TERRESTRE, 10.08 – 09.09.2018, SOLOAUSSTELLUNG KUNSTHALLE KEMPTEN
Vom Raum in den RaumVor über 200 Jahren formulierte Immanuel Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ eine Definition für den Begriff „Raum“. In dem Abschnitt hierzu heißt es:
„Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei [...]. Der Raum ist kein discursiver, oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung“
Interessanterweise stellte Kant seine Beschreibung des Raums an den Anfang seiner umfangreichen Abhandlung. Für den Philosophen ist die Verortung dermaßen essenziell, dass sie in seinem Text noch vor der „Zeit“ steht. Auch die biblische Genesis beginnt mit der Erschaffung räumlicher Koordinaten. Schließlich erschuf Gott am Anfang Himmel und Erde.
Räumliches Denken, Sehen und Erleben ist eine wesentliche Grundvoraussetzung menschlicher Wahrnehmung und lässt sich, wie Kant erkannte, nicht wegdenken. Er ist eine faktische Gegebenheit, die wir mathematisch vermessen können und deren Aufbau präzise bestimmbar ist. Mit technischen Hilfsmitteln vermag der Mensch die Höhe, Tiefe, Breite und Ausdehnung festhalten.
Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner räumlichen Umgebung ist durch eine innere Ambivalenz geprägt. Denn die Vermessung des Raums und die Bilder, die wir uns von ihm machen, sind Konstruktionen. So rational und präzise diese auch scheinen mögen, sie können niemals einen endgültigen Absolutheitsanspruch für sich beanspruchen. Hinzu kommt, dass unser Raumverständnis meist nicht rein mathematisch ist, sondern durch soziale, politische, historische, gesellschaftliche oder subjektive Aspekte geprägt wird.
Raum, so lässt sich festhalten, ist gleichermaßen stabil und wandelbar, faktisch und subjektiv.
Die Künstlerin Kathrin Ganser widmet sich in ihren Werken diesem spannenden Wechselspiel und lotet dabei den Grenzbereich zwischen Raumbildern und Bildräumen aus. Hierzu nutzt sie fotografische und digitale Abbildungen realer Orte und Gebäude. Das Ausgangsmaterial wird danach von ihr künstlerisch umgeformt oder unbearbeitet als digitales Fundstück ausgedruckt und präsentiert.
Ein Beispiel für Letzteres ist die Serie „Digitale Ruinen“. Die Werke dieser Reihe basieren auf Google Earth-Daten. Für die aktuell kostenfreie Software werden Satelliten- und Luftbilder genutzt, um ein virtuelles Höhenmodell der Erde zu produzieren. Auf den ersten Blick sind die Bilder, die der Onlinekonzern präsentiert, die bestmögliche und präziseste Vermessung der Welt, die es je gab. Allerdings lässt sich immer wieder feststellen, dass sie lückenhaft ist und Fehler aufweist. Ganser findet diese Unvollständigkeiten und macht sie sichtbar. Ein Beispiel ist die Bodenansicht #2, (Reiterstandbild / Otto I., Landsat Sculpture), 2018 (aus der Serie Digitale Ruinen). Zu sehen ist eine Aufnahme der Bayerischen Staatskanzlei. Vor dem Gebäude an der Ostseite des Hofgartens in München befindet sich ein Reiterstandbild Otto I.. In der abgebildeten Perspektive, welche die Künstlerin am Bildschirm fand, ist die Skulptur nicht als solche zu erkennen, sondern erinnert vielmehr an abstrakte Malerei. Ganser entdeckt das ästhetische Potenzial dieser fehlerhaften Simulationen. Sie nimmt dabei keine weitere Manipulation vor. Die künstlerische Aneignung lässt es zu einem Hybrid realer Abbildung und ästhetischem Bild werden. Dadurch gleicht das Werk einem virtuellen Readymade, das aussagekräftig unsere Gegenwart kommentiert. Spannend ist, dass hierfür bewusst ein konkreter, aktueller Ort weltlicher Macht und ein Verweis auf einen vergangenen Machthaber gewählt wurden. Alleine diese Kombination gibt Auskunft über unser Weltverständnis. Doch im digitalen Zeitalter verschiebt sich das Machtverhältnis und wird zunehmend ungreifbar. Die „digitalen Ruinen“ Gansers kommentieren diese Verschiebung und machen auf die Fehlbarkeit dieser Systeme aufmerksam.
In der Ausstellung „terrestre“ in der Kunsthalle Kempten 2018 zeigte Ganser die Arbeiten aus der Serie „Digitale Ruinen“ auf Bodenpodesten, sodass die Besucherinnen und Besucher von oben auf die Drucke schauen betrachten mussten. Diese Art der Präsentation ist zugleich ein Spiel mit Wahrnehmungs- und Betrachtungsperspektiven. Normalerweise sehen wir virtuelles Kartenmaterial am Computerbildschirm oder auf dem Display des Smartphones in vertikaler Position. Das Auge der digital aufwachsenden Generation hat sich längst daran gewöhnt, ein Territorium nicht von oben zu betrachten. Ganser verkehrt dieses Verhältnis und erlaubt nun wieder den Blick auf ein Territorium von oben, wie es auch von den Satelliten aufgenommen wurde. Statt eines dreidimensionalen Modells eines Gebiets, bleibt die Darstellung aber flach und unterstreicht den künstlichen, konstruierten Charakter der ursprünglich digitalen Bilder.
