie Welt erfindet und hierfür Begriffe schafft, beschreibt Wissenschaft Welt mittels eines Koordinatensystems, innerhalb dessen Aussagen über die Realität getroffen werden können. Kunst dagegen bewahrt, indem sie Empfindungen aus dem je spezifischen Zusammenhang löst und ihnen so über das Individuelle hinaus Gültigkeit verschafft. Auf diese Art komponieren Künstler Welt, und die Kunst denkt durch Empfindungen: „Es ist eine Kompositionsebene, auf der die Empfindung sich bildet (...). Die Empfindung ist reine Kontemplation (...). Betrachtung, Kontemplation, das heißt erschaffen, ein Mysterium der passiven Schöpfung, Empfindung. Die Empfindung füllt die Kompositionsebene aus, füllt sich mit sich selbst aus, indem sie sich mit dem füllt, was sie betrachtet: sie ist ‚enjoyment‘ und ‚self-enjoyment‘. Sie ist ein Subjektum oder vielmehr ein Injektum.“
Als Phänomenologe beschäftigt sich Merleau-Ponty in seinem Essay Das Auge und der Geist mit dem Denken der Kunst als Beziehung zwischen Kunst, Subjekt und Welt. Während Deleuze/Guattari den ‚Leib‘ lediglich als Träger für das Empfindungs-Denken konzipieren, ist der Körper bei Merleau-Ponty zentraler Ort des Denkens, das eine essentiell räumliche Komponente hat. Denken beschreibt er als ‚Sehen‘ vermittels des von ihm sogenannten „dritten Auges“ , das seinen Sitz im Körper hat: „Das Sehen ist kein bestimmter Modus des Denkens oder eine Selbstgegenwart; es ist mein Mittel, von mir selbst abwesend zu sein, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner selbst innewerde.“ Denken beziehungsweise Sehen ist hier also kein intellektueller Vorgang, sondern eine Seinserfahrung, die ein gewisses Maß an Passivität erfordert, als Verhältnis von Sehen und Bewegung in der räumlichen Begegnung mit dem Kunstwerk möglich wird und das Subjekt zur Welt hin öffnet. Dem Denken der Kunst geht es um das Wesen der Welt, nicht um deren Beurteilung oder aktuelle Gestalt, deshalb kann es zeit- und raumunabhängig auch Komplementäres zusammendenken und dasjenige sichtbar/gegenwärtig machen, was sonst unsichtbar/abwesend bleibt.
Die vorherige Beschreibung ließe sich also dahingehend ergänzen, dass die Kunst Wirklichkeit ins Bild setzt (komponiert), und zwar an der Schnittstelle zwischen Mensch und (Um-)Welt, Sichtbarem und Unsichtbarem, Gegenwärtigem und Abwesendem, die nach Merleau-Ponty notwendig körperliche Züge trägt. Dieser Vorgang kann selbst als eine spezifische Form des Denkens beschrieben werden, bei dem Welt vermittels Kunst eben gerade nicht nur dargestellt, sondern überhaupt erst als Erfahrung hergestellt wird. Gewissermaßen stellt also das Gefüge von Künstler, Werk, Raum und Betrachter – anders als das Wunder, das per definitionem unvorhersehbar ist – eine Situation her, die einigermaßen kalkulier-, aber nicht kontrollierbar ein Tor zu einem anderen ‚Welt-Raum‘ öffnet.
Man könnte sagen, dass der Kurator der Torwächter ist, der dieses Gefüge aufnimmt, um daraus einen neuen, solcherart anderen Raum – in logistischer wie inhaltlicher Hinsicht – zu erzeugen und für neuartige Erfahrungen aufzuschließen. Als aristotelische Wirkursache (causa efficiens) ist er (sie) der ‚Magier‘, der Wissen aus der sichtbaren wie der unsichtbaren Welt einbezieht, die ‚Öffnung‘ verkörpert, und als Mediator die Ausstellung als ‚Dritten Ort‘ konstituiert. In der Folge von Deleuze/Guattari und Merleau-Ponty wäre dieser Ort einer, der mittels der ausgestellten Objekte (seien es Kunstwerke oder andere Dinge) eine Argumentation im Raum entwirft, die eine spezifische Form des Denkens ermöglicht, die sich über Wahrnehmung und Empfindung vollzieht und anderswo (zuhause, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum) so nicht möglich wäre.
