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POLA SIEVERDING
 

„TIME IS FAST – SPACE IS SLOW“ GEDANKEN ZUM WERK VON POLA SIEVERDING VON FLORIAN MATZNER

Installation view: “Von den Strömen der Stadt”, Museum Abteiberg, Mönchengladbach, 2016
© Pola Sieverding, VG Bild-Kunst
Foto: © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst
Installation view: “Von den Strömen der Stadt”, Museum Abteiberg, Mönchengladbach, 2016
© Pola Sieverding, VG Bild-Kunst
Foto: © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst
„Time is fast – space is slow“
Gedanken zum Werk von Pola Sieverding

Florian Matzner

„Zeit vergeht schnell, und der Raum ist langsam. Der Raum ist ein Versuch, die Zeit zu orten und zu verstehen.“ Mit diesen Worten hat Vito Acconci, der Altmeister der amerikanischen Konzeptkunst, versucht, das Verhältnis von (öffentlichem) Raum und (privater) Zeit zueinander zu beschreiben. Und weiter: „Raum ist ein Verlangen, dem Lauf der Dinge zu folgen und an das Prinzip von Ursache und Wirkung zu glauben. Das elektronische Zeitalter löscht den Raum aus und lässt Orte ineinander übergehen... Das elektronische Zeitalter hat die Überlegenheit der Zeit mit sich gebracht.“(1) In diesem Netzwerk von Öffentlichkeit und Urbanität auf der einen, Privatheit und Persönlichkeit auf der anderen Seite bewegen sich auch die Bildwelten von Pola Sieverding. Die junge Fotografin und Filmerin hat für die Ausstellung Von den Strömen der Stadt im großen Hauptsaal des Museums Abteiberg ein raumgreifendes Ensemble realisiert, das verschiedene Werke aus den vergangenen vier Jahren vereint: Thema ist die Stadt und das Agieren des Menschen in diesem urbanen Gefüge.
Wie ein Bühnenbild wird die gesamte Installation von hochformatigen Fotografien hinterfangen, die als Mural – so der Titel der Arbeit – direkt auf die Wand aufgespannt sind: Diese vier Fotografien beziehen sich direkt auf die drei Filme, die auf einzelnen Flat Screens gezeigt werden: Insbesondere die Fotografie des 1958 errichteten Corbusierhauses in Berlin mit dem in den Beton eingelassenem Schriftzug „Retablir les conditions des nature“, was sinngemäß mit „Die Bedingungen...“ oder „Die Zustände der Natur wieder herstellen“ übersetzt werden kann, verweist auf die Absurdität der dargestellten Stadtlandschaft und den Film Close to Concrete II von 2014, der auf dem Screen an der linken Säule gezeigt wird: In diesem Film hat die Künstlerin die menschenleere Hochhaussiedlung einer Vorstadt dokumentiert. Mit einer langsamen und bewusst ästhetischen Kameraführung entdeckt der Betrachter Strukturen und Kompositionen in der Betonwüste. Wie in vielen Filmen von Pola Sieverding entwickelt sich der Film vom Detail zur Gesamtansicht, vom Ausschnitt zum Vollbild: „Mir gefällt die Nahaufnahme als Affektbild(2), als Einstellung, die den Blick aktiviert, da die vermeintliche Begreifbarkeit der Totalen aus (sicherer) Distanz zunächst nicht gegeben ist und man sich stetig neu orientieren muss. Die Cadrage(3) davon ausgehend zu öffnen auf eine weitwinkligere Szenerie, erscheint mir als eine attraktive Erkundung des filmischen Raumes.“(4)
Darüber hinaus wird im Motiv der langsamen Kameraführung der Aspekt der Ruhe und der Entschleunigung als konzeptuelles und ästhetisches Motiv eingesetzt. So wird das scheinbare Objektive und Dokumentarische zur spannungsreichen Erzählung: „Die Entscheidung, in meinen Filmen Zeitlupen einzusetzen, hat viel damit zu tun, dass ich versuche eine Entsprechung für einen körperlichen Blick zu finden. Durch die Kamera versuche ich die Körper, ob sie menschliche oder architektonische Körper sind, quasi abzutasten... und somit einen inneren Raum zu erzeugen, in dem eine persönliche Haltung zum Gesehenen vor einem individuellen referenziellen Hintergrund entstehen kann.“

Der Anonymität der Großstadt und ihrer Vororte, die Pola Sieverding als „in Beton gegossene Utopien“ beschreibt, setzt die Künstlerin in einer anderen Werkserie die Intimität und Individualität des menschlichen Körpers gegenüber, die auf zwei weiteren Screens in der Rauminstallation gezeigt werden: Zwei Männer – ein Schwarzer und ein Weißer – stehen sich gegenüber, kommen sich näher, scheinen sich zu beobachten und gegenseitig einschätzen zu wollen, umarmen sich und beginnen dann miteinander zu ringen. On Boxing, die neueste Filmarbeit von Pola Sieverding von 2016, zeigt diese Szenerie vor einem monochrom dunklem Hintergrund ohne Orts- und Zeitangabe, die Kamera bewegt sich im Kreis um die beiden Männer herum. Es entsteht eine körperliche und emotionale Spannung, die die Grenzen zwischen Tanz und Kampf verwischt, die ursprüngliche Brutalität des Boxkampfes verwandelt sich in eine erotisch aufgeladene Stimmung. Auch Cross Metropolis Machine von 2012, das auf einem anderen Screen gezeigt wird, beginnt mit der Darstellung einer isolierten Frauenhand, die kreisende Tanzbewegungen ausführt. Die daran anschließenden Szenen zeigen dieselbe Frau dann in Vollbild, wie sie mal schnell, mal langsam Tanzbewegungen ausführt, erfasst von grünem Streiflicht und Discoflimmern. Der Film endet mit einer En Face-Einstellung, in der die Frau beginnt ihre Augen zu schließen, so als würde sie einschlafen: Auch hier also das sinnliche Vexierspiel mit Sport, Erotik und Tanz, dem sich der Betrachter nicht entziehen kann. Die minimalistische Bildsprache stellt Fragen über Fragen, verweigert jedoch eine klare Antwort.

