„LES CHOSES SONT LÀ“ VON MARIA MUHLE
Ria Patricia Röder. „Les choses sont là“ ivon Maria Muhle
Die Serie Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (2006/2007) von Ria Patricia Röder umfasst drei großformatige schwarz-weiß Fotografien, auf denen die geisterhaften Umrisse eines weiblichen Gesichts auf einer Tür, zwei gesichtslose Frauenkörper in einem Spiegel und ein Labyrinth aus zwei Körpern zu sehen sind, deren schwarze Flächen zusammen mit den schwarzen Gegenständen ein Labyrinth bilden, das sich vom hellen Hintergrund absetzt. Angeordnet sind die Figuren in ihren Posen um eine paradigmatische Geste des Fotografierens: Im mittleren Teil der Bilder ist jeweils eine Hand zu sehen, die einen Drahtauslöser hält. Damit markieren die Bilder jenen Moment, in dem sich die Blende des Kameraobjektivs öffnet und das Bild kurz davor ist, zum Bild zu werden – es hat den Anschein, als würde man das ‚Bild vor dem Bild‘ sehen, die Inszenierung, die der Bildwerdung vorausgeht. Gezeigt wird der technische Entstehungsprozess des fotografischen Bildes, der Moment, in dem das Foto „gemacht“ wird.
Doch dieser Eindruck trügt, denn im Gegenteil sehen wir vielmehr das ‚Bild nach dem Bild‘, insofern hier durch Mehrfachbelichtungen verschiedene Bildebenen und damit auch die Zeitlichkeiten ihres Entstehens überlagert werden: In dem Bild, das wir sehen, ist immer schon mindestens ein Bild enthalten, das diesem Bild vorausgegangen ist und zuerst das Negativ belichtet hat. Die Mehrfachbelichtung ist hier ein weiteres Mittel, die Künstlichkeit fotografischer Darstellung herauszustellen. Die Vervielfachung der Schichten und Flächen im Bild, die Überlagerungen von Personen und Möbeln, des Türblatts und des Gesichts oder der Tapetenmaserung auf der Haut, und das Spiel mit der Vervielfachung der Sichtbarkeitsebenen im Spiegel, stellt die Frage der Darstellung und ihrer Künstlichkeit ins Zentrum der Bilder.
Zugleich scheint diese Frage aus dem Bild herauszuweisen, wenn der Drahtauslöser, der hier zum umgekehrten Fluchtpunkt wird, den Betrachter ins Bild zu holen sucht. Die abgebildeten Personen werden zu Figuren, verflachten Silhouetten oder Scherenschnitten, die bar jeder Individualität, gesichtslos, in fast graphisch zu nennende Interaktion treten, um das Theater der Darstellung und der Vervielfachung ihrer Ebenen für den Beobachter aufzuführen und diesen gleichzeitig selbst ins Bild, also in die Darstellung locken. Dabei verschwimmen die bereits entpersonalisierten, weil gesichtslosen Körper mit den sie umgebenden Dingen in der Darstellung, sie sind wie die Kinder beim Versteckspiel, die sich den Dingen anähnlichen, wie Walter Benjamin schreibt: „Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst. Der Eßtisch, unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine, die vier Säulen sind. Und hinter einer Tür ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwere Maske [...].“ ii Der Betrachter wird so zur Dingwerdung im Bild eingeladen.
Die Reflexion im Bild über das Bild wird in der neueren Serie Log In I und II aufgegriffen und verschärft, insofern nun nicht nur der Auslöser aus dem Bild heraus weist, sondern zugleich die Kamera und das Stativ gleichsam ins Bild hineinprojiziert werden. Wie im Spiegelkabinett scheinen sich die Ebenen hier zunächst unendlich zu vervielfältigen, doch auch sie verbleiben wiederum in einer Dreierkonstellation, die den Betrachter und die abgebildeten Personen, die Außen- und die Innenwelt des Bildes, zueinander in Beziehung setzt: Der Betrachter nimmt den Ort der Kamera vor dem Bild ein, die sich mitsamt der Flügeltür im Spiegel reflektiert, der damit gleichsam alle Elemente des Velazquez’schen Darstellungsparadoxes auf einer Fläche versammelt.
Damit tun die Bilder zwei Dinge gleichzeitig, denn während sie einerseits in Brecht’scher Manier ihre eigenen Produktionsbedingungen, die Kamera und den Drahtauslöser, ausstellen und derart auf die Künstlichkeit jeder Darstellung verweisen, scheinen sie doch andererseits und zugleich zur Partizipation an oder Immersion in der künstlichen Welt aufzufordern, die sie zuallererst produzieren. Der Betrachter wird in das Bild hinein fotografiert, er „loggt sich ins Bild ein“, wie der Titel in Anlehnung an die in dem Film Matrix entwickelte Praxis, sich in die Welt hinein und aus ihr heraus zu telefonieren, suggeriert.
Die schwarz-weiß Ästhetik, die die Bewegungen gleichsam als Bewegungen im Stillstand ausstellt, legt nicht zuletzt einen Zusammenhang mit der dokumentarischen Ästhetik der russischen Avantgarde nahe, die ihrerseits mit Mehrfachbelichtungen experimentierte und im Kameraauge, dem Kinoglaz, die technische Verlängerung des menschlichen Auges sah, das die Realität so zeigt, „wie sie wirklich ist“ (Dziga Vertov). Diese technischen Voraussetzungen werden von Röder in ihren Fotografien re-enacted, denn diese erscheinen gleichsam als fotografischer Kommentar auf die filmische Technik, indem sie eine Rückkehr zur statischen Kamera und damit den Verzicht auf die technische Mobilität inszenieren, die das dokumentarische Filmen revolutioniert hat.
