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KATHRIN GANSER
 

ECHOES, 09.10. – 14.11. 2020, SOLOAUSSTELLUNG KAUFBEURER KÜNSTLERSTIFTUNG (REVIEW I)

Der genaueste Globus der Welt

Die Arbeiten von Kathrin Ganser verweisen auf das kollektive Bildgedächtnis und erzählen von den komplexer werdenden Beziehungen innerhalb unserer digitalen Lebenswelt. Nach dem Prinzip des Found Footage eignet sich die Künstlerin Fundstücke aus dem Internet an und geht dabei neue Wege, um Bilder zu generieren, die sie anschließend zu eigenständigen Werken oder komplexen Raumgefügen arrangiert. Ihre multimedialen Arbeiten evozieren die Reflexion über Wahrnehmung, Wirklichkeit und die Vermessung unserer Welt.
Erdbeobachtungs- und Informationstechnologien wie die Satellitenprogramme „Landsat“ der NASA oder „Copernicus“ der European Space Agency dienen der zivilen Beobachtung der Erde. Sie werden hauptsächlich für die Kartierung natürlicher Ressourcen und der Erfassung von Veränderungen von Klima oder Wetter eingesetzt. Ausgangspunkt für die Arbeiten der Serie „Digitale Ruinen“ sind die 3D-Ansichten der Open-Source-Software Google Earth, die einen virtuellen Globus darstellt. Das Kartenmaterial von Google Earth speist und errechnet sich aus eben solchen Satelliten- und Luftbildern, die mit Geodaten überlagert werden.
Auf der Suche nach neuen Motiven bewegt sich Kathrin Ganser in der datenbasierten 3D-Welt ebenso wie im Stadtraum selbst. Um diese festzuhalten, benötigt sie nicht einmal eine Kamera, sondern allein die Screenshot-Funktion ihres Rechners. Ganser fängt die Momente ein, in denen das Programm Lücken erzeugt oder die Daten fehlerhaft verrechnet hat. Dabei entstehen malerisch anmutende, abstrakte Kompositionen, die Kathrin Ganser hochwertig produzieren lässt und wie Gemälde gerahmt präsentiert.
Bei jeder Art künstlerischer Aneignung stellt sich immer auch die Frage nach Autorschaft und Urheberrecht. Liegen diese nun bei der Künstlerin oder bei den Anbietern, die die Daten zur Verfügung stellen? Die uneingeschränkte Verfügbarkeit im digitalen Zeitalter hat eine ganz neue Form des Prosumers – gleichzeitig konsumierend und produzierend – hervorgebracht. Die Aneignung von Informationen aus dem Internet via Copy-Paste ist zur alltäglichen Handlung geworden. Niemand hinterfragt Eigentumsverhältnisse. Themen wie Reproduktion, Originalität, Aura und Authentizität scheinen überholt.
Kathrin Ganser verfolgt ihre ganz eigene Bildstrategie. Sie wählt außergewöhnliche Perspektiven und sucht das Fehlerhafte. Sie entwickelt originäre Konzepte und produziert eigenständige künstlerische Arbeiten, die in jedem Fall urheberrechtlich schützenswert sind. In ihren Fotografien fixiert sie für immer den Moment, der einmalig ist. Bei Versuchen zu einem späteren Zeitpunkt die Aufnahmen zu wiederholen, fand sie bei ihrer Rückkehr an den selben digitalen Ort eine völlig andere Situation vor. Google Earth wirbt mit dem Slogan „der genaueste Globus der Welt“ zu sein. Die Software ist einer stetigen Optimierung unterworfen und wird unentwegt mit neuen Bildern und Informationen gefüttert, sodass sich das Bild unserer Welt ständig verändert und nie das selbe ist.
Außergewöhnliche Perspektiven und Sichtweisen auf unsere Welt wählt Kathrin Ganser auch in ihrer Werkgruppe „Something is Flying around“ aus dem Jahr 2020. Auf den kleinformatigen Arbeiten sind abstrakte Gebilde zu erkennen, die scheinbar schwerelos im Raum schweben. Diese blauen und zum Teil pinken Formen im Vordergrund bilden einen starken Kontrast zu den deutlich erkennbaren Motiven, wie der Blick aus dem Fenster oder Bäume am Wegesrand, im Hintergrund. Die Bilder wirken manipuliert oder collagiert, was sie jedoch nicht sind. Mit unseren konventionellen Sehgewohnheiten lässt sich die Kombination aus den scharfkantigen Objekten und den Fotografien zunächst nicht vereinbaren. Assoziativ versucht der Betrachter in ihnen Gesichter, Gebäude oder Skulpturen zu erkennen.
