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JORINDE VOIGT
 

(D) DAS EINE UND SEINE KONSTELLATIONEN

Das Eine und seine Konstellationen
Jorinde Voigt: Arbeiten auf Papier
von Andrew Cannon

Robert Rauschenbergs „White Paintings“, die 1951 am Black Mountain College entstanden, waren so bar jeder Akzentuierung, dass die Bildflächen Spuren des natürlichen Lichteinfalls und Schatten der Betrachter reflektierten. So kommentierte Rauschenberg einmal, dass „man fast hätte sagen können, wie viele Menschen im Raum waren“. Es sollte ein Musiker sein, der das produktive Potential dieser Arbeiten, die schon als reduktionistisch abgetan worden waren, erkannte: John Cage lobte die Bilder als „Flughäfen für Licht, Schatten und Teilchen“ . Die „White Paintings“ sollten in der Folge Cages legendäre Komposition 4’33’’ inspirieren. Beide Werke funktionieren auf ähnliche Weise als „hochempfindliche Projektionsflächen“ . Die reine Stille der Komposition nahm Raumgeräusche sowie Reaktionen und Bewegungen des Publikums in sich auf.
Eine „hochempfindliche Projektionsfläche“ und die Idee eines gedachten Raums sind auch Grundlage des Werkes der deutschen Künstlerin Jorinde Voigt. Voigts seit Anfang dieses Jahrtausends entstandenes, zeichnerisches Werk fungiert als Schnittstelle zu diesem gedachten Raum, der sich aus seinem inspirierenden, spannenden Medium heraus stetig neu generiert. Was bedeutet nun gedachter Raum? Wie Cages „Stille“ ist der Ort, auf den unsere Gedankenprojektionen gerichtet sind, nur vermeintlich von ungestörter Leere und somit eigentlich ein Raum, in dem wir Sinneswahrnehmungen miteinander teilen, die sich aus den Eindrücken der alltäglich erfahrenen Umwelt speisen. Letztlich entsteht gerade durch die Zusammenstellung dieser Wahrnehmungen ein höchst individueller Vorstellungsraum. Wie entwickelt man nun die Objektivität, derer die Schnittstelle zu etwas so Subjektivem bedarf?
Voigt vertieft die Sphäre des Objektiven durch die Auswahl der Elemente, die sie ihren diagrammatischen Zeichnungen einschreibt. Küsse, Pop Hits, Elektrizität, Flugzeuge, Autos, Explosionen und Adler sind nur einige der von der Künstlerin ausgewählten Komponenten, die zu etwas zusammengefasst werden, das an grafische Strukturen erinnert, die wiederum durch verschiedene Achsen wie Zeitverläufe, Temperaturskalen, Geschwindigkeit oder geografische Koordinaten (Längen-/Breitengrade) bestimmt werden. Die räumliche Begrenzung der Zeichnungen wird durch diese Achsen häufig erweitert: so werden die 14 Blätter der Serie O.T. 1-14 (Tafel 1) in Abhängigkeit von den auf der Zeichnung notierten Temperaturwechseln jeweils 10 cm breiter. In diesen Fällen scheinen die Zeichnungen die ihnen innewohnende Disziplin zu unterlaufen. Die Möglichkeiten expansiver Strukturen bilden sich in einer korrelativen Materialität ab.
Einige der Zeichnungen nennt Voigt „Partituren“, was durchaus im musikalischen Sinne zu verstehen ist. Betrachtet man die Zeichnungen (wie z.B. Weiße Partitur Top 10 Popsongs Taktweise – Tafel 2) als Gitter, die über das Quellenmaterial gelegt werden und linear zu lesen sind, so begreift man, wie ein gedachter Raum geschaffen werden kann. Cage beauftragte in seiner Imaginary Landscape No. 4 (1951) zwei Musiker, zwölf Radioempfänger zu bedienen. Einer stellte die Radiofrequenzen ein, der andere regelte die Lautstärke. Wie in Voigts diagrammatischen Grafiken dienen auch hier zwei Achsen dazu, einen bestimmten Prozess auszulösen und zu steuern. Ebenso erinnern Voigts detaillierte Notationen an die exakten Anweisungen in Cages Partitur, die festlegten, wie die Musiker die Radios einzustellen bzw. im Laufe der Zeit zu verändern hatten.

