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ELLEN BLUMENSTEIN
 

EIN KÄFIG GING EINEN VOGEL SUCHEN – MACHT MEHR FEHLER UND MACHT SIE SCHNELLER! ANLÄSSLICH DER AUSSTELLUNG BYE BYE UTOPIA VON RAUMLABORBERLIN, KUNSTHAUS BREGENZ.

Für die Veranstaltung BYE BYE UTOPIA... welcome tomorrow! hat die Kuratorin Ellen Blumenstein eine Reihe von Filmen ausgewählt, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Konstruktion von Wirklichkeit und deren Veränderbarkeit beschäftigen. Im titelgebenden Aphorismus von Franz Kafka, Ein Käfig ging einen Vogel suchen, wird die Realität nicht als Ansammlung von Problemen, sondern als Menge von Lösungen beschrieben, die nach ihren Problemen suchen. Von dieser Umkehrung gehen die Beiträge des Programms aus und erforschen die Schwierigkeiten, dich sich uns in der uns umgebenden Welt – und deren öffentlichen, politischen, sozialen, kulturellen und privaten Räumen – entgegenstellen.
Anstatt von einem Verständnis von Utopie als idealer Neuordnung einer Gesellschaft in einer nicht definierten Zukunft und der Revolution als deren Vehikel auszugehen, hält sich Ein Käfig ging einen Vogel suchen – macht mehr Fehler und macht sie schneller! dementsprechend an die Vorstellung Walter Benjamins, dass Revolutionen den Fortschritt von Geschichte aufhalten, um die liegen gebliebenen Probleme der Vergangenheit in Angriff zu nehmen.
Wie Ausstellung und Veranstaltung interessieren sich die ausgewählten Filmemacher für die Räume von morgen, werfen aber dem Motto BYE BYE UTOPIA gemäß lieber einen Blick auf die Gegenwart und deren Probleme als auf mögliche Lösungen. Sie legen die Konstruktionen unserer Wirklichkeit offen, beziehungsweise stellen sie in Frage, immer auf der Suche nach Erkenntnis, Arbeit, Bindung, Politik und deren ‚Möglichkeitsräumen‘.
Den Auftakt bilden zwei Interviews des Filmemachers und Schriftstellers Alexander Kluge aus den beiden DVD Editionen „Marx – Eisenstein – Das Kapital. Nachrichten aus der ideologischen Antike“ und „Früchte des Vertrauens“, in denen Kluge mit seinen Gesprächspartnern beliebte Termini aus dem neo-kapitalistischen Vokabular dekonstruiert. In Macht mehr Fehler, woraus wollt ihr sonst lernen? (2009) spricht er mit dem Dramatiker Heiner Müller über den Schutz der Computer vor den Menschen, künstlerische Formen der Erkenntnis und den Irrtum als notwendige Voraussetzung für Wahrheit. Der Soziologe Oskar Negt erklärt die Benjamin’sche Vorstellung von Revolutionen als Notbremsen der Geschichte (2008).
Die finnische Künstlerin Pilvi Takala porträtiert eine Gruppe junger professioneller Pokerspieler in Bangkok. Poker ist nicht nur deren Passion, für die sie aus allen Teilen der Welt nach Thailand gezogen sind, sondern sie organisieren ihr gesamtes Leben nach den Regeln des Spiels und wenden Wahrscheinlichkeitstheorien an, um sicherzustellen, dass sie sich gegenseitig gerecht behandeln. Players (2010) legt in einer absurden Überspitzung Konventionen unserer westlichen Gesellschaft offen, und macht die Notwendigkeit von alternativen sozialen Umgangsformen sichtbar.
L`Eau De Vie Un Film de Jean Luc Godard (2005) des New Yorker Künstler Kollektives The Bruce High Quality Foundation ist eine Hommage an Godard, angesiedelt irgendwo zwischen dem Mai ’68 und dem zeitgenössischen, gentrifizierten Miami der Art Miami Basel Kunstmesse. Der Film balanciert zwischen fake und realer marxistischer Kritik der der zeitgenössischen kommerziellen Kunstwelt und der Vorstellung künstlerischer Revolution und spiegelt die Sehnsucht nach echter Gemeinschaft wider.
I Only Wish That I Could Weep (2000) des Projektes The Atlas Group und Walid Ra'ad setzt sich zusammen aus fiktiven Überwachungsvideos eines imaginären Archivs des Libanesischen Geheimdienstes und dokumentiert das Fehlverhalten von ‚Operator #17‘, der in Corniche, auf der Strandpromenade Beiruts, mögliche verdächtige und/oder subversive Elemente filmen sollte. Als Stadtkind hat er noch nie die Sonne am Meer untergehen sehen, und so setzt er sich über seine Anweisungen hinweg, filmt jeden Abend für einige Minuten anstatt des Geschehens auf dem Steg den Sonnenuntergang, und riskiert für die Erfüllung seiner Sehnsucht seinen Job.
Tiqqun ist ein anonymes Kollektiv von Aktivisten, Filmemachern und Künstlern in Paris, die sich mit realen Alternativen zu unserer westlichen, durchkapitalisierten Lebensform beschäftigen. And The War Has Only Just Begun (2001) ist ein filmischer Essay über die ‘educatión sentimentale’ – die Erziehung des Gefühls – und deren Sprache, der zugleich die Über-Individualisierung und die bürgerlichen Konventionen der Paarbindung zurückweist und andere Formen der Liebe und des Zusammenlebens einfordert.
Javier Telléz’s One Flew Over the Void (Bala Perdida) (2005) dokumentiert die vom Künstler organisierte Zirkusparade von und mit Patienten aus der Klinik für Psychische Krankheiten, Mexicali CESAM, die gegen den Ausschluss von ‚Verrückten‘ aus der Öffentlichkeit protestiert. Die Prozession kulminiert in dem Schuss der ‚menschlichen Kanonenkugel‘, David Smith, über die mexikanisch-amerikanische Grenze, der symbolisch die amerikanische Immigrationspolitik kritisiert und die politische Bedeutung dieses Gebietes sichtbar macht.
Rethink Mass Media – Rethink Capitalism ist ein Ausschnitt aus der DVD „Manufacturing Consent“ von 2004, die Aussagen des amerikanischen Intellektuellen Noam Chomsky zur Rolle der Medien in unserer Gesellschaft versammelt. Rethink Mass Media fordert von uns angesichts der Macht der Massenkommunikationsmedien das Bekenntnis zu Gemeinschaftlichkeit, Solidarität, Sympathie und der Sorge für andere, um Demokratie und Freiheit als essentielle Voraussetzungen für das menschliche Überleben zu erhalten.

