KINDER DES KALTEN, PATEN DES HEISSEN KRIEGES. ZUR SITUATION DER KÜNSTLER IM EUROPAS WEITEM OSTEN.
Art Forum Berlin, 2002. Durch die reichlich dekorierten Messehallen drängen sich die irrenden Flaneure. Der slowakische Künstler Richard Fajnor sitzt am Boden des kommerziellen Spektakels, mit dem Rücken an die Kojenwand seiner Galerie, der Priestor Galerie aus Bratislava gelehnt, vor sich einen Teller und ein Schild mit dem Wortlaut: „Bitte helfen Sie mir. Ich bin ein Künstler und habe Hunger.“ Fajnor ist einer der vielen (osteuropäischen) Künstler, welche die eigenen miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen ins Zentrum ihres künstlerischen Schaffens rücken. – Selbe Zeit, selber Ort: Die Moskauer Künstlerin Elena Kovylina veranstaltet mit Berliner Kindern eine Prozession mitten durch die merkantile Flut der Bilder und deren Sammler hindurch, um Geld für obdachlose Kinder in Rußland zu sammeln. Kovylina arbeitet seit mehreren Jahren mit Obdachlosen in ihrer Heimat. Sie gründete eigens zu deren Unterstützung das Komitee Rotes Heim und ihr Projekt war eines, das gesellschaftliche Mißstände nicht ästhetisierend illustrierte, sondern versuchte, dem künstlerischen Akt einen eingreifenden Moment abzuringen.Das Ende des Kalten Krieges und der Beginn der radikalen Kapitalisierung der Ostblockstaaten bedeuteten die Aufhebung staatlich subventionierten und diktierten Kunstschaffens sowie das Ende eines kritischen Dissidententums. Die junge Künstlergeneration Osteuropas war verunsichert und fand weder einen geistigen noch materiellen Halt innerhalb ihrer Heimat(losigkeit). Ihre Väter schlitterten noch orientierungsloser als sie in die postsozialistische Zeit. Der Staat hatte kein Geld mehr für die soziale Sicherheit seiner Bewohner, geschweige denn für den Luxusartikel Kunst. War auf jenem Trümmerfeld des Realsozialismus wirklich nur ein einziger Wegweiser auszumachen? Die Versprechen eines westlichen Kulturbetriebes hießen: Anerkennung und Wohlstand. Seine Bedingungen lauteten: hundertprozentige Anpassung an dessen Normen und Trends. Nach einem lange währenden Desinteresse wurden Köder in Form zahlreicher Stipendien und Ausstellungen ausgelegt. Viele dieser Wohltätigkeitsprogramme mögen gut gemeint und von wirklichem Interesse motiviert sein, doch ihre Summe ergab zwei generelle Absichten: die allmähliche Indoktrinierung westlicher Kultur und das Aufpolieren von deren Langeweile durch den exotischen Schimmer des „Andersseins“, des „Aus-dem-Osten-Seins“. Die Künstler wurden mit Almosen weichgespült und kreierten ihr neues Selbstbild: Herkunft wurde zum Label offener Hände und spekulativer Anpassung. Zum anderen drückten ihnen Förderrichtlinien und geopolitisch ausgerichtete Ausstellungen den Stempel „Osteuropa“ auf. Absicht wie Folge dessen stellten sich in einer Art Gettoisierung dar, die jenen Kulturen nicht nur ein privates sondern auch ein kollektives Selbstwertgefühl nahm. Soros – der mit seiner Stiftung auch in Bildung und Forschung der jungen Generation des Ostens investierte, um Aufbau bzw. Erhalt einer eigenständigen wirtschaftlichen und kulturellen Existenz in den jeweiligen Ländern zu unterstützen – reduzierte seine finanzielle Förderung auf dem Gebiet der Kunst in den letzten Jahren so drastisch wie enttäuscht. Die Gründe hierfür kann sich jeder selbst zurechtlegen. Denn(och,) die Medaille hat zwei Seiten: Die soeben aus realsozialistischer Bevormundung Entlassenen ergaben sich dem Diktat des westlichen Kunstmarktes. Wo nicht dem Vergessen preisgegeben, wurden die Auftragskünstler zu Dienstleistern der neuen Order und die Dissidenten von gestern die Kulturbürokraten von heute. Die „Künstlerkinder des untergegangenen Ostens“ folgten dem verheißungsvollen Ruf des Westens und ahmen mehr oder weniger unbeholfen das nach, was als die „Weltkunst des 21. Jahrhunderts“ gepriesen wird. Die Namen des zeitgenössischen Kunstolymps, die sie aus den Teilnehmerlisten der massenhaften Biennalen entnehmen, flüstern sie sich ehrfurchtsvoll ins Ohr wie einst die Namen von Revolutionären oder Oppositionellen. Blieb und bleibt ihnen wirklich keine andere Wahl, als noch mehr Kopien des trivialästhetischen Nichts transatlantischer „Leitkultur“ zu produzieren? Eine – auch und gerade kritische – eigene Tradition wurde ad acta gelegt, weil es das, was diese prägte, nicht mehr gibt und schnell vergessen werden sollte. Eine zweifellos überall existierende und somit auch unter neuen Bedingungen mögliche und notwendige kritische Tradition wurde überblendet von der neuen alten Lüge. Erkannten und erkennen sie nicht die affirmative Gewalt dieser Dekorationsmaschinerie, welche die Realität mit falschen Versprechen aushöhlt und verklärt?