Auch in diesem Fall liegt den Arbeiten die Idee der Transformation eines dreidimensional gedachten digitalen Raums in eine zweidimensionale Bildfläche und die gleichzeitige Übersetzung zahlencodierter Information in eine materielle und greifbare Manifestation im realen Raum zugrunde.
Gegenstände sollen sich anhand einer fotobasierten App scannen lassen, die die Informationen anschließend in digitale Modelle verrechnet und auf diese Weise die Grundlage für beispielsweise den 3D-Druck liefert. Der Algorithmus lässt etwas Neues, oftmals fehlerhaftes entstehen.
Kathrin Ganser lässt die, durch die App generierten Modelle, vor dem jeweiligen Hintergrund in Echtzeit auf dem Display ihres Handys erscheinen. Sie komponiert den Bildausschnitt solange, bis sie diesen durch einen Screenshot festhält.
Der Versuch, sich selbst in dieser Welt zu verorten, verbindet alle Arbeiten Kathrin Gansers miteinander. Die mehrteilige Installation „mirrors, perspectives and time capsules“, die extra für die Ausstellung in der Kaufbeurer Künstlerstiftung entstanden ist, setzt sich aus einer Tischvitrine mit einer verspiegelten Oberfläche und Glassturz sowie darin enthaltene Objekte wie ein Fotoalbum, Stücke von Mauerwerk und eine Satellitenansicht einer Straße, zusammen. Der konkrete Ort Kaufbeuren, der Raum, als auch die Zeit selbst, werden in dieser Arbeit zum Inhalt.
Im Bild des Spiegels liegen zahlreiche Deutungsebenen verborgen. Spiegel werden seit Anbeginn in der bildenden Kunst nicht nur als Motiv verwendet, sondern auch auf metaphorischer Ebene reflektiert. Der deutsche Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin sah im Spiegel die Möglichkeit neue Erfahrungsräume zu erschließen. Wenn der Betrachter in den Spiegel blickt, so wird der Raum hinter ihm als vor ihm liegender gespiegelt. Dabei evoziert der Spiegel eine neue Beobachterrelation. Die optisch-physikalische Anordnung ist in der Lage, den Blick des Wahrnehmenden zu dezentralisieren und zu erweitern. Der Spiegel eröffnet dem Unbewussten eine optische Projektionsfläche.
Die Künstlerin zeigt, mit zeitlicher Distanz zum Geschehen, Bilder aus ihrer Kindheit in Kaufbeuren. Darauf zu sehen ist sie selbst auf dem Dach ihres damaligen Wohnhauses. Die Straße auf dem Satellitenbild ruft in ihr Erinnerungen an die Fahrt mit dem Auto nach Kaufbeuren wach und die Ziegel sind Bruchstücke der Stadtmauer Kaufbeurens, die ihre Familie vor Ort gesammelt hat. Nicht nur der Spiegel, sondern auch die Erinnerungsstücke innerhalb ihrer Zeitkapsel erlauben es Kathrin Ganser grundlegende Konzepte der Philosophie, des Mediums Fotografie und unserer Sehgewohnheiten zu hinterfragen.
Die analogen Bilder im Fotoalbum verblassen. Im chemischen Prozess der Auflösung verflüchtigt sich das Bild unaufhaltsam vor unseren Augen, so wie Erinnerungsbilder graduell verblassen. Sie werden zu Metaphern für Bilder, die wir in unserer Erinnerung mittragen, die sich nach und nach verändern und zu einer Essenz des Erlebten transformieren. Zudem ist dem Medium der Fotografie eine neue Gegenwärtigkeit im Moment der Betrachtung immanent. Das fotografische Zeitbild leistet eine ununterbrochene Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit.

Text: Jana Schwindel, (H2-Zentrum für Gegenwartskunst) 2020