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GUNNAR LUETZOW
 

DER KARTENMANN

André Boitard: o.T., 10,5 x 15 cm, mixed media, 30.11.2011. Courtesy the Artist.
Der von Aenne Burda, Eminem und Andy Warhol inspirierte Streetartist
André Boitard ist dank seiner poppigen Postkarten weltberühmt zwischen
Boxhagener Platz und Schlesischem Tor

Von Gunnar Luetzow

Ganz schön schräg wirken sie bisweilen, die collagierten Postkarten,
mit denen der 35jährige Berliner Streetartist André Boitard seit mehr
als vier Jahren seinen Lebensunterhalt aus dem Rucksack bestreitet:
Ein Figurenrepertoire, das sich zu großen Teilen aus dem guten alten
Hollywood, Models aus Burda-Heften der Fünfziger bis Siebziger Jahre,
den politischen Schicksalsgestalten des zwanzigsten Jahrhunderts und
aktuellen Personen der Zeitgeschichte rekrutiert. Umhüllt in eine aus
dem am Flaschenhals des „Tannenzäpfle-Biers“ zu findenden Goldpapiers
gefertigten Gloriole verweisen sie auf die Tradition der Ikonenmalerei
und zeigen auf gleichermaßen schlichte wie ergreifende Weise, dass
sich die Namen der Heiligen geändert haben mögen, ihre Verehrung
jedoch erhalten geblieben ist - weswegen man sich inzwischen auch in
Kreuzberg 36 gut mit Boitards Werken versorgen kann.

Erhältlich sind sie bei „Dawn“ am Heinrichplatz, bei „Bourbon“ in der
Schlesischen Straße, bei „Let it Bleed“ in der Wiener Straße und bei
„Hazel“ in der Cuvrystraße. Dazu ist aktuell eine aus 96 einzelnen
Arbeiten bestehende Installation an der Wand des Café Transition in
der Schlesischen Straße zu entdecken – wenn man dem Künstler auf
seinen allabendlichen Touren durch den Kiez am Boxhagener Platz nicht
sowieso persönlich begegnet.

Doch an seinen Karten ist mehr dran als das, was sie zum coolen
Souvenir eines launigen Kneipenbesuchs macht. Da ist beispielsweise
die in Teilen akribische Auswahl der Rohstoffe: Gerupft wird nicht
nur, was an visueller Überproduktion liegen bleibt – gnadenlos
zerschnitten werden bei Bedarf auch wertvolle Ausgaben des legendären
„Interview“-Magazins. Dazu erzählt er am Rande seiner farbenfrohen
Collagen vermittels kleiner Eingriffe gerne Geschichten, die sich
kritisch mit dem Erbe der christlichen Religion oder mit den
unheimlichen Ecken des Unbewussten auseinandersetzen.

Ähnlich vielschichtig und überraschend wie seine Arbeiten ist der
Künstler selbst – dessen Vorbild nicht etwas Größen wie Grosz,
Schwitters, Höch und Kollegen sind, sondern ein kontroverser Musiker
aus Detroit: „Eminem ist der beste weiße Rapper. Diesen bösen Jungen
mit den bösen Worten bringt er nur rein, weil das halt ein Teil vom
Rap-Ding ist. Und auch wenn es inzwischen sehr gut abgemischt es,
bleibt es saugute Musik. Und in seine Videos bringt er die krassesten
Ideen unter – vom Job bei Burger King bis zum Psychokram. Eigentlich
sind das Super-Collagen, zu denen sich jeder seinen Kopf machen kann“,
berichtet der Künstler, dessen am Streetstyle orientierter Habitus
bisweilen durchblicken lässt, was für eine Kämpfernatur sich hinter
dem freundlichen Postkartenverkäufer verbirgt.

Sein Studium des Kommunikationsdesigns an der FH Potsdam dauert mit
inzwischen 18 Semestern länger als geplant, die Wohnverhältnisse sind
nicht auf Dauer zur Kunstproduktion geeignet. Und der professionelle
Kunstkontext scheint auch nicht sein Ding zu sein: „Kunstkritik,
Institutionen, Galerien - das ist eine Welt, wo dann ein Kleinformat
schon mal 4500 Euro kostet. Aber ich habe für mich herausgefunden,
dass das reale Leben auf der Straße stattfindet. Da fängt ́s bei
fünfzig Cent an und geht bis 15 Euro.“

Aber langsam scheint sein Werk den Straßenkontext zu verlassen: Aus
Aufnahmen von Models wie Kate Moss gefertigte Karten-Paare gehen
inzwischen auch schon mal für 20 Euro über die Boutiquentheke und zu
seinen meist ebenfalls gleichermaßen kreativen wie prekären Fans aus
der Nachbarschaft gesellen sich echte Promis wie Charlotte Roche und
Förderer aus Film, Funk und Fernsehen, die von sich aus sehr viel
höhere als die von Boitard derzeit abgefragten fünf Euro bezahlen. Und
in einem von einem sehr jungen und sehr enthusiastischen Kurator
betriebenen Off-Off-Space in Berlin-Karlshorst war er ebenfalls zu
entdecken. So sind dann auch die beiden großen Fragen, mit denen er
sich derzeit hauptsächlich herumschlägt, für seine Generation und
Wohngegend eigentlich komplett unschräg, sondern das alltäglichste der
Welt: Wie erkläre ich dem Finanzamt meine Existenz? Und, noch
wichtiger: Wie erkläre ich meine Arbeit der Künstlersozialkasse?

www.andreboitard.com