Was haben Kovylina und Fajnor gemeinsam? Wie viele andere weltweit haben sie sich für den Beruf des Künstlers entschieden. Diesen als Berufung ausüben zu können, heißt heute, sich von ihm als Beruf zu trennen. Oder umgekehrt. Die – materiellen wie intellektuellen – Bedingungen dafür, beides zusammen zu realisieren, sind wahrlich schlecht in Zeiten des „Liberalismus“. Mit Hilfsjobs die Berufung zu ermöglichen, ist für keinen Künstler befriedigend. Der Gedanke, daß dies doch auch zu einer unabhängigeren und kritischen künstlerischen Stimme führen könnte, wird zur Aporie in dem Moment, wenn man sieht, wie doch nur eine Warteschleife finanziert wird, während man auf den großen Sprung hofft, um berufliche Karriere in der Unterhaltungsindustrie zu machen.
Was unterscheidet Kovylina und Fajnor? Fajnor muß sich seit Mai 2004, als sein Land der EU angegliedert wurde, nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, ob es Privileg oder Schande ist, ein „Kind aus dem Osten“ zu sein. Die besonderen Zuwendungen und Ausgrenzungen fallen weg und Kultur zählt nun zum zu integrierenden Dienstleistungssektor. Nicht umsonst sprechen deutsche Kunstkritiker schon von preiswerten Pendants der Leipziger Schule aus dem Billiglohnland Polen. Dieser kulturindustrielle Aspekt der Globalisierung reicht längst über EU-Grenzen hinaus. Fajnor hat nun die Wahl zwischen Anfertigung von Kulturstandards zu Tiefstpreisen oder der Praktizierung seiner Tellerperformance in reality. Oder: to go underground.
An dem Land der Kovylina beißt sich unionseuropäischer Demokratisierungs- und Kolonialisierungswahn bis heute die Zähne aus. Denn die ehemalige Machtzentrale des Ostblocks fand nach Scheitern des realsozialistischen Experiments längst ihren eigenen Weg und installierte den neurussischen Hyperkapitalismus und richtete sich autokratisch darin ein. Die Existenzbedingungen für die Kultur folgen auch hier neuen Diktaten. Die Dienstleistung am schrillen Lifestyle für die neuen Russen hat Hochkonjunktur und bringt eine kleine Mittel(maß)klasse hervor, die sich in der Medienindustrie hoch- und abarbeitet. Dahin wanderten die ab, die an hiesigen Kunsthochschulen studierten. Der Kreis der zeitgenössischen Künstler im Herzen Rußlands schrumpfte dementsprechend, aber er existiert. Mit der kontinuierlichen Präsenz der Art Moscow und der 2005 ins Leben gerufenen Moscow Biennale bescheinigt sich die Metropole einen funktionierenden Markt und den Anschluß an den globalen Kulturtrend des Sophisticated Disneyland. Die neurussische Elite gibt sich weltoffen und hat das Anlageobjekt Kunstwerk endlich für sich entdeckt. Die internationale Künstler- und Kuratorenschar reist gern zu jenen Events, denn dort winkt nicht nur viel Geld, sondern auch die Exotik, die der westliche Osten mehr und mehr verlor. Jenseits jener Highlights und mit Ausnahme weniger Stars aus den eigenen Reihen bleibt das Leben des russischen Künstlers Kampf um Existenz in jeder Hinsicht. Über materielle Produktionsverhältnisse spricht er jedoch kaum. Er stellt einfach her, mit welchen Mitteln auch immer. Radikal und selbstbewußt. Thematisiert den Wahnsinn seines Daseins, der und dessen Sprache dem gemeinen, gemäßigten Abendländer oftmals befremdlich erscheint. Über geistige Produktionsverhältnisse muß gesprochen werden. Werden im westlichen Kulturbetrieb die kritischen Stimmen durch wirtschaftliche Sanktionen mundtot gemacht, schlägt im Reiche Putins die Staatsjustiz zu.
