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PAULA BÖTTCHER
 

WIE VIEL REALITÄT BRAUCHT EIN MENSCH? ODER: WAS GEHT UNS FREMDES ELEND AN? ZU: „VORSTELLUNG“ - THEATERPROJEKT MIT DER OBDACHLOSEN JUGEND VON ELENA KOVYLINA

Neujahrsgeschichte

Drei obdachlose Kinder haben einen Vierten auf den Boden geworfen, gebunden und Sivesterknaller in seinen Mund hineingestopft. Dann haben sie die Sprengkörper gezündet, die in seinem Hals explodierten, zwanzig Stück. Als das Kind gestorben ist, haben die Freunde ihm den Bauch aufgerissen und geschaut, was mit seinen inneren Organen passiert ist. So eine kindliche Neugier... In einer Obdachlosen-Clique überleben nur die Stärkeren.


Vorstellung

Nummer Eins: Drei obdachlose Jugendliche haben keinen Vierten auf den Boden geworfen sondern lümmeln mit ihm auf der Bühne um einen Tisch - voll von Bierflaschen, Plastiktüten, Klebstoff, von Zigarettenstummeln und Chips, voll mit trostlosem Trost spendendem Stoff. Die Besucher räumen kopfschüttelnd die Plastiktüten von ihren Sitzen, setzen sich und die Seance kann beginnen: Zuerst verhalten, dann munterer sprechen die Jungen über ihr Leben auf den Straßen, auf den Bahnhöfen Moskaus. Selbstkritik schwingt mit, hört man sie von der Kaltblütigkeit und Brutalität in der Clique und gegen Passanten reden. Weil sie überleben müssen. Und weil sie es nicht anders kennen. Sie wiederholen das, was ihnen beigebracht wurde, nur professioneller. Und weil es ihnen gefällt: Wilde Freiheit, tagtäglich bestandene Mutproben im Schlagen und Stehlen, angenehme Willkür, Flucht vor der Bevormundung. Und weil es Schlimmeres gibt: die Kontrolle durch einen Staat, der solche Probleme von jeher kaschiert hat, weil die Behandlung der Ursachen diesem Staat an die fragwürdige Substanz gehen würde. Lieber mit den Kumpels saufen und schnüffeln als vom betrunkenen Vater, Aufseher oder Vorgesetzten verprügelt zu werden, als in einem sinnlosen Krieg zu sterben. Cleverer: 100 Dollar am Tag zu erklauen oder zu erbetteln als für 30 Dollar im Monat in die Fabrik gehen oder für ein patriotisch weinendes Mutterherz in den Krieg zu ziehen. Geschichten und Schicksale, zwischen bitterer Resignation und rebellischer Enttäuschung werden erzählt, und sind von keinem der vier vielleicht je erzählt worden. Noch nicht einmal in stiller Zwiesprache formuliert worden.
Zwischendurch rennt einer der Jungen raus, kann nicht mehr, braucht neues Bier. Ein anderer versucht, dem Publikum Matrjoschkas und bemalte Holzlöffel zu verkaufen. Teilweise erfolgreich. Ein dritter statuiert ein Exempel: baut sich vor einem Publikumsopfer auf und fordert 10 Euro. Nein. Wieso nicht? Du seien reich, ich seinen arm, wie wir wollen sein Freunde? Du geben mir 10 Euro. Er nicht geben 10 Euro, er nicht sein wollen Freund.
Das Publikum rutscht unruhig auf den Stühlen herum. Das ist zu viel, das ist irreal. Nein, das ist real. Das ist zu real. So will man das nicht. So hat man sich das nicht VORGESTELLT. Man heftet seinen Blick krampfhaft auf die hinterm Tisch aufgebaute Leinwand. Da läuft „Pulp Fiction“, das ist schon eher auszuhalten, kennt man ja, ist ganz amüsant, wie die da rumballern und alles niedermetzeln. Da fühlt man sich zu Hause. Den Film haben sich die Jungen zur Kulisse gewählt. Da treffen sich die Geschmäcker. Die amerikanische Filmindustrie hat schon immer alle Katastrophen kunstvoll antizipiert, Helden und Vorbilder geschaffen, weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus. Nun sind 50 Minuten um, der ganze Saal betet seinen und ihren Abgang herbei. Ljoscha gibt noch Antwort auf die Frage nach seinen Zukunftsplänen: Er möchte eigentlich gern doch zur Schule gehen und später Lkw-Fahrer werden ... sich die Welt anschauen... Schon kaum einer hört mehr hin. Aber dann vielleicht doch bei Saschas eindringlichen Abschiedsworten: Liebes Publikum, entschuldigt wenn wir Euch gestört haben. Eines möchte ich Euch noch sagen: behandelt Eure Kinder gut und lasst die Finger vom Alkohol. Und noch etwas: Eigentlich sind wir garnicht hier, wie sollten wir denn die Pässe zur Einreise erhalten? Wir gehören garnicht hierher! Entschuldigt! Er rennt aus dem Saal, den seine Komplizen schon Minuten zuvor verliessen. Lässt ein schweigendes Publikum zurück, das zu Vorstellung Nummer Zwei übergeht:
Widerlich, sagt ein Bürger, erhebt sich und strebt dem Ausgang zu. Ihm folgt beflissen eine Hälfte des Publikums. Eine gewisse Aggression ist im Saal spürbar, die sich mit Verschwinden jener, die sich ins nächst beste Charlottenburger Restaurant oder in ihre sauber tapezierten vier Wände flüchten, auch nur halbiert. Die Kovylina betritt die Bühne, um sich und ihre „Vorstellung“ zur Diskussion zu stellen. Das zu Erwartende tritt ein, sie ist sich ihrer Rolle als Blitzableiter und Fußabtreter bewusst und spielt sie gut: Abscheulich, unzumutbar, eine soziale Peepshow, eine übertriebene Farce, da kann man sich auch die Nachrichten anschauen, das ist doch kein Theater - ist das was sie zu hören bekommt. Rede eines Moskauer Zuschauers: Diese Kinder sind doch alle Opfer einer Tragödie, na und? Was hat das mit Kunst zu tun, das ist doch nur der pure Zynismus! - Gegenrede: Was zynisch ist, sind solche Worte, die Kinder wären Opfer EINER Tragödie, was meint irgendeiner Tragödie. Es ist unser aller Tragödie, Herr Moskoviter, auch die Ihre!


