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ELLEN BLUMENSTEIN
 

VON DER ORTLOSIGKEIT, DER LEERE UND DER WAHRHEIT

Amerika Part III, 2007, triptych, c-prints, Installation view Klemm's Gallery berlin
„Eines der verstörendsten Phänomene der Gegenwart ist, dass alle Welt von sich meinen muss, Künstler zu sein. Alle glauben, Augen zu haben, mit denen sich die Oberfläche der Welt, die uns umgibt, durchdringen lässt. Es gilt, reale intellektuelle und körperliche Fähigkeiten und die Intensität der Leidenschaften, die Beharrlichkeit bei einem Projekt oder die Bereitschaft zur Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht zu verwechseln mit den kleinen zufälligen Tagträumen, wenn man in die Sonne blinzelt.“

Dieser Text möchte über den heutigen Standort der Kunst beziehungsweise des Künstlers in der Gesellschaft nachdenken. Dieses Anliegen kann zum einen als die Fortführung und Aktualisierung einer Beschäftigung mit zeitgenössischer Subjektivität verstanden werden, die bereits in je unterschiedlicher Form Gegenstand der Ausstellungen Zwischen Zwei Toden (mit Felix Ensslin) und Männerfantasien war. Zum Anderen reagiert der Text damit auf Gespräche mit den diesjährigen Preisträgern des Marion Ermer Preises und ihre verschiedenen Perspektiven auf ihre Zukunft als Künstler im Kunstbetrieb. Dies ist also kein Text, der sich mit einzelnen Arbeiten von Stefan Eichhorn, Margret Hoppe, Andrea Legiehn und Hans-Christian Lotz beschäftigt, sondern einer, der zwar – so hoffe ich – Perspektiven der Künstler auf ihre eigene Arbeit und Produktivität, auf Produktionsbedingungen und die Möglichkeiten hinsichtlich Karriere/ökonomischen Erfolg beleuchtet, sich aber dabei als unabhängige und allgemeine Beobachtung der heutigen Situation versteht.
Gewissermaßen parallel zur künstlerischen Auseinandersetzung widmet sich dieser Essay Fragestellungen, die auch in den Arbeiten der Künstler zu finden sind. Wenn die Preisträger den Blick auf ästhetische, soziale und politische Aspekte unserer Umgebung im Allgemeinen und des Kunstsystems im Besonderen lenken, tun Margret Hoppe und Stefan Eichhorn dies vermittels einer auf „instabile“ historische Orte fokussierten Themenwahl beziehungsweise durch das Verrücken des Raumgefüges mittels skulpturaler Eingriffe. Ein gemeinsamer Ausgangspunkt, von dem diese ganz unterschiedlichen künstlerischen Ansätze wie auch dieser Text ausgehen, ließe sich vielleicht beschreiben als ein Gefühl der Ortlosigkeit, mit dem der Verlust stabiler Identitäten einher geht. Diesem – verunsicherten – Status als Künstlerin spürt Andrea Legiehn nach und untersucht dessen Auswirkungen, indem sie die eigenen Arbeitsprozesse sichtbar macht. Sie hinterfragt die Funktionsmechanismen der Akademie, die Bedingungen künstlerischer Repräsentation sowie die Kontextabhängigkeit der eigenen Produktion. Die künstlerische Praxis von Hans-Christian Lotz wiederum erkundet die emotionalen und subjektiven Aspekte künstlerischen Arbeitens und nimmt eine selbstreflexive Haltung gegenüber der eigenen Produktion und deren Bedingungen ein. Lotz thematisiert einerseits gesellschaftliche Erwartungshaltungen an den Künstler wie auch den eigenen Anspruch an ästhetisch-künstlerische Eigenständigkeit und gesellschaftspolitische Relevanz.
Wo aber liegen die Ursachen für diese offenbar grundlegende Verunsicherung des (Künstler-)Subjekts, wo und wann hat diese Entwicklung ihren Anfang genommen und wie lässt sich das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft in diesem Zusammenhang beschreiben? Das sind die Leitfragen, denen dieser Text nachgehen will.