Die Ausstellung als Dritter Ort entspricht nicht dem herkömmlichen Ausstellungsraum zeitgenössischer Kunst, dem wir überall auf der Welt begegnen. Die Konventionen des Kunstbetriebs (wie beispielsweise selbstreferenzielle, hermetische Präsentationsdisplays oder pseudoelitäre Formen der Kommunikation und Vermittlung) schüchtern den Betrachter häufig ein, zerstören die Unbefangenheit gegenüber dem Kunstwerk und verstellen die Bereitschaft für genaues Schauen wie das Vergnügen daran, sich verunsichern zu lassen. Eher werden Unsicherheit, gegebenenfalls auch Desinteresse oder einfach nur Verständnisfragen überspielt, obwohl uns eigentlich gerade die Materialien und Fragestellungen der zeitgenössischen Kunst aus dem Alltag vertraut sind und der Zugang zu ihr deshalb umso schwellenfreier sein sollte.
Dieses Muster will der Dritte Ort durchbrechen, indem er den Betrachter konstitutiv als Teil des Gefüges mitdenkt und die Ausstellung als ein System konzipiert, in dem Künstler, Werk, Raum, Kurator und Betrachter voneinander abhängen und Denken sich zwischen diesen konstitutiven Faktoren entwickelt. Wenn wir dieses notwendige ‚Dazwischen‘ als Öffnung begreifen, die die Möglichkeit birgt, „die sinnlich unspürbaren Kräfte, die unsere Welt bevölkern, die uns affizieren, uns werden lassen, spürbar zu machen“ – um mit Deleuze/Guattari zu sprechen –, dann kann die Ausstellung genau der Ort sein, an dem das Wunder heute einen Platz findet. Hier erfahren wir ‚am eigenen Leib‘, dass keine Erfahrung nur von einem selbst abhängt und dass auch Denken nur in Bezug auf Objekte, Menschen, Welt – als eine Übertragungssituation zwischen ihnen – sich vollziehen kann.
Im Folgenden seien zwei solche exemplarische, sehr unterschiedliche Situationen vorgestellt, die auf je eigentümliche Weise und mit je anderen Mitteln unser Verhältnis zur Welt und zur Gemeinschaft bestimmen.

Auf den Mangel hin öffnen
Die hoch aufgelösten Fotografien der Sonne, die Katharina Sieverding (Abb.) aus mehr als 1000 Einzelbildern animiert und großformatig in ihrer Installation Die Sonne um Mitternacht Schauen (2010) projiziert, wurden für wissenschaftliche Zwecke von der NASA aufgenommen. Das Bild berührt auf mehreren Ebenen die oben genannten metaphorischen Kategorien des Wunderbaren: In ihrer technischen Präzision und Brillanz veranschaulicht die Aufnahme eine technische Innovation in der Weltraumfotografie; das abgebildete Objekt gilt als bedeutendes Wunder der Natur; ästhetisch ist es von unbestreitbarer Schönheit.
Zunächst einmal ‚glauben‘ wir dem Bild. Kaum jemand käme auf die Idee, in Zweifel zu ziehen, dass wir auf der Aufnahme tatsächlich die Sonne (und nicht etwa einen anderen Himmelskörper) vor uns haben, und die Referenz auf die NASA zertifiziert ihre ‚Echtheit‘ – die angesichts wachsender Gleichwertigkeit von Computersimulation und abgebildeter Realität eher meint, dass wir glauben, dass die Sonne aus großer Nähe tatsächlich so und nicht anders aussieht, als dass wir noch das Verlangen hätten, zwischen generierender Software und reproduzierendem Fotoapparat zu unterscheiden.
Unser Wissen um die Provenienz des Bildes aus den Laboren der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde ruft in unserer Vorstellung naturwissenschaftliche Kenntnisse ab: Die Sonne ist der Stern im Zentrum unseres Sonnensystems, ihr Alter wird auf gut viereinhalb Milliarden Jahre geschätzt. Sie besteht zu 90 % aus Wasserstoff, ihre Entfernung zur Erde beträgt rund 150 Millionen Kilometer, deren Laufbahn und Rotation von ihr abhängig sind. Alles hiesige Leben, Klima, Zeit werden durch die Sonne bestimmt ...