Blick hinter die Kulisse

„Ein Kind, das mehr als sechs Monate auf der Straße zugebracht hat, lässt sich nur noch schwer in das normale Leben integrieren.“
In Russland leben heute 2 Millionen obdachlose Kinder. 1,5 Millionen davon besuchen keine Schule mehr. Die Dunkelziffern liegen weitaus höher. Die Lage ist derzeit schlimmer als vor zehn Jahren. Die Zahl der Straßenkinder wächst kontinuierlich. Sie kommen aus allen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion in die Großstädte. Sie flüchten vor Suff und Gewalt in Familien und Internaten. Und: sie flüchten vor einer Registrierung durch die staatlichen Behörden – denn würden sie nicht flüchten, würden sie in einen Krieg geschickt werden, der seit 1994 geführt wird und dem die Jugendlichen von Russlands Strassen als billiges und unverfängliches Kanonenfutter dienen würden.
Das Verhalten der obdachlosen Kinder ist die Widerspiegelung gängiger Verhaltensformen der hyperkapitalistischen postsowjetischen Gesellschaft. Die Jungen und Mädchen wissen das und sind dadurch imstande, Ihre Verbrechen zu rechtfertigen, zu legitimieren.
„Die Moskauer Bevölkerung hat sich daran gewöhnt, dass es obdachlose Kinder gibt...“
Elena Kovylina hat sich nicht daran gewöhnt. Kann sich nicht daran gewöhnen. Hat sie ein Jahr zuvor das Bildungsbürgertum der Berliner Festspiele noch mit ihrer masochistischen Performance „Walzer“ schockiert, so animiert sie das Publikum in diesem Jahr mit jenem kontroversen „Stück“ zum Vorwurf des Sadismus. Die Kovylina geht an die Grenzen, denn wo anders als da sollte man auch die Dinge (be)greifbar zu machen versuchen. Sie abverlangt vom Publikum nicht einen Bruchteil dessen, was sie sich selbst abverlangt. Ihre Motive für diese Radikalität liegen anderswo als in der Ambition, mit dem Schock zu spekulieren. Seit Elena Kovylina 2000 das Komitee „Rotes Heim“ gründete, arbeitet sie mit bedürftigen Alten und Jungen. Mit Stipendiengeldern richtete sie Suppenküchen ein, schenkte den obdachlosen Kindern in Moskau und St. Petersburg Zeit, Zuneigung und auch Kleidung und Essen. Diese Arbeit stürzte sie in tiefe Krisen, sie kam an die Grenzen ihres künstlerischen Selbstverständnisses, denn die von ihr ständig und konsequent geforderte Verschmelzung von Kunst und Leben war nicht nur schwierig in die Tat umzusetzen, es schien und scheint mehr als oft sogar unmöglich. Doch die Kovylina gibt so schnell nicht auf, weil sie hat noch Träume: zum Beispiel den des Theaters mit der obdachlosen Jugend.