Im Spannungsfeld zwischen Dokumentation und Inszenierung entwickelt Pola Sieverding in ihren Filmen Erzählstrategien, die durch aufwendige Sound Tracks aus elektronischer Musik erweitert werden, die die Künstlerin zusammen mit Orson Sieverding produziert hat: „Mit dem Sound kommt aus meiner Sicht der Raum in die Arbeit, sowohl in der physischen als auch der konzeptuellen Dimension. In Close to concrete II generiert sich der Sound u.a. aus den sog. Symphonies of the planets - NASA Voyager Recordings von 1977 oder Jean-Luc Godard's Alphaville von 1965 und einer Art Weltraumklang, der aus verschiedenen Windaufnahmen und Syntheziser-Klängen komponiert ist.“ Und weiter: „Hier unterstreicht die Tonebene für mich die Perspektive der Transformation von der Idee einer entfernten Zukunft, die zur Gegenwart geworden ist. Bei dieser Gegenwart handelt es sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts, deren Ideen eines Wettlaufs zum Mond oder urbanen Konzepten, das Leben von Menschen in Großbausiedlungen zu organisieren. In meinem Film ist es ganz spezifisch die Architektur des Märkischen Viertels in Berlin, in Beton gegossene Utopien, mit denen wir als Lebensraum konfrontiert sind und die oben genannten Überlegungen bei mir provoziert haben. In Cross Metropolis Machine sind es die sich wiederholenden Klänge des Fließbandes, die Geräusche arbeitender Maschinen wie Züge oder Presslufthämmer, aus denen der Soundtrack komponiert wurde. Diese waren entscheidend für die Entwicklung der elektronischen Musik und werfen für mich die Frage auf, in welchem Verhältnis sie zum Körper stehen, wie sie auf ihn zurückwirken und in welchem Maß sie ihn für ihre Konstitution benötigen. Menschen zu beobachten, die zu z.B. Techno oder Gabba tanzen, hat bei mir die Frage aufgeworfen, wie sich unsere akustische und räumliche Umwelt, vielleicht besonders der uns umgebende architektonische Raum der Moderne, in unsere Körper einschreibt und wie sich das z.B. wieder in Bewegungen beim Tanzen übersetzt.“

So kreisen die Themen der Künstlerin um ihren eigenen Erfahrungskontext, in dem – um noch einmal Vito Acconci zu zitieren – „der Raum ein Versuch ist, die Zeit zu orten und zu verstehen“: Die Großstadt und ihre Milieus, zwischen persönlicher Intimität und brutaler Anonymität, zwischen Kultur und Subkultur, die in unterschiedlichsten Wirklichkeitsstrategien und disparaten Wahrnehmungsebenen die Grenzen zwischen dem Analogen und dem Digitalen, zwischen der Objektivität und der Subjektivität, zwischen der Realität und der Virtualität verwischen lassen: An die Wand des Mural angelehnt, in etwa gleicher Größe wie die Screens der Filme, steht die Fotografie ARENA 1 von 2014, auf der ein Wrestler in die Dunkelheit verschwindet und möglicherweise die Räume des Urbanen wie auch den Raum der Installation zur Arena erklärt, in der Körper, Gesellschaften und Architekturen antreten...


Anmerkungen

1 Vito Acconci: Das Haus verlassen. Anmerkungen zu Einfügungen in die Öffentlichkeit / Leaving Home. Notes On Insertions into the Public, in: Public Art / Kunst im Öffentlichen Raum, ed. F. Matzner, Ostfildern 2001, S. 38-46, besonders S. 41.

2 Pola Sieverding bezieht sich hier mit dem Begriff des „Affektbildes“ auf Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt 1989, S. 123 ff.

3 Der französische Begriff der Cadrage bedeutet eigentlich Rahmen: Die Cadrage ist ein wichtiges Element der Bildgestaltung und beschreibt Überlegungen, die – bei einem vorgegebenen Bildformat – zu einem Bildausschnitt führen, der Personen oder Gegenstände sinnvoll ins Bild setzt. Dazu gehören konzeptuelle und formale Vorgaben wie z.B. die klare Erkennbarkeit bestimmter Details ebenso wie dramaturgische Überlegungen. Diese können das rasche Erfassen einer Szene begünstigen, oder aber – im Gegenteil – die Aufmerksamkeit des Betrachters steigern, weil sich ihm die Situation nicht auf den ersten Blick erschließt.

4 Dieses und die weiteren Zitate von Pola Sieverding stammen aus einem email-Dialog mit der Künstlerin vom 27. Januar 2017.