Die Wissenschaft erforscht für uns ihre materiale Zusammensetzung, ihre Eigenschaften und Wirkung auf die Erde und andere Planeten, wobei die Erkenntnisse darüber, wie die Sonne wirkt, immer präziser werden. In diesem Sinne dient die Fotografie als visuelles Kommunikationsmedium, das den aktuellen Stand menschlichen Wissens über die Sonne repräsentiert. Welche Funktion aber hat dieses Wissen und warum wird es kommuniziert? – Zunächst kann Wissenschaft mit Deleuze/Guattari als eine der zentralen Formen des Denkens beschrieben werden, das uns in Bezug zur Welt setzt. Als solches strebt es an, die Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Welt aufgebaut ist, zu entschlüsseln. Implizit ist hierein die Vorstellung von zielgerichtetem Fortschritt eingebaut, an dessen Endpunkt alle Mysterien aufgelöst sein werden – und zwar durch die Leistungen des Menschen. Dieser selbst ist hier die treibende Kraft, der unser aller Leben und dessen Fortgang bestimmt, das wissenschaftliche Bild eine Geste der Domestizierung: Die Sonne stellt zwar eine unkontrollierbare Macht dar – aber seht her, wir bekommen sie zunehmend in den Griff, wir entreißen ihr ihre Geheimnisse eines nach dem anderen! Natürlich ist das gezielt an die Öffentlichkeit gebrachte Bild auch Ausdruck institutioneller Macht. Die Wissenschaft bestimmt (und erklärt) unseren Platz im Weltgefüge, ihr obliegt die Deutungshoheit über die Dinge, die wir nicht verstehen. So rechtfertigt sich ihre Existenz, so hält sie uns davon ab, ihre Legitimität in Frage zu stellen (oder zum Beispiel über die Gelder, die sie verbraucht, Rechenschaft einzufordern). In gewisser Weise nimmt die (Natur-)Wissenschaft heute die Position der Kirche als diejenige Institution ein, die uns im – allerdings rationalistisch begründeten – Heils- und Erlösungsversprechen eint.
Sie übernimmt implizit die kirchliche Argumentation, die anlässlich der ersten Fotografie des Grabtuchs Christi Ende des 19. Jahrhunderts das entstandene Bild als „magische Operation“ interpretierte, um die Menschen durch die Fotografie des Nichtrepräsentierbaren des Glaubens an die Offenbarung zu versichern. Was die französische Kunsttheoretikerin Marie-José Mondzain in diesem Zusammenhang beschreibt, gilt auch für die Logik, der die wissenschaftliche Fotografie der Sonne unterliegt: „(...) das Ergreifen und Festhalten des Augenblicks, das so perfekt an die Ewigkeit gemahnt; (...) das Bild dessen, was trotz allem, was uns heute vernichtet, immer leben wird; mit einem Wort, diese umgekehrte, der unseren jedoch so ähnliche, mimetische und schmerzlose Welt, die man uns zeigt – alles das macht die Photographie als providentielle Erfindung zu einer erlösenden und authentifizierenden Technik.“
Der Kontexttransfer in die Kunst öffnet die Fotografie aber noch auf etwas anderes hin, was schwieriger zu fassen ist. Dadurch, dass sie aus ihrem zunächst funktionalen wissenschaftlichen Zusammenhang herausgelöst und in einen ästhetischen überführt wird, verliert sie ihre konkrete Aufgabe und damit ihre Eindeutigkeit. Dieser Kategorienwechsel wird unterstützt durch die radikalen Eingriffe in Größe und Zeitlichkeit: Aus einer Fotografie, die wir anschauen, macht Sieverding eine riesige, animierte Videoinstallation, mit der wir uns körperlich konfrontiert finden. Diese formale Verschiebung hat grundlegende Konsequenzen für unseren Umgang mit dem Bild und seinem Gehalt. Die Vereinzelung der Aufnahme verunsichert, weil plötzlich nicht mehr klar ist, was genau das Bild eigentlich repräsentiert, was es aussagt und in welchem Verhältnis wir dazu stehen. Die anfangs so bündig scheinende Verbindung Natur-Technik-Ästhetik bekommt einen Riss, wir spüren intuitiv, dass viele Fragen, die mit der Sonne verbunden sind, durch den wissenschaftlichen Blick beziehungsweise das wissenschaftliche Denken nicht erreicht, noch nicht einmal berührt werden.
Indem sie uns körperlich dem affektiven Gehalt des Bildes aussetzt, verweist Sieverding auf dessen im/durch den wissenschaftlichen Kontext verdeckten Anteile. Das Bild repräsentiert eben nicht nur Entschlüsselung und Kontrolle, sondern ist zumindest ebenso sehr Ausdruck der Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Die Verlagerung des Denkens aus der Wissenschaft in die Kunst öffnet das Bild für den in ihm enthaltenen Mangel, einen nicht auflösbaren Rest, für etwas, was wir nicht mit dem Verstand erfassen können, sondern – um mit Merleau-Ponty zu sprechen – sehend beziehungsweise mit dem Körper denken müssen.