Contra und Pro

Ein leichtes, solch eine „Vorstellung“ zuallererst mit moralisierenden Vorwürfen zu vernichten. Einige kennen wir schon, fahren wir fort: „Lebende Menschen werden als Material benutzt, verwerflich - aber das normalste der Welt.“ Man subventioniert eine Inszenierung des realen Elends anderer, man unterstützt ein „Experiment. An lebenden Körpern.“ und bekommt ein heuchlerisches Spiel mit Emotionen vorgesetzt. Hier werden arme Menschen vorgeführt, deren armseligen Stumpfsinn man sich eine Stunde lang anhören muss.
Man kann auch mit künstlerischen Argumenten angreifen: Ist das noch Kunst? Kann man SO Theater machen? Wo bleibt der Schöngeist, wo die Ästhetik?
Ein letzter Einwand bliebe noch unwiderlegbar anzuführen: wenn man die Wirklichkeit so nackt und drastisch zur Schau stellt, muss man auch imstande sein einen Ausweg aufzuzeigen, sonst bleibt man, wenn auch ungewollt, auf den Vorwürfen des Zynismus, Spektakulären, Spekulativen oder Nihilistischen sitzen. Auf der Hand liegt außerdem, dass man mit solch einer Aktion nicht 2 Millionen obdachlose Kinder von Russlands Strassen holen kann und schon gar nicht die Milliarden der ganzen Welt retten kann.
Aus der Traum? Alles nichts als ein gescheitertes Unterfangen?
Jedes obdachlose Kind ist gleichzeitig und immer auch Schauspieler, muss es sein, sonst würde es auf der Strasse nicht überleben. Elena Kovylina führt diese Jungen nicht vor, sie bereiten ihre eigene Vorstellung. Es war Kovylinas Idee, die Jungen zum authentischen Repetieren ihres Lebens, dazu, sich selbst zu spielen, zu animieren. Es war die freie Wahl der Kinder, dieser Idee zu folgen. Liegt nicht schon in dieser Bereitschaft und in der Tatsache, dass sie sich, dass sie sprechen – zu uns und zu sich selbst, dass sie sich und die mit einer Kritik und auch einer gewissen Kraft betrachten und fähig sind, Träume zu formulieren, liegt darin nicht schon ein geringer Ausweg? Ein Hoffnungsschimmer?
Elena ist kein unbeschriebenes Blatt in der europäischen Kulturszene. Was sie zur Künstlerin macht, ist dass sie nie Trend oder Schöngeist als solche bedient und sich von Niederlagen und Angriffen nicht einschüchtern lässt, sondern ihre Reputation als Plattform nutzt, um auf soziale, gesellschaftliche und zwischenmenschliche Probleme hinzuweisen und versucht, die Menschen für diese Probleme – auch wenn sie nicht augenblicklich lösbar sind – zu sensibilisieren, eine emotionale Anbindung an diese herzustellen und sie zu einer gemeinsamen Suche nach einer Verbesserung zu ermuntern. Einen Weg vorzuleben und vorzustellen.
Was den Menschen kalt lässt oder was die Erkaltung des Menschlichen impliziert, ist keine Kunst, ist kein Theater. Ebenso wenig wie das, was bei vergnüglicher Ästhetik und blindem Schöngeist halt macht.
