GESPENSTISCHE LINIE, MARCUS STEINWEG, 2017
erschienen in: in HANNA HENNENKEMPER, Re-privat, Galerie Pankow, 2017 Deutsch/ Englisch
(Marcus Steinweg)
„... mit Augen selbst für das Zwielicht.“
Peter Handke
Hannas Zeichnungen folgen einer Linie ins Unbekannte. Doch handelt es sich bei diesem Unbekannten nicht um ein fernes Außen. Es geht ums Unheimliche unserer Welt. Wie Sigmund Freud und Stanley Cavell und auf seine Art auch Martin Heidegger gezeigt haben, indiziert das Unheimliche kein Jenseits. Es betrifft das Gewöhnliche und Alltägliche. Als Index ontologischer Inkonsistenz evoziert es den Unvertrautheitscharakter der Vertrautheitszone, die wir Wirklichkeit nennen. Hannas Arbeit öffnet sich dem Unheimlichen des Gewöhnlichen. Das verleiht ihr etwas Beunruhigendes. Dabei verzichtet die Künstlerin auf direkte Artikulation. Man muss an Gilles Deleuzes Bemerkungen zum Knacks bei Francis Scott Key Fitzgerald denken. Unmerklich ist da etwas gebrochen. Die Wirklichkeit erweist sich als rissig. Sie entbehrt substanzieller Konsistenz. Die von Hanna gezeichneten Objekte sind Indizien dieses Konsistenzmangels. Sie sind Symptome einer unheimlichen Welt. Oft sind sie
– auf eine beunruhigende, anziehende wie verstörende Art – sexuell geladen. Mit einfachen Mitteln gelingt es der Künstlerin, in Rekurrenz aufs Gewöhnlichste zu irritieren. Dabei verzichtet sie auf Theatralik, was die Irritation steigert. Die Linie ins Unbekannte erweist sich als Linie in die einzige Welt ohne metaphysische Hinterwelt. Statt in eine Transzendenz zu weisen, betont sie den Inkonsistenzcharakter des Immanenzgewebes. Seine Brüchigkeit blitzt auf. In den Zwischenräumen wohnen Gespenster. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich mit dem Eintritt in Hannas Objektwelt eine gespenstische Zone öffnet. Alles liegt nun daran, sie als unser aller Welt zu begreifen. Die Dingwelt selbst erweist sich als gespenstisch. Ihre Elemente oszillieren zwischen Präsenz und Absenz. Man könnte auch sagen, dass sie eine Sphäre zwischen Licht und Dunkelheit, Evidenz und Inevidenz, eröffnen, das unheimliche Reich einer Wirklichkeit ohne Konsistenz. Die Linie ins Unbekannte ist ein nahezu unsichtbarer Strich. Man folgt ihr mit geschlossenen Augen. Ohne die Bereitschaft, seine Evidenzen zu opfern, ist sie gänzlich unsichtbar. Das Bedrohliche und Unheimliche liegt in der Forderung an den Betrachter, sich von seinen Gewissheiten zu befreien. Nicht um zu träumen, sondern um Realität als Traumtextur zu erfahren. Es handelt sich um eine Erfahrung, die das Subjekt aus dem Tritt kommen lässt. Hannas Arbeit insistiert
auf der Notwendigkeit, sich im Unbestimmten zu verlieren.
Die Erkenntnis, die sie für uns bereithält, ist die, dass das Unbestimmte der Normalität angehört. Es ist ihr koextensiv. Objekte werden zu Agenten, während der Subjektcharakter des Subjekts zu bröckeln beginnt. Mit ihm zerfällt die Welt. Dieser Zerfall ist nicht beliebig herbeigeführt oder Ausdruck pessimistischer Ontologie. Er ist konstitutiv für eine primordial inkonsistente Realität. Sich dieser Inkonsistenz zu stellen, heißt, sich auf die unwirklichen Wirklichkeitsanteile einzulassen. Wie jeder weiß, sind sie im Lacanschen Wortsinn real und als solche auf eine gespenstische Weise effizient. Es geht nicht ohne Gespenster. Es gibt sie. Hannas Arbeit dokumentiert ihre flirrende Präsenz.
Marcus Steinweg, 2017
erschienen in Hanna Hennenkemper, Re-privat, Galerie Pankow 2017