Mit der Moderne – und mit der Herausbildung kapitalistischer Gesellschaften – wurden für die traditionellen Werte (wie Sicherheit, Solidarität, Familie, aber auch Pflicht, Disziplin, Gehorsam) die dem Einzelnen einen festen Ort innerhalb eines stabilen Gesellschaftsgefüges zuwiesen, zunehmend Begriffe wie „Eigenverantwortung, Selbstverwirklichung, Erfolg und Glück“ eingesetzt. Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser zeitgenössischen „Tugenden“, wie sie der französische Soziologe Alain Ehrenberg zusammen gefasst hat, haben die Bedingungen für das Zusammenleben grundlegend verändert: Der "unternehmerische Einzelne", der flexibel ist und mobil, bildet die Kernfigur aktueller neo-liberaler Gesellschaftsentwürfe, denen offenbar auch die globale Krise (die weit über rein ökonomische Dimensionen hinaus geht) bislang nichts hat anhaben können. Die Kunstwelt scheint dieses neo-liberale Modell in besonderem Maße zu verkörpern: Jeder ist ständig unterwegs, wechselt den Wohn- oder wohl eher den Aufenthaltsort, fährt für eine Ausstellung nach Frankreich, hat ein Stipendium in Los Angeles, schaut sich für ein Projekt die Wälder Nordfinnlands an; und muss zugleich für die Finanzierung dieses Lebensstils selbst Sorge tragen.
Eine solche Setzung von individueller Freiheit als höchstem Gut ist die Folge der Emanzipation von den rigiden Normen und Verboten der Klassengesellschaft. Hatten diese den Einzelnen noch in Konflikt mit gesellschaftlichen Erwartungen gebracht, sind heute Unzulänglichkeiten der individuellen Persönlichkeit und ihrer sozialen Beziehungen Auslöser von Krisen, sowie der Druck, sich beruflich und persönlich selbst zu verwirklichen. Die Subjekte sind, so Ehrenberg, erschöpft davon, sie selbst sein zu müssen: „Die Depression ... ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative.“ Doch die Weigerung, diesen beunruhigenden Verlust – also den Wegfall einer äußeren sinnstiftenden Instanz – anzuerkennen und sich der Leere, die infolge dessen sichtbar wird, zu stellen, reduziert die Situation auf den Mangel. Dieser soll durch eine Wiederherstellung von Stabilität (zum Beispiel durch das Bekenntnis zu nationaler, religiöser und/oder kultureller Zugehörigkeit) ausgeglichen und zum
Verschwinden gebracht werden.
Dass sich dieser Prozess allerdings nicht umkehren lässt, liegt auf der Hand. Der Zusammenbruch des Symbolischen, wie der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan die ordnende Instanz des Diskurses, der Macht und der Ordnung bezeichnet, lässt sich zwar verdrängen/unterdrücken, aber nicht verhindern. In dem kurzen Prosagedicht Die Urszene beschreibt der französische Literaturtheoretiker und Schriftsteller Maurice Blanchot beispielhaft diesen Moment des Erkennens. Eine an sich banale Szene: Ein Kind von sieben, acht Jahren blickt in seinem Spielzimmer aus dem Fenster in die winterliche Landschaft hinaus. Doch beim Anblick des gewöhnlichen, wolkenverhangenen Himmels bricht plötzlich die Erkenntnis über es herein, dass Gott nicht existiert: „Der Himmel, dieser selbe Himmel, plötzlich offen, auf absolute Weise schwarz und auf absolute Weise leer, offenbart eine solche Abwesenheit (wie durch eine gesprungene Scheibe), dass alles seit jeher und für immer sich darin verlierend zugrunde gegangen ist, bis hin zu dem Punkt, wo das schwindelerregende Wissen bejaht und verjagt wird, dass nichts da ist, das, was es gibt, und vor allem nichts jenseits dessen.“ Das Kind erkennt nicht nur die Abwesenheit eines letzten Sinns, sondern gibt damit auch zugleich die Sicherheit des Nicht-Wissen-Wollens um diese Nicht-Existenz auf. Doch anstatt „ angstvoll den Zusammenbruch [zu erwarten], da ihm Angst der einzige Modus ist, den Tod, der ihm widerfuhr, ohne dass es ihn erlebte, in Erinnerung zu rufen“ , ist das Kind von unbändiger Freude erfüllt, eine Freude, die es mit niemandem teilen kann: „Fortan wird es im Geheimnis leben.“
Auch Blanchots Anliegen ist die Beschreibung zeitgenössischer Subjektivität. Wie bei Ehrenberg ist das Subjekt auf sich gestellt – während dieser aber dessen grundlegende Verunsicherung in den Blick nimmt, wird bei Blanchot die fundamentale Einsamkeit, der der Mensch in der Welt ausgesetzt ist, zum Ort der Lebendigkeit und der möglichen Begegnung mit dem eigenen Begehren.