Moskau, 2005. Während im Moskauer Leninmuseum die Kunstschickeria selbstherrlich die erste moscow biennale of contemporary art zelebriert und das Jahresbudget des Kulturministeriums verpraßt, demonstrierten vor den Museumstor das Volk, dem auch noch der letzte Rest menschenwürdigen Lebens genommen werden soll. Zeitgleich wurde in einem Moskauer Gerichtssaal die Strafsache 4616 verhandelt. Es ging um die Ausstellung Vorsicht, Religion! im Sacharow-Museum, die im Januar 2003 von Orthodoxen zerstört wurde. Ein Auftragswerk. Auf der Anklagebank saßen nicht die Bilderstürmer sondern der Museumsdirektor und die Künstler, angeklagt wegen „Erregung von Hass und Feindschaft sowie Erniedrigung der Würde einer Gruppe hinsichtlich ihrer Nationalität und Religionszugehörigkeit.“ Der Prozeß wurde als klerikalfaschistische Propagandaveranstaltung genutzt, um ein Exempel an den Künstlern, welche die neue Freiheit in Frage stellten, zu statuieren und den neurussischen common sense schreien zu lassen: „Verräter des russischen Volkes!“, „Man muß alle Juden aufhängen!“, „Wir brauchen einen neuen Holocaust!“ Verfahren sowie Urteil der Staatsanwaltschaft kommen nicht nur einem Berufsverbot für Künstler gleich, sondern torpedieren das in der Verfassung verankerte Recht auf Selbstausdruck und Gewissensfreiheit. Im selben Jahr kehrte Kovylina aus Deutschland zurück nach Moskau mit der Begründung, daß sie nur mit Berufung auf ihre nationale Identität als Künstlerin international erfolgreich werden könne...
Novosibirsk, 2005. Moskau ist nicht Rußland. Sibirien..., bei diesem Wort assoziiert man die endlose Weite der Tundra, Wälder und Seen, Eiseskälte und ferner: Importe aus Moskau wie den Gulag und andere Barbareien. Sibirien wähnt man fernab jeglicher Zivilisation, von Kultur ganz zu schweigen, und es weiß nur im gewagtesten Abenteurer eine seltsame Art Fernweh zu entfachen. Und dennoch – auf halber Strecke zwischen Moskau und Wladiwostok liegt die 1,5-Millionenstadt Novosibirsk, Rußlands drittgrößte Metropole. Und die Stadt mit der größten Kriminalitätsrate in der Föderation. Man glaubt es nicht. Wenn nicht ab und zu ein schwarzer Mercedes vorbeirauschen würde, wenn nicht im Zentrum ein Max-Mara-Laden vor sich hingammeln würde, man wähnte sich in jener Zeit, als die Kalte-Krieg-Welt noch in Ordnung schien. Einschlägige Literatur spricht von der Stadt als kulturellem Zentrum mit einer starken Musik- und Theaterszene. Und die bildende der Künste? Ein vager Begriff in Sibirien... Durchaus jedoch es gibt jene dort, die ein Kulturleben aufzubauen und zu transportieren versuchen, die sich gegen Öde und Konservatismus, aber auch gegen Vereinnahmung und Opportunismus zur Wehr setzen. Ludmila Ivaschina ist Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin, was, seit Soros seine Zelte in der sibirischen Hauptstadt abgebrochen hat, dem Status der Arbeitslosigkeit gleichkommt. Doch sie kämpft weiter um und mit Projekte(n), die sich gegen allgemeine Provinzialität zu lokalem Potential bekennen. Ivaschinas Mann, Konstantin Skotnikov, ist Gründungsmitglied der Künstlergruppe The Blue Noses, die mit ihren gesellschaftskritischen und provokanten Performances, Filmen und Collagen mittlerweile auch in der