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SYLVIE EYBERG
 

ACHT JAHRE ÜBERLEGUNG FÜR/ÜBER...

Acht Jahre Überlegung für/über Sylvie Eyberg [1992 - 2000]


Der Zigarettenrauch und der Raucher vereinigen sich durch infra-mince
[Marcel Duchamp] Wie kommt es, daß ich beim Betrachten von Sylvie Eybergs
Arbeiten so oft an Marcel Duchamp denke? Sylvie mag Marcel nicht.* Und doch
gibt es bei diesen fotografischen Wiedereinrahmungen ein ganzes Verzeichnis
von Fläschchen, Gefäßen, Gas und Wasser, die eine scheinbar erotische
Funktion haben. Doch hier ist weder Sublimation noch Perversion nötig.
Duchamp, Deus ex machina, manipuliert seine Maschinen. Eyberg gebraucht als
Maschine das Auge, die HandS und die Schere. Es gibt solche, die
fotografieren ohne Apparat; Sylvie macht Fotografien ohne Aufnahmen: findet
einen einfacheren Aufwand. Wenn man zur ursprünglichen Arbeit zurückkehrt,
bemerkt man, daß der Schnitt vor dem Bild geschah: einfache Rechtecke aus
Kunststoff, einer feinfühligen Mittellinie folgend ausgeschnitten, weiß
bemalt und der Schnittachse folgend aneinandergereiht, damit sich der feine
Sägeschnitt beim Aufhängen in einem Zwischenraum der Mauer verwandelt,
verbreitert - horizontal. Ein wenig später erscheinen fotografische
Fragmente, mit der Schere aus Zeitschriften ausgeschnitten und auf die Mitte
einer kleinen Kunststoffplatte geklebt: eingerahmt, eingeschlossen, dann
bedeckt und ein wenig maskiert durch Farbe an den Rändern, die Bemalung der
Platte auf das Bild übergreifend. So vermischt sich der zärtliche Blick der
Künstlerin mit der Distanzeinstellung des Zuschauerauges. Vielleicht,
angesichts dieser Fragmente von Rücken, bei diesen FensternS könnte man
Degas erwähnen, wodurch seitens der Maschin[ist]en Duchamp erreichbar wäre.
Aber es ist nun Zeit, das Seil, welches eine neue Arbeit mit ehemaligen
Referenzen verbindet, zu zerschneiden. Die Proportion, mit welcher die Farbe
das Bild zu- oder aufdeckte [die Deckungsfarbe?], schuf die Spannung wie die
Stufe der Zurückhaltung. [Das Bild zeigt nur, was nötig ist - und es ist
nicht nötig, es zu berühren, um berührt zu sein.] Und dann Bestürzung: die
Maske ist gefallen. Nun sind die fotografischen Fragmente sich selbst
überlassen, ohne Farbbedeckung, aber vorläufig zu 3Paaren2 zusammengefügt
und dadurch noch immer ein wenig zurückhaltend. Sieh, noch etwas
Überflüssiges weggelassen: kein Stereoskop nötig, damit sich das Doppelbild
im Geiste des Zuschauers in Relief verwandelt. Hingegen verlangt dies, wie
bei jedem ehrlichen Austausch, einen Preis: von jetzt an werden die
Originale in einfache Notizhefte geklebt, dann wiederfotografiert,
vergrößert, um die Präsentation an der Wand zu ermöglichen. Eine
modernistische Grundverkürzung hätte uns zur nächsten Etappe bringen können:
ein einziges fotografisches Fragment, wie immer aus alten Zeitschriften
ausgeschnitten und vergrößert, wird nun zur Komposition. Der Blick kommt
jetzt gefährlich nahe, die [Wieder]einrahmung umkreist immer enger die
Augen, die Hände, Fluidum, kleine, gefährliche Dinge: Behälter, Tassen,
GläserS und Bücher. Aber diesmal handelt die Distanz anders: Sylvie geht zur
