KUNST: SEEKARTE DER HOFFNUNG IM MEER DES MÖGLICHEN. ERNST BLOCH UND DER ÄSTHETISCHE VOR-SCHEIN ALS UTOPIE.
In einer Zeit, in der sich die globalen Konflikte und Katastrophen die Klinke in die Hand geben und Kultur dies nur mehr affirmiert, mögen die Realisten unter uns denken: ‚Nichts geht mehr.’ und die Optimisten daran festhalten: ‚Irgendwie wird es schon gehen.’ Aber wie soll man zwischen falscher Zuversicht und fundierter Hoffnung unterscheiden? Genau dieser Frage widmet sich in nicht minder prekären Zeiten der vielschichtige Denker Ernst Bloch (1885-1977) und macht es sich zur Lebensaufgabe, Hoffnung als einen philosophischen Begriff zu begründen und einer tiefgreifenden Analyse zu unterziehen. Allen Formen des Seins – auch den jüngst oder längst vergangenen – weist er einen utopischen Gehalt nach, den es gilt zu beerben und im „Träumen nach vorwärts“ zu verwirklichen.Als Jude aus Nazideutschland, als Kommunist aus den USA und als Staatsfeind aus der DDR vertrieben und verleumdet, werden Exodus und Heimat für Bloch dabei zu zentralen utopischen Metaphern. Mit expressiver Sprachgewalt fern von allem Akademismus und Dogmatismus ruft er auf, nicht Frieden zu machen mit einem schlecht Gewordenen, sondern den Stern Erde zu echter Heimat umzubauen. Im Blochschen Prinzip der Hoffnung ist „Alles“ noch möglich und der Ausgang der Geschichte offen. Da, wo Politik und Religion die Segel streichen, stechen Philosophie und Kunst mit Bloch in See, ins Meer des Möglichen, um Licht in das „Dunkel des Augenblicks“ zu bringen. Das Vermögen zum Staunen, Sehnsucht und Phantasie als Aufbruch- und Heimkehr-Chiffren sind hierbei nicht nur Motor ästhetischer Wahrnehmung und Gestaltung, sondern werden gleichsam zum Agens des ganzen Geschichtsprozesses. Die „Zaubersprache“ der Kunst sei uns als imaginierte Seekarte der Hoffnung mit auf den Weg gegeben.
Bloch erhebt die Künste zum Scharnier zwischen Existenz und Utopie und schreibt ihnen die Kraft zu, statische Topoi zu sprengen. Mit diesem a-topischen wie vor-scheinenden Charakter erhält Kunst ihre u-topische Funktion. Utopie meint hier die Annäherung an den Kern des Welt- und Seinsrätsels als Aufhebung jeglicher Entfremdung. Bereits im Geist der Utopie (1915-17/1923) beschreibt Bloch die Möglichkeit der Selbst- und Weltbegegnung im Ornament. In diesem Zusammenhang verteidigt er u.a. Mitte der 1930er Jahre den expressionistischen Bildersturm gegen dessen Ankläger, indem er jenen ästhetischen Aufbruch gerade als Ausbruch aus dem ideologischen Verfall einer entfremdeten Welt und dialektisch als „Zersetzung der Zersetzung“ vorführt. Bloch, der Mystiker unter den Materialisten, wehrt sich mithin gegen eine von Lukács geprägte Kunstauffassung als „utopische Wirklichkeit“ ebenso wie gegen die „kunstschöne“ Ästhetik eines bürgerlichen Idealismus. In Das Prinzip Hoffnung (1938-47) erweitert und verdichtet Bloch seine Analyse des ästhetischen Vor-Scheinens als „Dargestellte Wunschlandschaften“. Der künstlerische „Raum der Entführung wie der Heimkehr“ wird zu jener Verlängerungslinie, die Gegebenes – überschreitend – und mannigfach Mögliches als Stoff miteinander verbindet und somit die „Einheit von Mensch und Ferne“ herzustellen vermag.
