NICOLAS SIEPEN, 'ABSTRAKTES LEBEN AUF VIRTUELLEN BAUSTELLEN', IN THOMAS WULFFEN AND DIETER BECHTLOFF (ED.), "FIKTION DER KUNST DER FIKTION", KUNSTFORUM INTERNATIONAL, BD. 202, RUPPICHTEROTH, 2010.
Aus der Sicht künstlerischer Produktion ist die Herstellung von Bildern eng an die Mediengeschichte geknüpft, ohne jedoch in ihr aufzugehen.Weil jedes artifizielle Bild bereits selber ein Medium ist, wird es nicht einfach von einer neuen Technik der Bilderzeugung in den Dienst genommen oder geschluckt, sondern geht andere Verbindungen zu sich selber und damit zu seiner Umgebung ein. Bilder sind also nicht nur deshalb genuin gesellschaftlich, weil sie in einem bestimmten sozialen Kontext entstehen, sondern weil dieser selber sich ohne die Produktion von Bildern nicht konstituieren ließe. Produktion, Bild/Medien und Rezeption sind so eng ineinander verschlugen, dass jeder Versuch, sie theoretisch voneinander zu trennen oder gar eine gültige Hierarchie unter den Komponenten zu etablieren, Gefahr läuft, einer Idealisierung zu verfallen und die Unreinheiten und Vermischungen zu kaschieren.
Die artistische Praxis von Maja Weyermann stellt sich dieser Komplexität auf besondere Weise, weil ihre computergenerierten „Interieurs“ die soziale Konstruiertheit von Räumen durch Wahrnehmungskategorien zum Ausgangspunkt wählt. Sie spielt mit einem multiplen Perspektivismus, der die Potenziale und Beschränkungen digitaler Medien auf ein traditionelles Sujet bezieht, einer Art Cyberkonstruktivismus, der ihre sedimentierte Realität in einem genau kalkulierten Manöver erodieren lässt.
Dabei verwirft die Künstlerin die im heutigen Kunstfeld so beliebten Verfahren des Bearbeitens und Verfremdens von vorgefundenen Bildmaterialien und wenn ihre Bilder eine äußerliche Nähe sowohl zur Fotographie, zum Film, zum Architekturmodell als auch zur Kollage aufweisen, so sind sie doch auch klar von diesen Verfahren unterschieden.
Ähnliches gilt auch für ihre Objektwahl. Maja Weyermann bedient sich der aufgeladen Bildercodes der Moderne, sowie sie in der Architektur des „Farnsworth House“ von Mies van der Rohe oder auch in einem baulichen Entwurf des Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein zum tragen kommen als ein Reservoir an Formen, dessen Mythen wie: Transparenz, Klarheit,
Funktionalität zwar aufgenommen, aber gleichzeitig in sich zerlegt und aufgelöst werden hin zu den „feinen Unterschieden“, aus denen sie einmal hervorgegangen sind.
All die flüchtigen, ständiger Wandlung unterliegenden Faktoren, die einen Raum definieren und also solchen erst entstehen lassen, jedoch gleichzeitig nur sekundäre Bestandteile der realen Planung und Herstellung seien können, werden in der virtuellen Baustelle zum Material selber.
Sie bilden einen Vordergrund, der den gesamten Bildraum bestimmt, so dass eine sehr luftige Atmosphäre entsteht. Durch diese Umkehrung in der virtuellen Räumlichkeit mischt sich in die zarten Farbkompositionen etwas Beunruhigendes. Die Gebäude, die Inneneinrichtung und die Außenwelt verbinden sich zu einem Komplex, in dem sich keine Personen aufhalten, aber dennoch so etwas wie ein abstraktes Leben anwesend bleibt. Der Titel der Arbeit „Absence“ (Farnsworth-house) verweißt auf diese Leere, die der Konstruktion ihre Konsistenz verleiht.
Koordinaten, Linien und Strukturen, die in diesem Gebäude den sozialen Gebrauch vorwegnehmen, organisieren und potenziell beschränken und einen gerade als Transparenz latent elitären Charakter formulieren, scheinen zu ihrer eigenen Realität verschoben und einer intensiven spektralen Wahrnehmung ausgesetzt, die bis in die Poren des Raums selber eingedrungen ist und dort lauert.
