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HANNA HENNENKEMPER
 

IM MÖGLICHKEITSRAUM DER DINGE LUDWIG SEYFARTH, 2017

erschienen in: HANNA HENNENKEMPER, Re-privat, Galerie Pankow 2017 deutsch

IM MÖGLICHKEITSRAUM DER DINGE


Als Stipendiatin im Edvard-Munch-Haus in Warnemünde sah Hanna Hennenkemper dort 2012 eine Ausstellung des renommierten norwegischen Malers und Zeichners Olav Christopher Jenssen. Dessen über 100 Blätter umfassende Zeichnungsserie folgte den biografischen Spuren seines berühmten Landsmanns. In Munchs Sommerhaus im norwegischen Åsgaardstrand zeichnete Jenssen die Umrisse diverser Gegenstände, die zu Munchs Haushalt gehörten und noch heute für Besucher dort zu sehen sind. Jenssens Zeichnungen geben die Konturen der Dinge wieder, aber nicht ihr genaues Aussehen und ihr körperliches Volumen. Das inspirierte Hanna Hennenkemper dazu, Jenssens
Blätter als Vorlagen zu nehmen und sie mit fein modellierten Bleistifttexturen gleichsam „auszufüllen“.

Eine solche Aneignung, Übersetzung oder Übertragung von Vorlagen ist charakteristisch für das Vorgehen der Künstlerin. Zwar hat Hanna Hennenkemper eine durchaus einprägsame und wiedererkennbare Bildsprache entwickelt, doch thematisiert sie stets überkommene Vorstellungen von künstlerischer Originalität und Autorschaft – nicht zuletzt auch mit einem ironischen Seitenhieb auf die große Geste als kraftvolle Signatur eines selbstbezogenen Künstlerbildes, welches auf der Idee einer autarken Autorschaft beruht, die sich frei von Vorbildern und Einflüssen entfalten lassen könnte.
In akkurater Feinarbeit füllt Hanna Hennenkemper die von Jenssen übernommenen Umrisse aus, lässt in ihnen ganz eigene Gestalten entstehen, die vielleicht aus dem Unterbewussten emporgestiegen sind und – in der Begrifflichkeit der Künstlerin ausgedrückt – ihrer ganz eigenen Lesart entspringen.

Aus Jenssens Zeichnungen ist die Identität der Dinge nicht immer zu entnehmen und Hanna Hennenkemper hat auf das Wissen darüber auch bewusst verzichtet. So wird der Weg von den ursprünglichen Gegenständen über Jenssens Zeichnungen zu denen Hennenkempers zu einer Art „Stiller Post“, bei der durch Lücken sowie persönliche Notation und Handschrift am Ende möglicherweise etwas völlig anderes steht als am Anfang. Damit spielt die Künstlerin auch auf die Leerstellen an, die jeder historischen Überlieferung immanent sind. So sieht die Künstlerin das Rudimentäre von Jenssens Umrissen, auch wenn es hier „nur“ um Darstellungen einfacher Alltagsgegenstände geht, in einer Analogie zu stehen gebliebenen Mauern, zu den Ruinen der Geschichte, wie sie etwa Walter Benjamin in seiner Geschichtsphilosophie in fast literarischen Bildern beschrieb.

Der Blick auf historische Zusammenhänge, aufs „große Ganze“ wird bei Hanna Hennenkemper jedoch stets aufs Alltägliche, auf das einzelne Objekt zurückgeführt. Und aus dem, was unscheinbar erscheint, was oft übersehen wird, entsteht ein geradezu surreales Universum, eine präzise Wiedergabe von Dingen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.
Auch an anderer Stelle in Hanna Hennenkempers Werk treffen wir auf Formen, die fremd und surreal wirken. Einer Reihe als solitär begriffener Buntstiftzeichnungen in verschiedenen Formaten liegen ebenfalls „banale“ und alltägliche Dinge, etwa die Ohren von Schokoladenosterhasen, Messer oder Kleiderhaken, zugrunde.
Dabei bewegt sich Hennenkempers Formenwelt stets zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, zwischen Organischem und Technoiden. Bei vielem könnte man an vergrößerte Mikroskopaufnahmen denken oder an Details von Pflanzen. Die plastisch aufschwellenden Formen wecken dabei immer wieder auch erotische Assoziationen. Aber keine der möglichen Lesarten ist direkt „gemeint“. Das Taktile spielt in Hanna Hennenkempers Werk eine wesentliche Rolle, die Berührung des Papiers durch den Zeichenstift ist durchgängig nahezu suggestiv spürbar. Die stofflichen Qualitäten, die durch die dargestellten Motive evoziert werden, bleiben aber stets in der Schwebe, ebenso wie in vielen Fällen auch die Identität des Dargestellten. Die Motive verlieren scheinbar schrittweise ihre erkennbare Form und eindeutige Lesbarkeit, etwa ein Korkenzieher oder eine Zange, und treten wie durch eine rätselhafte Verwandlung in ein eigenes, neben der Realität stehendes Universum ein. Die akribische zeichnerische Feinarbeit – ein langwieriger, teilweise wochen- oder sogar monatelanger Arbeitsprozess – scheint, je mehr sie ins Detail geht, in paradoxer Weise die Eindeutigkeit des Dargestellten gleichsam auszuhöhlen und aufzulösen. Das Dargestellte zeigt sich dann als Variante oder mögliche Option unter vielen anderen.