Historisch war einer der Wege, diesem Mangel Ausdruck zu verleihen, der Sonne nicht nur in ihrer manifesten Bedeutung für die Menschheit einen Platz einzuräumen, sondern ihr auch eine mythisch-göttliche Gestalt zu geben, die die messbaren wie nicht messbaren Elemente ihres Einflusses umfasst. In den meisten Religionen spielt die Sonne eine maßgebliche Rolle, beispielsweise entstieg der ägyptische Ursprungsgott Ra (ägypt.: Sonne) dem Mythos nach dem Urhügel, um die Menschheit zu erschaffen. Ähnliches gilt für Helios und Sol bei den Griechen und Römern, und auch das Christentum hat den 25. Dezember als antiken Sonnenwendtag beziehungsweise ‚Geburtstag‘ des Sonnengottes übernommen und unter veränderten Vorzeichen zu einem seiner zentralen Feiertage erklärt. Durch ihre Intervention und Inszenierung fügt Sieverding dem wissenschaftlichen Assoziationsfeld solche mythisch-religiösen Elemente bei und lässt dadurch erst ein kosmisches Bild entstehen. Dem abstrakten Himmelskörper wird Leben eingehaucht, wir stehen einem pulsierenden Feuerball gegenüber, dessen Energie und Hitze nahezu spürbar werden. Dieser Perspektivwechsel hat das Verhältnis Mensch-Sonne von Verstehen und Kontrolle hin zu Abhängigkeit und notwendiger Unbegreiflichkeit verlagert, ohne jedoch beides voneinander zu trennen. Die Stärke der Arbeit liegt darin, dass sie gerade die doppelte Struktur der digitalen Fotografie herausarbeitet und damit die prinzipielle Unabschließbarkeit ihrer möglichen Bedeutungen in den Blick nimmt – ohne von den unumgänglichen Versuchen der Zuschreibung abzulassen. Wabernd in ihrer Endlosschleife, ewig und doch schon auf ihr fernes Ende vorausweisend, stecken wir in nie gekannter Nähe und noch nie so deutlich gespürter Distanz vor der Projektion dieses für unser Leben essentiellen Himmelskörpers fest.

Eine mögliche Gemeinschaft
Natürlich ist dies nicht die einzige Strategie für das Denken der Kunst. Ein vielleicht gegenläufiges Beispiel wäre das narrative Video Tears of the Eyewitness von Sven Johne. In ihm speist sich die Kraft des Werkes aus gänzlich anderen Quellen. (Abb.)
Johnes Arbeit entstand 2009 pünktlich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls und inszeniert die Begegnung zwischen einem Motivationstrainer und einem zweiten Mann, der für ein anschließendes Interview über den Zusammenbruch der DDR in einer Fernsehdokumentation emotionalisiert werden soll. Der Film zeigt die beiden bereits im Produktionsstudio sitzend. Der Motivationstrainer rekapituliert den Verlauf der Ereignisse, die zur Öffnung der Grenze führten, als eine Mischung ikonischer Momente, wozu die Montagsdemonstrationen in Leipzig und weniger bekannte Details wie die Entstehungsgeschichte der für den Umbruch so wichtigen Parole „Wir sind das Volk“ zählen.
Visuell arbeitet das Video extrem sparsam. Die Kamera konzentriert sich auf die Körper und Gesichter der Protagonisten im Studio und speist sich hauptsächlich aus dem Zusammenspiel der sich dramatisch zuspitzenden Erzählung des Motivationstrainers und der sich verändernden Körpersprache des im Titel als ‚Augenzeuge‘ ausgewiesenen Mannes, die darin kulminiert, dass diesem tatsächlich Tränen in die Augen treten. Die Dynamik der Arbeit entwickelt und strukturiert sich vom Höhepunkt dieser Schlusssequenz her und lagert sich um die Frage an: Warum weint der Augenzeuge?
Ganz praktisch folgt daraus das nächste Problem: Sind seine Tränen ‚echt‘? Ist der Augenzeuge echt, das heißt stammt er tatsächlich aus Leipzig und war er dabei, oder ist er ein Schauspieler? Da er, anders als der Motivationstrainer, der sich durch seinen Akzent leicht als Amerikaner identifizieren lässt – was wiederum dessen Rolle im Film entspricht –, nicht spricht und äußerlich nicht eindeutig zuzuordnen ist, vermuten wir zwar, dass er Schauspieler ist, aber sicher sein können wir nicht. Selbst aber wenn er Schauspieler wäre, könnten dann seine Tränen nicht trotzdem echt sein, auch wenn die Szene eindeutig gestellt ist?