Elena Kovylina ist eine die Gemüter bewegende, meinetwegen kontroverse Collage gelungen. Sie selbst nennt es Theater der umgekehrten Moralität. Das Publikum sieht sich einer Szenerie gegenüber, das keinen – wenn auch ungehegten – Wunsch nach einer Unmittelbarkeit im Brechtschen Sinne, nach Authentizität und Distanzlosigkeit offen lässt. Die Frage, ob die Bühne zur Straße wird oder die Strasse zur Bühne, stellt sich nicht mehr. Nestbeschmutzung. Wer wessen? Die Nicht-Bühne, die Regisseurin wie die Protagonisten sind ebenso über die Frage, ob das Kunst sei, aus bekannten Gründen erhaben.
Die Verfasserin dieses Textes ist keine Theaterkritikerin, Elena ist keine professionelle Regisseurin, die Jungen sind keine Schauspieler. Es findet kein distinguiert beklatschtes Haltungs- und Handlungsexperiment mehr statt, es gibt keine genüssliche Dramaturgie, eine Bühne soundso nicht mehr, es gibt kein Textbuch, keine Pointe, keinen Applaus. In seinem Schlussmonolog kehrt Sascha das Messer der Moral um. Ein Appell an das Publikum. Gibt es ein Publikum? Ist es nicht die Aufgabe der Moral wie auch die des Theaters, uns vor Augen zu führen, dass die Realität leider anders ist, als wir sie uns VORSTELLEN? In der „Vorstellung“ gibt es nur die Wirklichkeit - nackt, entblößt, ungeschminkt. Der Schminkspiegel unserer kaputten Weltordnung, in den entsetzt wir schauen. Anti-Theater. Es ist das Theater, was wir jetzt und heute und hier brauchen. Wer es angreift, verschließt die Augen vor der Wirklichkeit, verneint sich selbst und wird zum ängstlich moralisierenden Kunstapostel. Macht sich strafbar an Kunst und Leben.


Lesen Sie die Mülheimer Rede !

Die Kunst liegt so oder so im Koma. Auch und gerade weil es schick ist, sich sozialer und gesellschaftlicher Probleme zu bedienen, diese ästhetisch zu verwursten und mit ihnen in dem Bürger verträglichen Portiönchen die Kulturhäuser und den gesunden Menschenverstand zuzukleistern.
Erst wenn wir die gefallsüchtigen und kitschigen Kunstverpackungen sowie die Türen und Fenster der Kulturhäuser endlich aufreißen und die Frage nach „Strasse oder Bühne“ nicht mehr stellen, dürfen wir wieder von einer wachen Kunst reden.
Beispiele und Beiträge gibt es. Die Kovylina, die vier Jungen, der bereits und durchaus existierende wache Teil des Publikums sowie jene Veranstalter, welche die Realisierung der „Vorstellung“ ermöglichten, gehören dazu. Wir brauchen mehr davon, noch viel mehr!

„Was kann das Theater für sie werden? Ich biete ihnen die Möglichkeit, auf eine Reise zu gehen, weil das Theater eine Reise dahin ist, wo sie noch nicht waren und wohin wir gemeinsam gehen könnten. Ich war auch noch nicht im Theater. Wir haben dasselbe vor. Bitte anschließen!“


Paula Böttcher, Mai 2004