westlichen Kunstszene populär wurden. Skotnikov gehört seit vergangenem Jahr nicht mehr zur Gruppe – denn sein Bleiben in Novosibirsk wurde seiner Mitgliedschaft zum Verhängnis. Seine beiden Partner sind längst nach Moskau gezogen und bei Kunstmagnaten Guelman unter Vertrag. In Publikationen und Ausstellungen bleibt Skotnikov unerwähnt. Er ist draußen. Draußen in Sibirien, wo er sich als Lehrer an der Staatlichen Akademie für Architektur und Kunst sein Brot verdient und die neue Generation in wachem Denken und Tun anleiten will. Die meisten seiner Studenten werden sehr bald die Stadt in Richtung Westen verlassen. – Die sibirische Millionenstadt zählt eine private Galerie von 20 Quadratmetern. Der Galerist kann sich avantgardistische Ausrutscher nur leisten, weil er ab und zu ein Werk aus seinen Ausstellungen der Landschafts- und Stilleben-Kunst verkauft. Skotnikov sagt, daß diese künstlerische Öde sich von Ufa bis Wladiwostok erstreckt. Novosibirsk ist nur die Hauptstadt der Wüste. Doch die Metapher der Öde kann und muß auch positiv konnotiert werden. Nichtexistente Szene und Markt haben die weite Wüste Sibiriens bislang vor der Vereinnahmung durch die kulturindustriellen Apparate in Europa und Moskau bewahrt.
Berlin, 2006. Während ich versuchte, meine Sicht auf das Kunstschaffen im postsowjetischen Raum fragmentarisch wie exemplarisch zu rekonstruieren, trommeln im Hinterkopf die Schüsse und Bomben, die weltweit fallen und mich an die Absurdität meiner Tätigkeit erinnern. Doch die Konklusion muß noch getätigt werden. – Fajnor wird seine(n) Beruf(ung) aussitzen. Er ist jetzt Bürger der Festung Europa, welche unter anderem den Jugoslawienkrieg auf ihre Konten schreibt und die Militarisierung in Verfassungsrang zu heben gedenkt. – Kovylina wurde international nicht durch den sozialen Aspekt ihres Schaffens, sondern durch ihre Aufsehen erregenden, suizidalen Performances bekannt. In ihrem Heimatland schürt die rechts gerichtete Machtelite, Hand in Hand mit Klerus, Miliz und Justiz, nicht nur Angst, Hass und Gewalt, sondern führt seit mehr als 10 Jahren einen genozidalen Krieg gegen Tschetschenien. Jene in Europa, die meinen das Monopol auf Demokratie und Kultur zu besitzen, schweigen dazu. Kovylina tanzt mittlerweile als russische Heldin ihre Performances auf der Art Miami und zog sich mit einem Stipendium nach Los Angeles zurück. – Ivaschina wird frischen Steppenwind nach Salzburg tragen und uns vom Windmühlenkampf in der Wüste zu berichten. –
Wir Kinder des Kalten Krieges – ob von hüben oder drüben – können uns auf geographische Vor- oder Nachteile nicht mehr berufen. Grenzen waren immer Eingrenzungen des Denkens und Ausgrenzungen des Anderen. Himmelsrichtungen sind Sache der Mythologie und des Seemanns. Wir Kinder des Kalten Krieges wurden zu Paten des heißen, globalen Krieges. Wir sind nicht schuldlos daran, denn stumm und beflissen, sitzend oder tanzend schauen wir dem Wahnsinn der allgemeinen Zerstörung zu und wissen nicht anders zu handeln, als ihn abzubilden und in die zynische Maschine des Kulturbetriebes zu werfen, den nicht existenten, doch propagierten Eigen- und Heimvorteil in Auge, Hand und Hirn.
Hätte alles anders kommen können? –
Paula Böttcher, August 2006