Das Annähern an eine solche Vorstellungslandschaft zeitigt interessante Resultate. Cage konnte die von den Radios übertragenen „Stimmen“ nicht im Vorhinein steuern, da diese durch die zufällig zum Zeitpunkt der Aufführung gesendeten Programme bestimmt waren. Die sich in Voigts Werk wiederholt findenden Pophits der Woche sind ein Element, das der wechselnden Meinung des Publikums unterworfen ist. Diese Variable beeinflusst alle anderen Elemente der Zeichnung. In ihren „Begriffsbestimmungen“, die Voigt zu jeder Serie von Arbeiten verfasst, schreibt sie:

„Das Element der Wiederholung und Variation ist ein Thema, was in jeder Arbeit thematisiert wird .... Würde man die Zeichnungen als .... musikalische oder choreographische Partitur lesen, würde die Realisierung schnell an der Echtzeit oder den realen Möglichkeiten scheitern. Es geht vielmehr um die Potenzierung dessen, was assoziativ mit dem einzelnen Element verbunden ist.“

Die Idee einer Variablen und der Vorgabe eines Parameters, innerhalb dessen sich eine von dieser Variablen beeinflusste Aktion entfalten kann, erinnert an die Prinzipien von auf indeterminierten Methoden basierenden Kompositionen (im Gegensatz zu Kompositionen, deren Aufführungsbedingungen indeterminiert sind). In diesem Zusammenhang wäre an Cages Variations zu denken, bei denen der Entscheidungsprozess hauptsächlich bei den Aufführenden (dem Orchester) lag, deren Reaktion auf die Partitur die letztlich zur Aufführung kommende Fassung des Werkes bestimmte. In jüngster Zeit übertrug Voigt Popsongs Takt für Takt in ein eigens geschaffenes Computerprogramm, das ein simultanes Aufrufen der Anfangssegmente einer Reihe von Top Ten Hits ermöglicht. Die Reihenfolge der Segmente kann sowohl nach dem Zufallsprinzip als auch festgelegt programmiert werden. Das Resultat ist weißes Rauschen, das aus dem Zusammenprall der vielen Songs entsteht. Die gezeichneten Notationen, die die Pop Hits in zeitliche und rhythmische Sektionen aufspalten und sie so verteilen, dass sie andere Aktionen stimulieren (Top 7 Popsongs Akustische Impulse Detonationen 2 Küssen Sich – Tafel 3), beschreibt Voigt als „eine Struktur, die den Lärm am Leben erhält". Ähnlich erklärte Cage, nachdem er in einer schalltoten Kammer an der Harvard University sein eigenes Nervensystem und seinen Blutkreislauf gehört hatte, dass es „Klänge geben wird bis ich sterbe. Und es wird sie auch nach meinem Tod noch geben. Man muss sich um die Zukunft der Musik keine Sorgen machen.“

Vertieft man sich in die komplexen Details von Voigts neuesten Arbeiten, wie z.B. PERM (Tafel 4), so möchte man spontan die anscheinend so unterschiedlichen Strukturen zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Gleichzeitig wird man sich bewusst, dass in den Zeichnungen ein Verbindungssystem aktiv sein könnte. Mit den anmutigen, weit ausgestreckten Bögen und geschwungenen Linien, die Adler mit Elektrizität verbinden, Temperaturskalen mit Popsongs, Explosionen mit Küssen, scheint die Künstlerin uns eine realistische Verbindung der Elemente nahe legen zu wollen. Dennoch hat die Logik hinter Jorinde Voigts Arbeiten mehr mit Konfrontation und Auseinandersetzung als mit Assoziation und Verbindung zu tun.
