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JOCHEN MURA
 

HAUSAUFGABEN RENATE PUVOGEL (TEXTAUSZUG)

Hausaufgaben
Renate Puvogel (Textauszug)

Muras gesamter Produktion an Objekten und Fotos sieht man an, wie stark sie der aufmerksamen Beobachtung unserer urbanen Umgebung entspringt. Der Künstler reibt sich an dem versatzstückartigen Konglomerat an Formen und Materialien, speichert seine Eindrücke und hält wiederkehrende, das Bild unserer Städte weithin prägende Absonderlichkeiten mit der Kamera fest, um schließlich die Banalitäten auf vielfältige Weise in ver-rückter Gestalt exemplarisch Bild werden zu lassen.

Distanz zu einem realen Vorbild erreicht Mura mit Hilfe ganz unterschiedlicher Methoden. Die naheliegendste ist selbstredend diejenige, bei der er die Großarchitektur in das kleinere Format einer Skulptur transformiert. Die Bedeutung der Vitrine in diesem Zusammenhang ist bereits angesprochen. Irritation löst aber z.B. auch die überzeugend einfache Aktion aus, ein Objekt um 90 Grad, also aus der Senkrechten in die Waagerechte oder umgekehrt zu kippen. Mehrere „Geschossbauten“, die sich möglicherweise an den anonymen, von außen einsehbaren Treppenhäusern von Wohnblocks orientieren, mutieren, horizontal nebeneinander platziert, zu Eisenbahnwagons und, diagonal durch den Raum verlaufend, stehen sie als Barriere im Weg. Aufeinandergestapelt machen vergleichbare Bauten ihrem Namen „Geschoss-Bauten“ alle Ehre, ist doch das Doppelbödige in der Konstruktion eingelöst. Gemäß dem Titel konterkariert bei beiden mehrteiligen Installationen das Moment von Stabilität eines Bauwerks dasjenige der Bewegung in Raum und Zeit.
Wenn es um die Balance zwischen Stabilität und Labilität geht, dann kommt dem Verhältnis von Glas und Öffnung in Muras Arbeiten besondere Bedeutung zu. Farbiges Acrylglas schließt die Fläche eines Körpers und rückt ihn in die Nähe eines zweidimensionalen, konstruktiven Bildes. Öffnungen hingegen betonen widersinnigerweise die Dreidimensionalität eines Objektes, obgleich die Leerstellen das Brüchige und Instabile betonen.

Immer liefert die Realität den Stoff zu reflektierender Aneignung. Die „Vorräume“ orientieren sich unzweideutig an den behelfsmäßigen, mit farbigen Gläsern ausgestatteten Schutzdächern, die häufig zusammenhanglos vor ohnehin nicht eben spektakuläre Eigenheime gesetzt sind. Ins Format kleinerer Wandobjekte umgewandelt, beschreiben sie Zonen des Übergangs. Da sie aber rundum geschlossen sind, erlangen sie auch den Wert von Schatzkästen, deren Innenleben im Unterschied zu den Vitrinen unzugänglich und geheim bleibt. Auf die Weise werden die skurrilen Konstrukte städtischer Räume ausgerechnet durch ihr Kolportieren aufgewertet, womit auch ihr ästhetischer Wert im Kunstprodukt gut aufgehoben ist. Wie hier schwingt in allen Werken ein humorvoller oder zumindest lakonischer Unterton mit, der jedes Moralisieren ausschließt.

Es ließe sich Vilém Flusser heranziehen, der daran zweifelt, dass das Haus in seiner traditionellen Gestalt und Funktion überleben wird: „Dach, Mauer, Fenster und Tür sind in der Gegenwart nicht mehr operationell, und das erklärt, warum wir beginnen, uns unbehaust zu fühlen.“ ... Daher „müssen wir wohl oder übel neuartige Häuser entwerfen. Tatsächlich haben wir damit bereits begonnen. Das heile Haus ... gibt es nur noch in Märchenbüchern, materielle und immaterielle Kabel haben es wie einen Emmentaler durchlöchert: auf dem Dach die Antenne, durch die Mauer der Telefondraht, statt Fenster das Fernsehen, und statt Tür die Garage mit dem Auto. Das heile Haus wurde zur Ruine, durch dessen Risse der Wind der Kommunikation bläst. Das ist schäbiges Flickwerk-. Eine neue Architektur ist vonnöten. Architekten haben nicht mehr geographisch, sondern topologisch zu denken. Das Haus nicht mehr als künstliche Höhle, sondern als Krümmung des Feldes der zwischenmenschlichen Relationen.“ Und Flusser plädiert für „Ein schöpferisches Haus als Knoten des zwischenmenschlichen Netzes.“2)

2) Vilém Flusser, Von der Freiheit des Migranten, Einsprüche gegen den Nationalismus, Leck, Bollmann 1994, S. 67/68