Und was ist mit dem Betrachter? Technisch in der Position des Kameramannes, verfolgen wir als stumme und passive Zeugen, die gleichwohl in den Bild- bzw. Raumaufbau einbezogen sind, wie sich die Ereignisse entfalten; wobei wir uns wahl- oder wechselweise einfühlen und die Zeugenschaft für den Zeugen übernehmen. Und die vorerst letzte Verkomplizierung: Als Deutsche, die die Ereignisse damals live und im Fernsehen verfolgten und das narrative Re-enactment nun von außen, also von einem unbeteiligten Ausländer ohne emotionale Bindung an das Geschehen (auf Englisch) gespiegelt sehen/hören, schwankt unsere Wahrnehmung, auch was unser imaginäres Bild von der Vergangenheit betrifft, zwischen zwei unterschiedlichen Szenarien. Zunächst tauchen, angestoßen durch den Trainer, einige Bilder aus der persönlichen Erinnerung wieder auf, die überlagert/überschrieben werden durch das (ebenso imaginäre!) mediale Narrativ, das die Selbstauflösung der DDR ins Koordinatensystem der Kausallogik einpasst. Damit doppelt sich in gewisser Weise die Position des Augenzeugen – was Momente der Identifikation erzeugt, die womöglich auch uns, den Betrachtern, Tränen in die Augen treiben.
In jedem Fall stellt sich hier die Frage nach dem ‚echten‘ Bild in besonderer Weise. Denn das Video operiert zugleich auf zwei Bildebenen, einer sichtbaren und einer imaginären. Während die Handlung komplex konstruiert ist und eine Binnenerzählung – den Vorlauf zum Zusammenbruch der DDR – einbettet in eine Rahmenerzählung – die Begegnung zweier Männer im Fernsehstudio –, verharrt das Bild in der eher handlungsarmen und scheinbar uninteressanten Rahmenhandlung, um die Binnenhandlung in die Vorstellung des Betrachters zu verlagern (dem damit eine produktive Rolle zugewiesen wird). Diejenigen Bilder, die wir, weil aus den Medien bekannt und verbürgt, unter normalen Umständen für echt halten würden, verweigert uns Johne. Das Bild, das uns angeboten wird, bleibt bewusst als Inszenierung (einer Inszenierung) kenntlich und verunsichert uns nur in einem Punkt: dem Status des Augenzeugen und seiner Tränen. Die Tränen stellen die Verbindung zur emotionalen Gegenwart der historischen Ereignisse wieder her, sowohl für die Protagonisten im Film wie für uns als Betrachter. Deshalb wünschen wir, dass er und seine Tränen echt sind und quasi stellvertretend für die Realität des Geschehens, das sie beweinen, bürgen.
Warum aber weint nun der Zeuge? Menschen weinen vor Freude, aus Rührung, als Ausdruck der Trauer, der Wut, des Schmerzes. Wir weinen zwar auch allein, aber in der Regel braucht die Träne ein Gegenüber. Die Träne ist ein Medium des Zeigens, und zugleich ist sie ein Spiegel, in dem sich das Subjekt seiner Emotionen rückversichert. Mit der Träne bringt der Mensch einen bestimmten Affekt zum Ausdruck, der sich dem anderen mitteilt, eine Beziehung zu ihm herstellt. Die Träne zeigt sich als Bedürftigkeit, die den anderen notwendig braucht. Darauf könnten die Tränen des Augenzeugen verweisen: Die Montagsdemonstrationen haben – jedweder historischer Wahrscheinlichkeit und Kalkulierbarkeit entgegen – Menschen zusammengeführt, die durch das gemeinsame Skandieren von „Wir sind das Volk“ Gemeinschaft als performativen (Sprech-)Akt erschaffen haben. Echt oder nicht, die Träne im Film ist der Ankerpunkt, der dieses Geschehen sowohl in der vom Film aufgezeichneten Gegenwart wie auch in der unseren verortet und uns damit erst Zutritt zur vergangenen Gegenwart verschafft. Die Träne richtet sich, mit anderen Worten, direkt an uns – als manifestes Zeichen des besagten ‚Dazwischen‘, das uns auf den anderen hin ausrichtet.