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HANNA HENNENKEMPER
 

STILL ALIVE, VOM WI(E)DERGÄNGIGEN WESEN DER DINGE, DR. BIRGIT MÖCKEL, 2015

erschienen in: MARIANNE WEREFKIN PREIS 2015, Katalog, Verein der Berliner Künstlerinnen 1867 eV.

Hanna Hennenkemper schöpft aus dem prallen Leben, wenn sie mit Präzision und Leidenschaft ganz alltäglichen Dingen zu Leibe rückt und anspielungsreiche Analogien und Lesarten entlang eines Gegenstandes entwickelt. Ist die Bildspur einmal gelegt, gibt es kein Halten mehr. Dann fügt sich Linie an Linie, Form an Form und steigert die Fabulierlust. Ob leise Töne oder leuchtendes Kolorit, samtig weiche Flächen oder metallischer Klang, messerscharfe Kanten oder hauchdünne Hüllen, pralle Früchte oder zartschmelzende Überzüge: Jedes Objekt zeigt sich in neuem, so nie gesehenen Gewand – aufgeladen
mit quicklebendigen Seinsgedanken, augenzwinkernden Mutationen und so realistischen wie sinnlichen Anspielungen.
Kein Objekt in Reichweite der Künstlerin kann sich ihrem analytischen Blick entziehen. Jede auch noch so einfache Formkonstruktion wird mit der „Frage der Auslegung“ konfrontiert. Das gilt nicht nur für die spielerische „Dinggrammatik“ aus den Einzelteilen des bekannten Tangram Legespiels, mit der Hanna Hennenkemper geometrischen Ordnungen in der Kunstgeschichte nachspürt, sondern all ihren „Gratwanderungen“ entlang der von ihr gesichteten und erkenntnisreich zu Papier gebrachten Formen. Wortgewaltig oder ganz sachlich sind ihre Titel. So beziehungsreich wie die mit ihnen umrissene Gestalt eines Objektes lassen sie philosophische sowie soziale Themen aufflackern, um sich gleichwohl im Weltgeschehen und unserer Gesellschaft zu verorten und ganz beiläufig und an der Sache voll inbrünstiger Poesie zurück zum Individuum zuführen.

Jedes Ding steht für sich und ist erkennbarer Teil dieser Welt. Die ausgewählten Motive symbolisieren Schutz, Hilfe, Nahrung und entspringen dem Haushaltsarsenal, das sich vielerorts so oder ähnlich findet. Doch sind all diese Dinge neu formuliert, im Bild zugespitzt, aufgefächert, anthropomorph, berührend, erschreckend, fragil oder bedrohlich und mit leiser Ironie und Sinnenfreude zu Papier gebracht. Mit der ihr eigenen feinen Balance aus sachlicher Präzision und narrativer Komik besetzt Hanna Hennenkemper eine ganz eigene Position, die sich aus kunsthistorischer Perspektive und sicher nicht ohne Hintergedanken über Konrad Klapheck bis zu Wilhelm Busch und nicht zuletzt zu den symbolträchtigen „Sonnenspiegelungen“ eines Edvard Munch zurückführen lassen.

Ob den einen oder anderen die (haar)klammernde Geste an betende Händeoder die Kapuze einer Mönchskutte erinnert, mag so naheliegend wie trügerisch sein. Sicher ist, dass der fein gezeichnete Mechanismus der festen Umklammerung ein unterschwelliges Pendant zu jener leuchtend gelben Rettungsweste sichtbar macht, deren Titel „Heilsgewalt“ ein wenig hoffnungsfrohes Signal setzt. Welches Potential an rettenden Ideen und Gedanken sich auch immer mit derlei Formwillen verbinden mag, immer neu gilt es die ausufernden und überbordenden Gedanken zu zähmen. Wie? Mit den Mitteln einer Zeichnerin und stets gespitzten Stiften. Doch ist nicht „der Anspitzer“ Anstoß und Motor immer neuer Sinneseindrücke entlang der gesehenen Realität der Dinge? Nicht ohne Grund legt sich gerade diese Form schützend und überaus zärtlich über ihren messerscharfen Kern.

Mit Leichtigkeit und Scharfsinn bewegt sich das Werk zwischen Abbild und Sinneseindruck. Gleichsam „sphinxisch“ spielen die Dinge multiple Rollen, öffnen sich zu vollmundigen „Lippenbekenntnissen“ oder „verkutten“ sich zu tarnkappengleichen Schokokussparaden. Ein jedes Ding zeigt sich und verwandelt sich im selben Augenblick zum Echo seiner selbst, re-produziert Kettenreaktionen, pendelt im Uhrzeigersinn oder fächert sich in endloser Wiederholung auf. Insbesondere mit der Druckgraphik lassen sich diese Denkmuster und Rollenspiele um ein Vielfaches weitertreiben und nicht zuletzt in zwitliche Räume und unterschiedlichste Tonlagen überführen. Was bleibt, ist ein so umfassender wie widerständiger Bilder-Kosmos, der mit allen graphischen Mitteln ein jedes Objekt der Begierde umfassend differenziert und mit größter Offenheit betrachtet, überformt und reflektiert – wider und wieder – bis die Dinge sich klären und weiter wirken:
niemals eingängig, immer wi(e)dergängig.

Dr. Birgit Möckel, 2015
erschienen in: MARIANNE WEREFKIN PREIS 2015, Katalog, Verein der Berliner Künstlerinnen 1867 eV.