Für Voigt bedeutet Verbundenheit eine Form der Symbiose, eine nutzbringende Beziehung zwischen verschiedenen Dingen. Der Gedanke, dass die ausgewählten Elemente in ihren Zeichnungen in nutzbringender Relation zueinander stehen, widerspricht jedoch ihrem Konzept, dass die Elemente als Einzelnes betrachtet werden sollten. Der Bewegungsverlauf eines Elements „initiiert, stoppt oder verändert die der anderen an einem bestimmten Punkt“ . Das bedeutet, dass sich die Elemente zwar aufeinander ausrichten, nicht jedoch in einem gegenseitigen Sinne. Für Voigt haben die Dinge, die in ihren Zeichnungen und Partituren repräsentiert werden, „in einem sozialen Zusammenhang symbolische Bedeutung, oder sie dienen der Beschreibung .... ihrer Umgebung“ . Elemente wie Popsongs, Elektrizität und am Himmel schwebende Flugzeuge stehen in einem sozialen Verhältnis zueinander. Ihre Zusammenstellung wird durch die räumliche und zeitliche Beziehung zueinander bestimmt. So entsteht schließlich eine festgelegte räumliche Konstellation. Gerade diese von Voigt konstruierten Konstellationen lassen ihr zeichnerisches Werk über seine eigenen Grenzen hinausgehen. Für sie bedeuten Konstellationen isolierte Elemente, die konfrontative Reaktionen im Betrachter hervorrufen können. Diese isolierten Einheiten vereiteln den Versuch, sie mit ihrer Umgebung in Zusammenhang zu setzen. Verbindung hat mit Verbundenheit zu tun, mit einem Beziehungsnetz, das eine weitere Umgebung definiert. Voigts Zeichnungen haben nichts mit Interaktion und Korrelation zu tun – sie bieten vielmehr einen neutralen Überblick über die symbolischen Aspekte unserer sozialen Organisation. Man könnte fast meinen, dass den Arbeiten ein gewisser Antagonismus innewohnt, der sie mit dem Betrachter verknüpfen soll. Ähnliche Irritationen rief Cage bei seinen Interpreten durch die Anweisungen in seinen Partituren hervor.
In diesem Zusammenhang sei auch auf Cage und sein Interesse an den Ryoanji – Steingärten in Kyoto, Japan zu verweisen. Dieser traditionelle Garten in Ryoanji mit seinem geharkten, weißen Sand und der durchdachten Platzierung von fünfzehn Steinen inspirierte Cage zu einer Reihe von Zeichnungen, zu der er eine ebensolche Anzahl von Steinen verwendete, die er mit einer unterschiedlichen Anzahl von Bleistiften verschiedener Härtegrade umkreiste. Es war nicht nur die Platzierung der Steine, die ihn faszinierte (man konnte nie die gesamte Anzahl aller Steine auf einen Blick wahrnehmen, woraus sich ein Spiel mit mathematischen Zahlenreihen entspann), sondern auch die Art und Weise, in der die Steine in relativer Isolation voneinander arrangiert waren. Auf seinen Where R = Ryoanji - Zeichnungen benannte Cage die einzelnen Zeichnungen nach der Anzahl der Umkreisungen der Steine: 5R/10 verwiese zum Beispiel auf eine fünffache (5) Linie um 15 Steine (R bedeutet Ryoanji), die mit zehn Bleistiften (10) ausgeführt wurde. Dieses wiederholte Umkreisen der Steine impliziert, dass Cage die räumlichen, isolativen Qualitäten dieser Elemente nachvollzogen hat, ebenso wie Voigt in ihren Zeichnungen eine Konstellation isolierter Einheiten einer aufeinander bezogenen Verbindung vorzieht. Diese harmonische Anordnung von Objekten im Raum ist in Japan nicht nur eine handwerkliche Tradition, sondern gehört auch zur Lebenskultur. Der Buddhismus (der großen Einfluss auf Cage hatte) folgt dem ethischen Prinzip der Befreiung des Selbst vom Verlangen und beinhaltet eine gewissermaßen ganzheitliche Perspektive auf die Dinge des Lebens, die nahe legt, sich eher auf ein Gesamtbild als auf Details zu konzentrieren. So überrascht es wenig, dass Cages Komposition Ryoanji, die auf den Where R = Ryoanji-Zeichnungen basiert, eine karge, raumbezogene und atonale Musik ist, die an die Atmosphäre des japanischen Steingartens erinnert.
