„BLENDUNGEN UND SCHATTENWELTEN“ VON THOMAS NIEMEYER
„Blendungen und Schattenwelten“von Thomas Niemeyer
Über Fotografie zu erzählen, ist heute synonym für eine Erzählung über das, was fotografiert wurde. Wir neigen dazu, gewissermaßen durch ein Foto hindurch direkt auf die Dinge zu schauen. Das Bild an sich ist dabei weitgehend ausgeblendet. Natürlich handelt es sich bei dieser eingeschränkten Wahrnehmung nicht um das Symptom einer Sehschwäche, sondern sie verdankt sich jener ganz speziellen Fähigkeit der Fotografie zu einer (durchaus magisch zu nennenden) Verwandlung des Bildes in ein materieloses Fenster. Doch eine Gesellschaft, die ganz selbstverständlich mit Fotografie lebt und einen erklecklichen Teil ihres Weltwissens aus dieser bezieht, muss sich notwendig auch einen kritischen Blick auf das Medium selbst erarbeiten.
Nicht umsonst hat Walter Benjamin 1931 in seiner Kleinen Geschichte der Fotografie prophezeit, dass die Analphabeten der Zukunft nicht die Schrift- sondern die Bildunkundigen sein würden. Gerade die Kunst leistete dabei in den 1960er und 1970er Jahren Pionierarbeit mit einer ganzen Reihe engagierter und innovativer Experimente, mit denen fotografische Bildsprachen, Positionen des Betrachters oder auch Möglichkeiten der Manipulation systematisch untersucht und freigelegt wurden. Nachdem sich jedoch die ersten großen Erfolge fotografischer Kunst auf dem Markt und im Ausstellungsbetrieb eingestellt hatten, schien es, als ob solche kritischen Auseinandersetzungen Geschichte waren. Doch längst hat sich eine jüngere Generation von Künstlern wieder spezifisch fotografischen Bildforschungen jenseits einer Debatte um digitale Manipulationen zugewandt.
So auch Ria Patricia Röder, die in den vergangenen Jahren mit einer Reihe fotografischer Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht hat, die entweder auf besondere Weise inszenierend, oder mit einfacher, aber bewusst gestaltend eingesetzter analoger Technik auch Brücken zu früher einmal etablierten Ansätzen künstlerischer Fotografie schlagen. Doch die entscheidende Frage dabei ist nicht, ob und wie sich die Künstlerin hier an Eckpfeilern der Fotogeschichte reibt, sondern vielmehr, was heute das erneute Echo eines besonderen künstlerischen Aufbruchs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für eine Auseinandersetzung mit aktuellen bildnerischen Themen bedeuten könnte. Die Betrachtung der seit 2008 von der Künstlerin immer wieder aufgegriffenen Serie von Blitzbelichtungen „Night Editor", aufgenommenen nachts im Innen- und Außenraum und an sehr verschiedenen Orten, mag hier eine interessante Antwort weisen.
Dunkel sind diese Orte, oft getaucht in ein schwaches, in seiner Herkunft schwer bestimmbares Licht, welches nicht bis in alle Winkel der Szene vordringt. Das kann ein natürlicher Nachthimmel sein, etwa wie in „Ainda", oder auch ein urbaner Lichtsmog wie in „Untertag", wo sich sofort ersichtlich im Hintergrund die Skyline Manhattans abzeichnet. In diese Lichträume mischen sich weitere Lichtquellen künstlicher Art, die Röder mittels Langzeitbelichtungen und speziellen Blendeneinstellungen aus dem Hintergrund gleichsam herausschält – so erscheint ein einzelnes Haus bei „Ainda" in gleißend bewegtem Leuchten und in „Untertag" knüpfen die sternförmig herausgearbeiteten Strahlen der Straßenlaternen eine Verbindung mit der Zeichnung einer Sonnenblume auf dem Mauerwerk. In anderen Bildern dagegen, etwa in „Basement", befindet sich der Protagonist der fast filmischen Szenerie in einem vollkommen lichtlosen Raum. Er tritt hier, wie auch bei allen anderen Bildern der Serie, als Akteur auf, der als vereinzeltes Wesen seine Umgebung zu erkunden sucht. Mit Blitzbelichtungen löst er fragmentarisch die Welt aus der Dunkelheit. Mal blicken wir mit ihm gemeinsam in die Tiefe, mal stehen wir selbst im Fokus und werden vom Lichtstrahl fast geblendet. Der Charakter der Fotografie als Handlung und mit ihr die Wechselhaftigkeit des Wirklichkeitsbildes bleiben dabei immer im Blick.
»Dieses Jahrhundert gehört dem Licht. Die Fotografie ist die erste Form der Lichtgestaltung, wenn auch in transponierter und – vielleicht gerade dadurch – fast abstrahierter Gestalt.« Die von László Moholy-Nagy 1927 in der Zeitschrift Das Deutsche Lichtbild veröffentlichte These markierte einen künstlerischen Wendepunkt: das aktive fotografische Gestalten und die Erkundung einer der Fotografie innewohnenden Realität wurden als bildnerische Möglichkeiten erschlossen. Zugleich wurde das Licht auch zu einer gewollten Metapher für einen hellen Aufbruch. Ria Patricia Röder folgt dieser Idee ein großes Stück, wenn sie das Licht als entscheidendes Element der Bildgestaltung einsetzt, doch in ihren Nachtszenen bleibt die aufklärende Erhellung aus. Stattdessen fällt der Blick auf illuminierte Fragmente einer Welt, die von Betriebsamkeit spricht, nun aber, ausgelagert aus dem Treiben, im Abseits ruht.
In jüngster Zeit fotografierte die Künstlerin auf nächtlichen Erkundungen im ehemaligen, seit 2002 geschlossenen Berliner Vergnügungspark Spree-Park. Obgleich erst seit wenigen Jahren sich selbst überlassen, wirken die im Lichtschein auftauchenden Szenarien wie Relikte einer lange untergegangenen Welt. Dies ruft in Erinnerung, dass zu eben jener Zeit, als Fotokünstler wie Moholy-Nagy das Neue Sehen ausriefen und das Licht feierten, ein anderes Medium aus Schattenräumen aufstieg und in gleicher Weise zu einer das 20. Jahrhundert prägenden visuellen Kraft werden sollte, nämlich der Film. War das Licht die große Fortschrittsmetapher, so wurde die Dunkelheit der Kinosäle und der Filmwelt, natürlich besonders der des Film Noir, zum Menetekel der Abgründe moderner urbanisierter Gesellschaften. In Ria Patricia Röders Fotografien wird die Brüchigkeit auch zivilisatorischer Oberflächen motivisch, vor allem aber in der Ambivalenz des fotografischen Bildes als solchem greifbar.
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Thomas Niemeyer (Städtische Galerie Nordhorn) in
Ria Patricia Röder – LIGHTBOX | Hg. Künstlerhaus Göttingen | 2013