Programm
Alexander Kluge: Macht mehr Fehler, woraus wollt ihr sonst lernen? Heiner Müller über postheroisches Management. AUS: Früchte des Vertrauens. Finanzkrise, Adam Smith, Keynes, Marx und wir selbst: Auf was kann man sich verlassen? DVD I: Die Unruhe des Geldes. Kap 21. (2009) 5.10 min
Alexander Kluge: Revolutionen sind Lokomotiven der Geschichte. Mit Oskar Negt. DVD II, Kap 9. AUS: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital (2008) 4.15 min
Pilvi Takala: Players (2010), 7.50 min
The Bruce High Quality Foundation: L`Eau De Vie Un Film De Jean Luc Godard (2005) 21.38 min
Walid Raad/ The Atlas Group: I only wish that I could weep (2001) 5 min
Tiqqun: And War Has Only Just Begun (2001) 18 min
http://www.dailymotion.com/video/x9axpz_et-la-guerre-est-a-peine-commencee_news?start=45#from=embed
Javier Telléz: One flew over the Void (2005), 11.30 min
Oder: Ingo Vetter/Annette Weisser: I am farming humanity (2001), 16 min
Noam Chomsky: Rethink Mass Media – Rethink Capitalism (2004) 3.23 min
http://www.youtube.com/watch?v=LOsBZPnmoQA

GESAMT 75.66 min