Da Cage sich auf die spezielle Reihenfolge der Steine von Ryoanji bezog, lässt sich auch an andere Zahlenfolgen denken, wie z.B. die Fibonaccifolge. In Fortsetzung der Studien des Sanskritgrammatikers Pingala wandte der indische Mathematiker Virahanka diese auf die Analyse von langen und kurzen Silben an. Im 12. Jahrhundert wurde sie von Leonardo die Pisa, der der Folge auch ihren Namen gab, weiterentwickelt. Die Fibonaccifolge ist eine Zahlenreihe, die sich aus der Summe der jeweils 2 vorausgegangenen Zahlen entwickelt. Sie kann auf Prozesse organischen Wachstums angewandt werden und zeigt, wie rasch Organismen sich in einem kurzen Zeitabschnitt über ein sich vergrößerndes Areal ausbreiten und wachsen können. In Voigts Serien 2 Küssen Sich I-V (Tafel 5) und Temperaturverlauf –8°C bis 16°C (Tafel 6) nutzt die Künstlerin die Fibonaccifolge als Regulativ für die sich erweiternde Anzahl von küssenden Paaren bzw. die ansteigenden Temperaturen von unter dem Gefrierpunkt bis auf eine annähernde Raumtemperatur. Interessant ist hierbei, dass die optischen Resultate der Fibonaccifolge an Strukturen, die auch in der Natur zu finden sind, erinnern. Einzelne Punkte schaffen in ihrer Gesamtheit großzügige Oberflächen, wie man sie auch bei Pflanzenblättern oder Vogelschwingen findet.
In Arbeitspausen zu ihren komplexen und groß angelegten Perm-Zeichnungen für ihre Einzelausstellung Perm Millennial studierte Voigt verschiedene Pflanzen im Hof ihres Ateliers. Diese Beschäftigung brachte sie dazu, zu untersuchen, auf welche Weise Pflanzen sich reproduzieren und ausbreiten. Voigt stellte überrascht fest, dass das Wachstum der Pflanze nicht von einem zentralen Punkt ausgeht, sondern sich vielmehr aus dem jeweils zuvor stattgefundenen Stadium entwickelt. Insofern scheint das Wachstumssystem von Organismen der Fibonaccifolge zu widersprechen, da sich hier die jeweils aktuelle Ziffer aus der gesamten vorausgegangenen Zahlenreihe entwickelt. Hierbei war es für Voigt besonders interessant, dass jedes Wachstumsstadium isoliert und auf sich selbst beschränkt sein könnte, dabei aber die Informationen für den nächsten Wachstumsschritt in sich birgt.
