DIE KRALLEN DES JAGUARS WIDERSPENSTIGE KUNST AUS OAXACA
Seit Jahrhunderten mit kolonialer Unterdrückung vertraut, wehrt sich ein anderes Mexiko gegen jene Gewalt, mit der die Staatsbürokratie im Pakt mit den Erstweltlern die zumeist indigene Bevölkerung, deren Land und Kulturen ausbeutet. Sich mit solchem Kampf solidarisierende Kunst vereint zwei Aspekte mexikanischer Tradition: Die Bewahrung der eigenen Kulturen gegen Vergessen und Vernichtung sowie die Verschränkung von Kunst und Revolution. Ist dies das vom Westen verneinte Typische?
Oaxaca de Juaréz ist die Hauptstadt eines der ärmsten Bundesstaaten Mexikos. Seit 2006 sorgt dort ein für die ganze Republik exemplarischer Konflikt zwischen den sozialen Bewegungen und einem repressiven Staatsapparat für den permanenten Ausnahmezustand. Mitte August liegt die anmutige Stadt scheinbar friedlich im Tal der kräftigen Berge. Das Militär ist unsichtbar, die Barrikaden geräumt. Wenige Touristen flanieren zwischen frisch getünchten Kolonialbauten. Trügerische Ruhe nach wie vor dem Sturm.
Was tun Künstler in einer militärisch besetzten Stadt, in der Mord, Verhaftung und Verschwinden Alltag sind? Sie gehen dahin, wo ihre Werke gebraucht werden: auf die Straße. Bevor die Fassaden zum Schweigen gezwungen wurden, badete Oaxaca in einem bunten Meer von Graffiti: zumeist Arbeiten der Künstlergruppe Jaguar Arte in Interaktion mit der Bevölkerung. Diese vitale Kunst ist Teil der Revolte. Die politische Poesie auf Putz vereint Symbole, Gesichter und Parolen der ältesten und jüngsten Geschichte der mexikanischen Völker und ihres Befreiungskampfes. Setzt sich nicht hier wie an allen Mauern weltweit die Tradition der Muralisten fort, im voyeuristischen Kult um Frida Kahlo schon fast vergessen?
Impulse für Lebendigkeit und Widerstand kommen von den Menschen vor Ort, gerade auch gegen das zerstörerische Engagement der Wirtschaft. Beispielhaft hierfür ist Francisco Toledo. Mexikos wohl berühmtester lebender Maler ist zapotekischer Abstammung und die treibende Kraft der Initiative Pro-OAX, deren Ziel es ist, das Bewusstsein im Volk für die eigene kulturelle Identität zu schärfen. Der Initiative gelang es, statt der Errichtung eines Luxushotels im Kloster Santo Domingo das Museo de las Culturas de Oaxaca zu eröffnen. In dessen Garten wurden alle Zitronenbäume – kolonialer Import aus Spanien – gefällt und der Jardín Etnobotánico eingerichtet. Neben dem Bau einer Seilbahn zu den heiligen Stätten des Monte Albán verhinderte man die Eröffnung einer McDonalds-Filiale im historischen Stadtzentrum.
Von dieser feineren Art, berühmt zu sein, gibt auch der Maler Rufino Tamayo (1899-1991) Zeugnis. Ebenfalls zapotekischer Herkunft, stellte er sein Werk in die Traditionen seines Landes und Oaxaca verdankt ihm eines der schönsten Museen Mexikos, das Museo del Arte Prehispanico de Mexico Rufino Tamayo. Nur ein Bruchteil der Zeugnisse vorkolonialer Kulturen konnte vor der Zerstörung durch die spanischen Eroberer bewahrt werden. Das Museum birgt Tamayos beeindruckende Sammlung von Stücken indianischer Vergangenheit. Als zeitlose wie originale Kunstwerke präsentiert und arrangiert, befreit er die magischen Steine aus ihrer üblichen musealen Inhaftierung und verleiht deren Energie und Schönheit eine würdige Stimme.
Oaxacas Kultur wehrt sich gegen Resignation und Vereinnahmung, schafft sich Raum und öffnet Türen. Das kommunale Kulturzentrum und zahlreiche kleine Galerien geben den ansässigen Künstlern einen Ort für Begegnung und Mitteilung. Die Galerie Arte Cocodrilo beispielsweise zeigt nicht nur provokante, raumgreifende Ausstellungen, sondern unterhält eine offene Druckwerkstatt sowie eine Internetplattform zur politischen Information. 1988 gründete Toledo das Instituto de Artes Gráficos mit einer Sammlung von mehr als 9000 Grafiken und 1996 entstand das Centro Fotográfico Álvarez Bravo mit Ausstellungssälen, Arbeits- und Ausbildungsstätten, Biblio- und Mediathek. Im Museo de Arte Contemporaneo de Oaxaca, internationalen Künstlern ebenso wie jenen der Region offen, verarbeiten die jungen mexikanischen Künstler Enrique Jezik und Iván Edeza in großen Installationen die jüngsten Ereignisse ihres Landes, erzählen unpathetisch von sozialer Zersplitterung und Gewalt. Edezas Videoloop Escuela Oaxaqueña zum Beispiel dokumentiert subversiv den temporären Sieg der Farbenindustrie über Oaxacas street art.
Die Kunst in Oaxaca ist tief und kräftig. Sie bedarf keiner Neudefinition. Als Ritual wird sie zu einer Quelle im Kampf um Selbstbehauptung eines unterdrückten Wir. Das Gedächtnis an Tradition verbindet sich mit kritischer Reflexion zu Formen, die ein Erinnern der Zukunft und eine Bewusstheit des Augenblicks ermöglichen. Momente aufkommender Verzweiflung werden schöpferisch verwandelt. Wie der Oaxaqueño mit dem programmatischen Künstlernamen Boris Spider, der den Kindern der Stadt das Überleben mit Kunst und vice versa lehrt. Und der mit keinen Mitteln und viel Phantasie aus seiner Hütte in einer von Oaxacas Favelas einen bunten Palast zaubert. Jener palacio ist offener Ort für Fiestas ohne Ende.
Während bei Spider vor einer zur Palastwand umfunktionierten Barrikade – eine Kopie von Picassos Guernica – noch ausgelassen getanzt wird, laufe ich durch die sonntagmorgendlich leeren Straßen. Plötzlich beginnen die Häuserwände wieder zu sprechen, ich erblicke taufrische Graffiti. Jaguare lassen sich nicht dressieren. Möge sich „Folklore“ weltweit erheben und international solidarisieren. Für eine Emanzipation von den neokolonialen Dompteuren.
September 2007