Der deutsche Philosoph Marcus Steinweg beschreibt diesen Ort als Ausgangspunkt und Möglichkeitsbedingung für künstlerische Produktivität. Was Blanchot als Erinnerung an den bereits erlebten Tod bezeichnet, heißt bei Steinweg eine „Wahrheitsberührung“ . Diese findet er beispielsweise bei der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras, die sich im Schreiben willentlich an die Leere und die Einsamkeit ausliefert: „Schreiben bedeutet seine eigene Wesens-Leere zu kontaktieren. ... Es zwingt das Subjekt des Schreibens aus seiner narzisstischen Behausung, aus seiner Innerlichkeit, in eine nächtige Bewegung hin zum Unbekannten. Schreiben ist diese Bewegung auf das Unbekannte zu. Schreibend berührt das Subjekt seinen inneren Schatten, seine dunkle Stelle, sein Unbewusstes, seine Nacht.“ Für Steinweg teilen Philosophie und Kunst den „Mut, dem Appell der großen Begriffe nicht auszuweichen“. Beide setzen ihr Tun ins Verhältnis zu Fragen wie „Was ist Freiheit, was ist Wahrheit, was ist Gerechtigkeit, was ist Liebe, was ist der Mensch?” Das heißt in der Konsequenz, dass er nicht nur auf der Möglichkeit der Konfrontation der Realität durch Kunst (und Philosophie) und auf dem in dieser Konfrontation liegende widerständige Potential gegen das Etablierte besteht, sondern auf ihrer Notwendigkeit. Kunst kann nur als Behauptung bestehen, als Experiment, das sich bewusst auf das Feld des Nicht-Wissens begibt. Diese Unsicherheit nimmt sie in Kauf, vor allem aber ist sie die unumgängliche Voraussetzung, dass Kunst entsteht.

Das künstlerische Subjekt teilt zwar mit allen anderen Subjekten der heutigen Gesellschaft die Verunsicherung und Überforderung, sowie auch den ökonomischen Überlebensdruck. Die für alle geltende Erwartung, sich selbst zu verwirklichen führt offenbar aber häufig zu dem Missverständnis, dass es gar keinen Unterschied mehr gibt zwischen Kunst und Nicht-Kunst beziehungsweise zwischen Künstler und Nicht-Künstler, oder aber dass Kunst an sich eigentlich nicht mehr existiert. Wahr ist aber das Gegenteil: Kunst ist trotz prekärer finanzieller Verhältnisse und Abhängigkeiten und trotz der beständigen Überforderung an das Subjekt nach wie vor ein privilegierter Ort, weil sich dort nur derjenige aufhalten kann, der den Mut, die Leidenschaft und die Stärke zur Konfrontation mit der Leere aufbringt, um „Wahrheit zu produzieren“ , das heißt, die „Modalitäten herkömmlichen Denkens, wie Reflexion, Begründung, Kritik und Argument“ zu überschreiten.