Diese Erkenntnisse lassen sich auch auf das in Zeichnungen wie 60 Adler, 60 Sekunden, Strom, Popsongs (Tafel 7) zentrale Phänomen der Elektrizität anwenden. Voigt sieht in der Elektrizität ein verbindendes Element, das alle in der Zeichnung auftauchenden Komponenten mit Energie auflädt. Stellt der Temperaturanstieg/-abfall ein rationales Messinstrument zur Organisation der Elemente dar, so versorgt die Elektrizität diese abstrakten Situationen mit Energie und Reizen. Sie stellt auch eine Kommunikation zwischen den ausgewählten Symbolen her. So finden sich Schwärme von Adlern in direktem elektrischen Kontakt mit sich wiederholenden Popmusikhits. Ihre tatsächliche Begegnung ist über die Zeitskala einer ganzen Minute hin angeordnet. Wir, die Betrachter, spüren die unterschiedlichen Stärkegrade der Elektrizität, die von der Anzahl der für die Ladung der Protonen benötigten Elektronen abhängt, geradezu körperlich. Diese elektrischen Felder, die die Kommunikation von Hirn und Nervensystem bestimmen, sind ständig in Bewegung. Dennoch bündeln sie gleichzeitig unsere mentalen und physischen Fähigkeiten . So wie die einzelnen Pflanzenzellen isolierte Informationen enthalten können, hängt auch die neuronale Struktur unseres Hirns von Spannungsunterschieden ab, die die Nerventätigkeit bestimmen . Man könnte also folgern, dass das Denken weniger einem einheitlichen biologischen Prozess, sondern vielmehr einer P o l a r i t ä t oder U n a u s g e g l i c h e n h e i t entspringt.
Kehren wir nun zum Vorstellungs-Raum, der Ausweitung des Gedankens zurück. In dieses Nichts bringt Voigt Sprache ein, eine Sprache, die immer im Präsens steht, wodurch also „alles in dem Moment geschieht, in dem man davon liest“ . So ist weder ein definitiver Anfang, noch ein solches Ende auszumachen. Die Idee der Unendlichkeit als Basis eines immerwährenden Prozesses, der sich entfaltet, erweitert oder gar ins Negative implodiert, bestimmt Voigts Denken.
Die realistischen Darstellungen der Serie Indonesia (Tafel 8) (für die Voigt alltägliche Geräusche in Jakarta, wie z.B. Bombenexplosionen, die sie durchs offene Fenster ihres Hotelzimmers hörte, zeichnerisch festhielt) und die fiktiven Strukturen der Arbeiten zu PERM (in denen die Detonationen aus Jakarta noch einmal als „Beats“ verarbeitet werden, die Küsse, die sich über eine bestimmte Zeitspanne hinziehen, rhythmisieren) werden durch die Serie Pfeile (Tafel 9) verbunden. Diese Zeichnungen, die während eines New York – Aufenthaltes entstanden, bestehen aus Hunderten winziger Pfeile, die massive, zielgerichtete Ströme bilden. Auf jeden Fall widerlegen sie das Klischee des Künstlers, der durch die Straßen flaniert um die Energie der Stadt wiedergeben zu können. Die Serie Pfeile entstand ausschließlich in der Abgeschiedenheit eines gemieteten Zimmers. Entstanden unter dem direktem Einfluss der Stadt, die ja direkt vor der Tür lag, haben diese Zeichnungen doch eher mit einer vorgestellten, möglichen Welt zu tun. Gleichzeitig stellen sie eine intensive, isolierte Suche nach einem zukunftsweisenden Weg dar, der sowohl das Kunstwerk als auch seine Schöpferin antreibt. Jorinde Voigt besetzt die Lücke zwischen gesellschaftlicher Normalität und einem persönlichen Vorstellungsreich. Die Künstlerin präsentiert sich uns als eine Person, die sich des Spannungsraums zwischen diesen beiden Polen sehr bewusst ist. Die Serie Pfeile scheint für diese introvertierte Jagd nach einer Zielrichtung zu stehen. Häufig tauchen in diesen Zeichnungen Energieströme auf, die in sich zusammenbrechen, was ihnen einen Aspekt des Entropischen und Kollabierenden verleiht.