Das Mehrdeutige – eben das in einem Raum der Möglichkeiten und Potentialitäten Befindliche - wird auch dadurch konsequent hervorgetrieben, dass es immer wieder Serien auf der Basis gleicher oder ähnlicher Vorlagen gibt und die einzelnen Blätter oft völlig unterschiedlich wirkende „Aufführungen“ des gleichen Ausgangsmotivs sind. Dabei spielt das „Ding“ selbst mit seiner Funktion und Bedeutung am Ende nur noch eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht scheinbar vielmehr die Frage nach der Handhabung der Dinge. So erscheinen blau-rote Radiergummis auf einmal wie ausgestreckte Zungen oder suggerieren anderswo einen Sonnenabglanz unterhalb des Horizontes.
Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des immer wieder ins Bild gesetzten Radiergummis haben mit den verschiedenen Erlebnissen und Begegnungen der Künstlerin an den jeweiligen Tagen zu tun. Es sind gleichsam „Tagesformen“, die für die Künstlerin gewissermaßen ein visuelles Tagebuch bilden, welches sie immer entlang der gleichen Grundform aufzeichnet.
Die Frage nach dem Seriellen und Reproduktiven geht auch in die formale Bildstruktur selbst ein, wenn beispielsweise gleiche Elemente auf einem Blatt nebeneinander mehrfach wiederholt werden. Die Reproduktionen ermöglichende Druckgrafik ist neben der Zeichnung Hanna Hennenkempers zweite Domäne, wobei sie jedoch auch hier fast nie Auflagen herstellt.

Die direkteste Verbindung von Zeichnung und Druckgrafik besteht bei der Lithografie: Was auf den Stein gezeichnet ist, wird scheinbar unmittelbar auf das Papier abgedruckt. Das Verfahren ist natürlich viel komplizierter, was in Hanna Hennenkemper Serie Memorieren zum Ausdruck kommt. Hier sehen wir immer farbintensiver werdende Zustandsdrucke von einem Lithografierten, so dass das immer kräftiger hervortretende Motiv wie eine Erinnerung betrachtet werden kann, die langsam, Blatt um Blatt, zum Vorschein kommt. Doch auch dort, wo das Motiv am deutlichsten hervortritt, ist es gegenständlich nicht eindeutig identifizierbar. Die „Varianten“ sind – bezeichnend für das Werk der Künstlerin – so etwas wie unterschiedliche „Interpretationen“ einer Art formaler Partitur. Was man auf dem jeweiligen Blatt sieht, weckt völlig unterschiedliche Assoziationen. Bei einem Blatt mag man an ein äußeres Motiv, etwa an eine Landschaft mit einer Schlucht oder einem Wasserfall, denken, bei einem anderen eher an die Vergrößerung einer mikroskopischen Ansicht aus dem Körperinneren. Die Künstlerin spielt bei dieser Serie auch fast vexierbildhaft mit Positiv- und Negativform, mit Flächigkeit und Räumlichkeit. Ein illusionärer Tiefenraum scheint sich zu öffnen, gleichzeitig ist der Abdruck auf der Fläche geradezu haptisch spürbar. Welt und Dinge bilden für Hanna Hennenkemper eine Art Möglichkeitsraum, der immer wieder anders betrachtet oder gezeichnet werden kann.

Die Möglichkeiten einander gegenüber zu stellen und aus ihnen auszuwählen, ist einer kuratorischen Tätigkeit vergleichbar.
So inszeniert sie in der Rauminstallation absolut o.T. von 2017 eine Ausstellung von Zeichnungen und Druckgrafiken, die in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren entstanden sind. Sie erscheinen wie Skizzenblätter oder wie Einzelgänger, deren Pfade nicht oder noch nicht weiter verfolgt wurden. Diese Zeichnungen treten auf einer in Chromakey-Blau gestrichenen Wand in Zusammenhänge, die wieder einen von vielen möglichen Möglichkeitsräumen beschreiben. Der Betrachter hat die Wahl, die blaue Wand als Referenz an die in Petersburger Hängung bestückten farbigen Wände klassischer Sammlungen zu lesen, oder als eine Bluebox, eine Virtualisierungsumgebung, auf die in der Film- und Fernsehtechnik beliebige Hintergründe oder Kontexte projiziert werden können.

Auch Hanna Hennenkempers Zeichnungen und Grafiken selbst lassen sich als Projektionsflächen oder -räume interpretieren, in denen historische oder politische Hintergründe und Kontexte aufscheinen können, die jedoch immer wieder ins Private zurückführen. Jede mögliche Interpretation ist eine Art Ergänzung, die dem fragmentarischen Körper des Dargestellten etwas hinzufügt.
Indem Hanna Hennenkemper Kunst stets in einem Raum unterschiedlicher Möglichkeiten verbleibt, verweist sie auf die Lückenhaftigkeit, die blinden Flecke jeder Darstellung und Überlieferung.


Ludwig Seyfarth, 2017
erschienen in Hanna Hennenkemper, Re-privat, Galerie Pankow 2017