Der Bezug von Foto und Film und die damit einhergehende Verhandlung der technischen Möglichkeiten der beiden Medien finden sich auch in den farbigen Blitzbelichtungen wieder. Auch hier werden die Bilder zu einer Experimentalanordnung des Fotografierens: Die Dunkelkammer, die die Künstlerin in der Serie Laboratorium zum Gegenstand gemacht hatte, wird nun in den Außenraum übertragen, um so den Prozess der Sichtbarmachung im Fotolabor in der „realen Welt“ zu erproben. Die subjektive Entscheidung über das, was im Bild erscheint und was nicht erscheint, wird hier nicht durch die Manipulation der Lichtquelle im Fotolabor getroffen, sondern über den Einsatz von Blitzbelichtungen im dunklen Außenraum. Die Nacht wird zur Dunkelkammer, und aus dieser Nacht werden die Dinge, die sichtbar sein sollen, durch ihre Ausleuchtung quasi herausgeschält. Nicht die Nacht ergießt sich mehr über die Dinge, sondern die Dinge werden einzeln auf die dunkle Fläche der Nacht, die hier die Bildoberfläche ist, angeordnet. Auch diese Bilder funktionieren in der Serie und das heißt für die Künstlerin im Dialog untereinander, der, wie im Fall der schwarz-weiß Serien, auch hier einen stark kinematografischen Charakter annimmt.
Hatte man den Literaten der Nouvelle Vague (eine weitere Inspirationsquelle für Röders Arbeiten) vorgeworfen, sie seien neidisch auf das Kino und würden sein Vorgehen imitieren, indem sie neutrale Beschreibungen der Dinge anstelle bedeutungsvoller Handlungen der Charaktere setzen würden, vollziehen Röders Arbeiten eine weitere Schleife. Das fotografische Bild erscheint hier als stillgestelltes Filmbild, als Film-Still. Die Ausstellung der technischen Ausstattung der Fotografie, in der ihre Prozesshaftigkeit besonders zum Ausdruck kommt, wird um andere filmische oder kinetische Verfahren wie die Nachstellung von Schuss-Gegenschuss-Verfahren oder filmischer Cuts erweitert. Doch anstelle der Filmkamera als bildgebendes Verfahren tritt hier das Blitzlicht: So etwa in dem Doppelbild Basement (wie auch bei Inzersdorf I und II), in dem die Künstlerin mit einer statischen Kamera zwei Aufnahmen von einem Ort mit unterschiedlicher Blitzbelichtung macht. Während in Basement I der Blitz in die Kamera gerichtet ist und so einzig der Kellergang und die alten Rohre „zum Bild werden“, wird der Blitz in Basement II als „Gegen-Schuss“ von der Kamera weggehalten, und lässt so die Person, die den Blitz hält, als Silhouette vor einer feinmaschig vergitterten Tür erscheinen, während der Gang hier im Dunkeln bleibt. Die Versuchsanordnung ist in beiden Bildern dieselbe, einzig die Ausrichtung des Lichts verändert die Bildwerdung radikal. Ähnlich in Untertag I und II, wo zudem das Verfahren der filmischen Cuts scheinbar auf die Fotografie zurückübertragen wird: Der mannshohe erste Print erweckt beim Betrachter zunächst den Eindruck, hinter der Person zu stehen, die ihm den Rücken zuwendet, und ihren Blick zu verfolgen. Das zweite, kleinere Bild zeigt dann das Blickfeld der Person, einen Drahtzaun, der hier wie herangezoomt wirkt und wiederum eine Person zeigt, die mit dem Rücken zur Kamera steht und auf eine nun nicht mehr sichtbare Skyline von Manhattan schaut. Der Betrachter verfolgt die Abfolge der Bilder wie eine Bildfolge im Film. Und auch hier erzeugt der Einsatz des Blitzlichts verschiedene Sichtbarkeiten, die vom scheinbaren Heranzoomen der Kamera noch verstärkt werden und an das Spiel der Fotos im Film denken lassen, wie es in Antonionis Blow Up paradigmatisch verhandelt wird. Die Sichtbarwerdung des unsichtbaren Details im Fotolabor (das bei Antonioni die Benjamin’sche These bestätigt, dass jedes Detail ein Tatort ist) wird hier jedoch in die „reale“ Welt verlegt. Diese Welt, in der die Dinge „da sind“, wird so im Bild als Referenz dekonstruiert: Die Welt wird flach, wie das Bild selbst, und beide werden ausgestellt als ein Laboratorium, in dem der Unterschied zwischen Menschen und Dingen, Hell und Dunkel, Vordergrund und Hintergrund, Realität und Bild immer aufs Neue ausgelotet wird.
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i Alain Robbe-Grillet, Pour un noveau Roman, Paris 1963, S. 21.
ii Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Gesammelte Schriften,
Band IV.1, Frankfurt/Main 1991, S. 253.
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Maria Muhle in
Ria Patricia Röder – Log In | Ausstellungskatalog | Büro Adalbert, Berlin | 2010