Jene (Wunsch)Landschaften erzeugen dennoch eine Aporie, nämlich die der unauflösbaren Distanz, der unerfüllbaren Immanenz. Durch den künstlerischen Akt wird die Natur zur Landschaft. Wird jedoch nicht gerade dadurch Entfremdung konserviert und eben ästhetisiert? Wo beginnt die Landschaft und wie könnte sie zu Immanenz führen? Daß uns eine wissenschaftliche Antwort verwehrt bleibt, gerade darin liegt für Bloch die Chance der Kunst. Indem sie sich nicht abschließt gegen Leben und Prozeß, indem sie die Grenze zwischen Ich/Natur und Landschaft changieren läßt, kann sie dieses von Bloch als „schädlicher Raum“ bezeichnete Dunkel nutzen, um ebendiesen zu belichten und zu öffnen. Der Hohlraum wird zum offenen Gestaltungsraum, zum Raum der Freiheit, der den Berührungspunkt des Traumes, der Poesie mit dem Leben, dem Sein definiert. Erst das nach vorn offene Fragment macht auf die Totalität eines Eigentlichen aufmerksam und trägt seinen utopischen Anteil zum Weg als Exodus und Heimkehr bei. So sprengt Kunst die Oberfläche, zerkratzt den Lack. Sie wendet sich als Überschreitende wie Unterwandernde gestaltend gegen eine Welt, die als solche inakzeptabel ist. Sie verneint eine sich hinter bloßem Schein oder angeblicher Vollkommenheit verbarrikadierende, sinn- und seinslose Ästhetik.
Die Gewalt(tätigkeit) des kulturellen Spektakels steht heute gegen jegliche Möglichkeit einer sinnlichen Harmonie des Seins. Ist eine Blochsche Ästhetik utopischen Vor-Scheins noch tragbar? Wenn auch Bloch eine Kulturkritik nicht in der Radikalität seines Freund-Feindes Adorno formulierte, so war er jedoch auch nie der militante Optimist, als der er gern verkauft wird. Die mögliche Vereitelung wurde der Hoffnung immer als Gegenspielerin zur Seite gestellt. Im Spätwerk Experimentum Mundi (1972-75) bleibt die Welt ein Laboratorium, in der Geschichte und mit ihr die Geschichte der Kunst unabgegolten gären. In dem Bloch sowohl zeitlich als auch räumlich einen gängigen Geschichtsbegriff sprengt und sich eines linearen Fortschrittsdenkens entledigt, läßt er Sein und Werden der Welt pulsieren – rhythmisch, dialektisch, geschichtet: wie Musik in Harmonie. Kulturgeschichtliches Erbe kennt demnach weder eine leitkulturelle Dominante noch ein Vorüber, sondern ist ein in jedem Zeit-Raum die Identität mit seinem Wesen suchender Keim.
Bloch ist mithin nicht nur der unermüdliche Verfechter einer zu verwirklichenden humanen Welt sondern auch einer Kunst, die sprengend und antizipierend zu solch Verwirklichung beiträgt. Ob es sich um einen „ägyptischen Todeskristall“ oder den „gotischen Lebensbaum“, um „antiluxuriösen Expressionismus“ oder Watteaus „Embarquement pour Cythère“ handelt: es sind allesamt Bilder wie Gestalten menschlicher Sehnsucht, noch nicht erfüllt aber auch noch nicht vereitelt. Nirgendwo jedoch finden die Blochschen Denkwelten derart konkrete Entsprechung wie in den Sprachblättern und Lautexperimenten des Annaberger Künstlers Carlfriedrich Claus (1930-98), der in seinem Werk direkten Bezug auf den Philosophen nahm und dessen universale wie geerdete Metaphysik teilt und ihr eine sinnliche Form verleiht. Claussches Oevre unterstreicht kongenial Kosmos, Größe und Relevanz des philosophischen Werkes Ernst Blochs, dessen Vermächtnis unabgegolten besteht: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“
Anke Paula Böttcher, März 2007