Die Serie „Digitale Ruinen“ stellt einen besonderen Beitrag zum Thema Autorschaft dar. Spätestens seit der Postmoderne und speziell durch die Texte des Poststrukturalismus, wesentlich beeinflusst durch Roland Barthes‘ ikonischem Text „Der Tod des Autors“, ist die Bedeutung eines alleinigen, künstlerischen Urhebers in Frage gestellt worden. Gansers Werke mit Google-Daten gleichen Objets Trouvés, digitalen Fundstücken, die durch seine Integration in den Kunstkontext eine enorme Erzählkraft erhalten und ein Sinnbild unserer heutigen Raumwahrnehmung werden, gleichzeitig aber auch auf deren Unvollständigkeit hinweisen.
Die künstlerische Konstruktion von Räumen ist auch Kern anderer Arbeiten Gansers. In der Reihe der sogenannten Gyro-Scans arbeitet die Künstlerin mit Fotografien realer Orte. Mit einem speziell von der Künstlerin für die künstlerische Arbeit verwendetes und von einem Designer individuell entwickeltes Programm, basierend auf einem open source Skript das Raum und Zeit in 3D Daten transferiert, transformiert sie Screenhots zu neuen Bildern. Es wird gedreht, die Perspektiven klappen zusammen und wirken wie Ausschnitte aus kartografischem Material. Durch die künstlerische Umformung wird der Blick auf spezifische Merkmalen der gebauten und natürlichen Umwelt geworfen ohne dabei abbildhaft zu werden. Mit etwas Abstand wirken die Ausdrucke wie abstrakte Collagen. Erst mit genauerer Betrachtung lassen sich architektonische Details ausmachen, die jedoch meist nicht auf den zu Grunde liegenden Bau schließen lassen. Vielmehr wird das Repertoire alltäglicher Stadterfahrungen ausgelotet. Dadurch werden die Werke zu Sinnbildern eines gegenwärtigen Zustandes. Die Arbeiten bewegen sich im Grenzbereich von faktischer Bestandsaufnahme und subjektivem Raumerleben und weisen auf die Instabilität und die ständige Transformation von Räumen hin.
Doch nicht nur unsere Räume sind von dauerhaftem Wandel geprägt. Auch die Arbeiten Kathrin Gansers werden von der Künstlerin immer wieder weitergedacht. In einer neuen Serie Faltungen # 1 – 3, aus der Serie Faltungen / Sculpture Scans, seit 2018 nimmt sie die digital konstruierten Bilder, druckt sie aus und faltet sie zu dreidimensionalen Gebilden, die danach wieder eingescannt und zu einer neuen fotografischen Arbeit werden. Dieser Vorgang gleicht einem Fotografieren ohne Kamera, bei denen auf zweidimensionalen, digital gestalteten Werken basierende dreidimensionale Objekte wiederum mit einem dritten Medium in die Zweidimensionalität überführt wird. Das Ergebnis ist damit ein Remix des Remix, welches die Vielfalt der räumlichen Dimensionen durch ein gleichwertiges Nebeneinander unterschiedlicher künstlerischer Medien und Betrachtungsweisen illustriert. Gleichzeitig ist diese künstlerische Herangehensweise eine spannende Auseinandersetzung mit den Koordinaten Fläche und Raum, welche die bildenden Künste schon immer beschäftigte.
Der Wechsel von virtuellem zum dreidimensionalen Bild und wieder zurück lässt die Details des Ausgangswerks noch weiter verschwinden und zunehmend abstrakt werden.
Zu den digitalen Fundstücken, dem digitalen Bearbeitungsprogramm, der dreidimensionalen Faltung und dem Scan gesellt ein weiteres Medium, das des Videos. Für die Arbeit Raw Scan Loop, 2013 filmte Ganser die Bewegungen der Flächen in ihrem Computerprogramm. Dadurch wird zum einen deutlich, dass die Ausdrucke tatsächlich auf räumlichen Gebilden basieren. Die Gyro-Scans sind demnach nur eine Momentaufnahme eines zur Fläche gewordenen Körpers. Ihre Rückseiten bleiben den Betrachterinnen und Betrachtern verborgen und offenbaren sich erst durch die Videoarbeit. Zum anderen spielt die Künstlerin damit auf die Virtualität unserer Wahrnehmung an.
Jedes Medium, mit dem versucht wird Raum wiederzugeben, so könnte man schlussfolgern, ist jeweils nur eine von mehreren Optionen. Jede Form der Weltaneignung hat seine eigenen Darstellungsmodi, kann aber nie den Anspruch auf Vollständigkeit haben.
In beeindruckender Weise vermischt Kathrin Ganser in ihrer Kunst Virtuelles mit Realem, Konkretes mit Abstraktem, Skulptur und Fotografie mit gefundenen Materialien, Raumbilder mit Bildräumen. Inmitten dieser Grenzbereiche befinden sich die zeitgenössischen Betrachterinnen und Betrachter, die dazu angehalten werden, die Komplexität von Raumvorstellungen unserer Zeit zu reflektieren.
Text © Marco Hompes (Museum Villa Rot /Museum Heidenheim), 2018
terrestre, Kunsthalle Kempten
10.08 – 09.09.2018