zweiten fotografischen Handlung über, jener im Fotolabor. Sie wirkt im
Geheimnis der Dunkelkammer, verfolgt den Lichtstreifen des Negatives auf dem
Papier unter dem Vergrößerungsglas, mit Verdeckungen und Ausschneidungen
verändert sie die Kontraste zonenhaft. Eine Technik, die den Abzügen eine so
eigene, schwebende Gestalt verleiht. Noch immer gibt es die Annäherungs- und
Entfernungsbewegung, die aus Liebe und Zurückhaltung - Sylvies Motiv und
Handlung. Gern hätte ich über die 3Gelben2, die damals aktuelle Etappe ihres
Werkes geschrieben - und wie leicht wäre dies gewesen. Aber sie war zu nah,
die Spannung war nicht sofort zu lösen. Die Liebeslehre verstehenS und dann?
Vielleicht waren sie zu verstrickt, ich hätte diesen Text nicht beenden
können, ohne alle Nuancen der neuen Werke zu verstehen.
[1992, Revision 2000]
Was haben uns die Gelben gebracht? Die endgültige Verwandlung der Fotografie
in der Bilddarstellung [Bilddarstellung ohne die Sinnbilder dieses
Verfahrens]. Von nun an, weder Schatten noch Licht, aber eine luminöse
Sanftheit ohne Glanz. Gelb, bis heute einzige Farbe im Werk, ist die einzige
Farbe, welche nicht gelblich wird. Ihre Verwendung aber rührt her vom
vergilbten Papier der Notizhefte und der alten Zeitschriften. Wenn hier
etwas aus Sonnenlicht besteht, bräuchte es also Lichtjahre, um jemanden zu
erreichen - geduldige Betrachter eher als schauende Vorbeigehende. Sylvie
mag den Schnee nicht** [ein zu glänzendes Weiß?] und scheint sich vor dem zu
hellen Schein der Sonne zu schützen: ihre Welt besteht aus der Bibliothek,
dem Arbeitstisch, dem Atelier. Was könnte der Zigarettenrauch im freien
Raum? Der Rauch [so unerträglich für mich als Nichtraucher] gibt in einem
begrenzten Raum dem Licht seinen Wohlgeruch.Es bleibt uns noch eine letzte
Überraschung zu durchdenken: Wenn es also möglich ist, Fotografien ohne
Bildaufnahmen anzufertigen, so ist es auch möglich, Texte ohne
Notizaufnahmen zu 3schreiben2. Aus denselben Zeitschriften hier und dort
Sätze fragmentarisch herauszuschneiden, sie durch Kleben zusammenzuführen,
um Paraphrasen zu erhalten. Kleber und Schere genügen - der so gebildete
Satz ist durch typografische Abstände und grammatikalische Distensionen
geprägt, welche den Ursprung verraten: kein Rauch ohne Feuer. Diese
Ausdrucksweise ist rauher als die Bilder: in ihrer Poesie zeigen sich eher
politische Anspielungen. Wenn sich auch die Verbindung Text-Bild nicht
sofort durchsetzt, dann deshalb, weil jeder Weitschweifigkeit zwischen Text
und Bild ausgewichen wird.Fotografie, Sprache ohne Schlüssel, meinte
Barthes; in der Sprache ist alles Schlüssel. Das weibliche Kunstwerk färbt
sich mit Feminismus und die eigenartige Weiblichkeit bei Sylvie entwickelt
sich zum geteilten Feminismus. Aber ohne Ostentation. Ich fühle mich
angesprochen, nicht angegriffen.
Sylvie wendet sich mit Feinfühligkeit an uns und, wie immer, mit
Zurückhaltung. Man könnte ihr mehr Stunden widmen. Es gibt Menschen, die man
bewohnen kann ohne sie zu entkleiden. Die Kunst ist des Lebens wert.

[März 2000]

* Eijsberg [der Gletscher] - könnte sie für den Marchand du sel schmelzen?
** und Glanzpapier auch nicht
Text: Alain GéronneZ / Übersetzung: Aurelia Maron