Wenn jedoch für den Fortschritt die Implosion nötig ist, beschreiben die folgenden Arbeiten, 2 Küssen Sich (Tafel 10), Nautilus Series (Tafel 11), Colorado Series (Tafel 12) und schließlich PERM, einen neuen, utopistischen Mechanismus. Symbole, die Assoziationen wecken, werden in einem „Absichtslosen Spiel“ mit fiktiven und imaginierten Situationen zusammengefasst. Die Zeichnungen könnten auch als eine Art leidenschaftlicher „Traum“ gelesen werden, wobei Traum hier im modernen Sinne als „Zeit vor der Zeit“ oder „Zeit außerhalb der Zeit“ zu verstehen ist. In der „Traumzeit“ der Aborigines – die Vorstellung der Koexistenz aller Zeitebenen (die der Soziologe W. H. Stanner als „Everywhen“ , also etwa „Überimmer“, bezeichnete) – findet das Träumen in der Gegenwart und der Zukunft statt. Dies erinnert wiederum an Voigts oben zitiertes „alles geschieht in dem Moment ...“. Vom Standpunkt der australischen Ureinwohner aus betrachtet, ist Träumen also unbeteiligt und objektiv, wohingegen die Zeit (als lineares Konzept) als Bewusstsein über die eigene Lebensspanne im Wachzustand betrachtet wird (subjektive Wahrnehmung).
Ähnlich steht bei Voigt der subjektive, imaginäre Raum an der Schnittstelle zu einer objektivierten utopischen Vision, die von Elektrizität, Temperatur, Luftraum, Vögeln und Musik gespeist wird. Voigt äußerte sich einmal folgendermaßen zur Entstehung ihrer Kunst: „Was für andere Farbe ist, ist für mich kulturelles Material.“ Zeit scheint in ihren Zeichnungen zunächst objektiv, rational und linear zu sein, in ihren Bestandteilen, seien es sich wiederholende Explosionen, vorüberfliegende Flugzeuge oder die Anfangstakte des Top Ten Hits der nächsten Woche, wird sie jedoch subjektiviert. Interessant ist hierbei, dass in der rational ausgerichteten westlichen Kultur der Traum als subjektives Phänomen wahrgenommen wird, wohingegen Zeit als objektives, beherrschendes Konzept angesehen wird.
In Jorinde Voigts Zeichnungen scheint das „Everywhen“ evident zu werden. Ihre monochromen Systeme sind gegenwärtig und unendlich zugleich. Isoliert, eindringlich, voller Vorstellungskraft.
1 Aus: Evacuation of Fullness: Rauschenberg in the ́50s von Ed Krcma (Vorlesung)
2 Cages persönliche Interpretation des Effekts von Rauschenbergs weißen Leinwänden (Ed Krcma)
3 Eine schalltote Kammer ist ein echoloser Raum. Diese Definition bezog sich ursprünglich auf akustische (Schall-) Echos, die durch die Reflektion von den Raumoberflächen verursacht wurden. In jüngerer Zeit wird diese Definition auch auf die bezüglich Radiofrequenzen schalltote Kammer angewandt.
4 Zitat aus einem Gespräch mit Jorinde Voigt im Juni 2007
5 Jorinde Voigt, a.a.O.
6 1983 von Cage geschaffen
7 Wenn Punkte nicht verbunden sind und der Spannungsunterschied zwischen diesen Punkten groß genug ist, tritt eine elektrische Ionisierung der Atmosphäre ein und die Spannung sucht sich den Weg des geringsten Widerstandes
8 Joe Patlak und Ray Gibbons (Copyright 1998), Department of Physiology, University of Vermont
9 Jorinde Voigt, a.a.O.
10 Ein Begriff, den Cage zur Beschreibung seiner Musik benutzte. Er fügte noch hinzu: „Dieses Spiel ist eine Bejahung des Lebens – nicht der Versuch, Ordnung ins Chaos zu bringen oder der Schöpfung Verbesserungen vorzuschlagen, sondern sich einfach bewusst zu werden, dass das Leben, das wir leben so wunderbar ist, wenn man erst einmal das Denken und Wünschen außer Acht lassen und so das Leben sich entfalten lassen kann.“
11 W.H. Stanner, (1968) „After the Dreaming“ (ABC Boyer Lectures)