FAKE NATURE | GESINE BORCHERDT 2019
Nun ja. Paradiesisch ist der Zustand der Natur nach zweihundert Jahren Industriekapitalismus nicht gerade. Doch auf absurde Weise gilt bis heute, was der frühromantische Maler damals in den Blumen und Gewächsen sah: den Menschen. Allerdings sind es nicht mehr nur sein Geist oder seine Empfindungen – sondern vor allem die Gifte, die er in die Erde leitet. In der Ära des Anthropozäns – der von der Zivilisation irreversibel veränderten, zerstörten und zu neuen Formen mutierenden Natur – ist der Mensch überall anwesend. Sein Plastik schwimmt in den Meeren, sein Touristenmüll bedeckt die Berge, seine Wiesen färbt er künstlich grün, er bespritzt seine Felder mit Pestiziden und verleibt sich Tiere ein, die Plastik schlucken und deren Fleisch Antibiotika enthält. Keine Blume und kein Baum, die nicht von Abgasen umflort und mit Chemikalien getränkt wären.
Vergangenheit ist daher der unterscheidende Blick des Romantikers: Natur als Gegenpol zur Technik, als Metapher für Erhabenheit, für das Ursprüngliche und für die ewige Erneuerung ist heute nicht mehr gültig. Biologie, Geologie und Technologie sind eins geworden, Synthetisches und Organisches fließen ineinander. Wenn, wie Runge meint, in allen Blumen und Bäumen ein „gewisser menschlicher Geist“ steckt, dann ist es einer, der die Erde als Rohstoff betrachtet und sich allein an ihrem Nutzen orientiert. Das Paradies ist zerstört.
Die neuen Bilder von Klaus Jörres spiegeln diesen kalten, distanzierten Blick auf die Erde. Erstmals, wenn auch auf semi-abstrakte Weise, haben Naturdarstellungen Eingang in seine Malerei gefunden. Ohne die für seine Malerei typische, technoide, aus seriellen 2,2 cm breiten Längsstreifen aufgebaute Ästhetik zu verlassen, ist bei Jörres plötzlich Land in Sicht – „Grünland“, wie der Titel seiner Ausstellung sagt. Schemenhaft zeichnen sich am Horizont Berge und Wiesen oder eine Rückenfigur vor der Landschaft ab, einzelne Grashalme werden herangezoomt. Kunsthistorisch bewegen wir uns also in der Tradition der Romantik. Doch Jörres‘ Bilder vermitteln in ihrer Sterilität und Künstlichkeit keinerlei Transzendenz. Landschaft ist heute kaum noch denkbar ohne ihre Ausbeutung und Mutation. Es macht sich ein Unbehagen breit in diesen Bildern. Entsprungen auf der Basis eines Bildbearbeitungsprogramms, schauen sie auf unheimliche Weise in die Zukunft. Was wir sehen, schwebt in verlorenen, nicht greifbaren Räumen – zum einen, weil unberührte Natur eben nicht mehr greifbar ist. Und zum anderen, weil wir in artifiziellen Welten Surrogate gefunden haben, die perfekter sind als das Original. Eine Leinwand von Klaus Jörres zu betrachten, das ist, als würde man in einen halluzinogenen Strudel geraten: Die Streifen lassen Farben, Flächen und Formen hin- und her kippen, wie bei einer Bildstörung. Ohne jedes Zutun wird das Bild zum Prozess, ist im Rausch der Bewegung, so lange, wie das Auge ihm standhält. Jörres Bilder sind Täuschungen: Sie katapultieren uns in Landschaften und saugen uns wieder aus ihnen heraus – und wollen doch nie etwas anderes sein außer Farbstreifen, die den Blick irritieren und uns im Limbo zwischen Tiefe und Oberfläche zappeln lassen.
Bisher erinnerten Jörres‘ Bilder eher an urbane Räume. In ihrer technoiden Sterilität brachten sie das Auge zum Tanzen wie die Lightshow eines Technoclubs und holten Graffitispuren auf schwarz-weiße Bildraster wie hohle Gesten auf Hochhausfassaden. Mit dem Schritt in die Natur folgt Jörres der Suche des ermatteten Metropolenmenschen nach Authentizität, wie sie schon vor 200 Jahren die Romantiker, vor 100 Jahren die Anthroposophen und vor fünfzig Jahren die Hippies betrieben: emsig, sehnsüchtig, verzweifelt. Der Berliner Maler hingegen ist abgeklärt: Seine Landschaften sind Fake News. Wer hier nach Wahrheit sucht, wird lange umherirren. Er wird versuchen, die Bilder in seinem Kopf zu Ende zu malen und eigene Assoziationen zu finden, die an Berge und Wiesen erinnern, und landet doch nur bei Farbstreifen und simplen, computergenerierten Schemata. Naturdarstellung und Technologie sind eins – und geben, nach einigen Täuschungsmanövern, nicht vor, etwas anderes zu sein. Eine Versenkung in die Landschaft ist nicht möglich. Natur fühlt sich so ausgedacht und körperlos an wie die Hügel und Wiesen in einem Computerspiel oder wie bei einem flimmernden Bild auf dem Monitor, nachdem sich der Server aufgehängt hat. Was seltsamerweise so entsteht, ist ein Retro-Effekt: Der Verfall, der jeder Technologie eingeschrieben ist, ist in diesen Bildern spürbar wie ein Fehler im System. Fühlte einst der Mensch beim Blick in die Landschaft seine eigene Vergänglichkeit und ließ sich vom Kreislauf der Natur erschüttern, wartet nun ihr synthetisches Abbild darauf, von der neuesten Simulation abgelöst zu werden. Wie die Natur sich permanent erneuert, so tut die Technik es auch.
Jörres‘ Leinwände spiegeln diesen Verlauf auf ernüchternde Weise: In ihnen spürt man die Diskrepanz zwischen dem Bild einer zerstörten und der Simulation einer perfekten Natur. Ihre Authentizität gibt es nicht mehr. Fern von jeder Melancholie zeugen Jörres‘ Naturdarstellungen vom ständigen Scheitern: des Planeten, der gegen den Menschen verloren hat. Der Technik, die nie vollkommen ist. Und des Menschen selbst, der sich selbst den Raum zum Atmen nimmt. Der Abstand, den uns Jörres beim Betrachten seiner Bilder einzuhalten zwingt – weil sie in der Nähe ihren Zusammenhalt verlieren und zu bloßen Farbstreifen werden – entspricht der Distanz des Menschen zur Welt, zu den Dingen und zu sich selbst.
Die Bilder auf Rollgestellen zu montieren, ist das ultimative Sinnbild einer Haltung, die im Grunde längst Alltag ist: Wir schieben Natur von uns weg oder ziehen sie hervor, wie es uns gerade passt. Als schematisiertes Abbild ist sie bloße Dekoration, die wir nach Belieben ins Blickfeld rücken können. Vertieft sich der Metropolenmensch in die Berglandschaft unterm Abendhimmel, seinen Green Smoothie aus dem Plastikbecher schlürfend, ist der Himmel eine Ozonglocke, die sich über eine Müllhalde wölbt, und unter den Wiesen ist der Boden verseucht. Kälter kann der Blick in die Landschaft kaum sein.
Gesine Borcherdt 2019