Das verleiht der Szenerie etwas Filmisches, eine Zeitlichkeit, die im „toten“ Bild gestaut wird und sich in verschieden Momenten eines abwesenden Geschehens überlagert und verschachtelt.
Man hat als Betrachter das unbestimmte Gefühl, in einen Tatort einbegriffen zu sein, der aber nicht auf ein Verbrechen verweißt, sondern die räumlichen Faktoren selber unter einen Verdacht stellt. Diese Dimension wird in der Bildserie „Luxus“ von 2002 noch gesteigert und konkreter ausgestattet. Als reale Matrix dient die kleine Off-Bar „Luxus“ in Berlin. Auch hier ist der Raum menschenleer. Auch hier werden die verschiedenen Aggregatzustände aktuell/virtuell, die die Zeitlichkeit der Realität ausmachen, im virtuellen Bild an die räumliche Dimension gebunden. Barhocker, die positioniert und gleichzeitig schon verschoben sind oder bald verschoben werden, die einen Ort haben und diesen schon freigeben, bevölkern den gekachelten Raum, der sich selber in einem zwiespältigen Zustand befindet.
Mit dem Philosophen Henri Bergson könnte man davon sprechen, dass das Virtuelle nicht dem Realen gegenüber steht sondern dem Aktuellen und somit als Virtualität selber schon eine volle Realität besitzt, die sich eben noch nicht aktualisiert hat.
Obwohl Maja Weyermann im virtuellen Raum arbeitet und dieser der realen Welt scheinbar entgegengesetzt ist, oder diese gar ersetzt, eignet sich gerade dieses Medium sehr gut dazu Gleichzeitigkeit visuell zu organisieren. Es ist so, als ob die Objekte, die zusammen den Raum bilden einen ihrer Teile im Virtuellen hätten und darin wie in einer objektiven Dimension eingelassen wären.
Marcel Proust, der sich bei seiner literarischen Suche nach der „verlorenen Zeit“ explizit auf Bergson bezogen hat, beschreibt solche Resonanzzustände als: „real ohne aktuell zu sein, ideal ohne abstrakt zu sein (...) und symbolisch ohne fiktiv zu sein.“ Unter völlig anderen auch technologischen Bedingungen wird hier von Maja Weyermann eine ähnliche Problemstellung wieder aufgenommen und auf der visuellen Ebene bearbeitet, wobei das Ideal, das von Proust der Abstraktion entgegengesetzt wird, bei ihr in den räumlichen Abstraktionen selber verortet und problematisiert wird.
Die Cyberschlange, die in einem der Bilder des Luxuszyklus in der Ecke liegt, erscheint hier als ein räumliches Detail, das den „Tatort“ von dem ich eben gesprochen habe, als konkrete Gefahr symbolisiert und dem abstrakten Leben des Raums ein Gesicht gibt.
In ihrer neusten Arbeit, die sich mit einem seltsamen Treppenaufgang aus Orson Welles Verfilmung von Kafkas „Der Prozess“ beschäftigt und eine regelrechte „Suche nach dem verlorenem Raum“ in Gang setzt, wird der Schwerpunkt der Frage: „was ist hier passiert?“ noch einmal hin zu den bürokratisch-räumlichen-juridischen Szenerien verschoben, die die Topologie der Romane Kafkas bilden und die bei Orson Welles eine beunruhigende räumliche Umsetzung gefunden haben.
Auch hier sind es nicht Personen, die in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt werden und von denen eine Antwort zu erwarten wäre, sondern ein räumliches Detail des bürokratischen Labyrinths, in das sich Joseph K verfängt, gleichzeitig aber auch von ihm selber geschaffen wird, weil er bei der Suche nach dem Grund für seine angebliche Schuld, nie sicher sein kann, dass alles nur für ihn inszeniert wurde, gerade weil er danach sucht und das Gesetz nur durch ihn selber hindurch wirken kann. So wie umgekehrt sein Wunsch nach Aufklärung durch die soziale und architektonische Form des Gesetztes strukturiert wird.
Indem die Künstlerin sich auf ein räumliches Detail dieses komplizierten Labyrinths konzentriert und sich von dem Protagonist abwendet, verschiebt sie die Perspektive auf die Frage nach den Bedingungen eines Bildes und inszeniert diese als ein Cyberdrama, das letztlich die Frage offen lässt, was sich „wirklich“ zugetragen hat, weil die Kategorie der Wirklichkeit hier nicht mehr funktioniert.