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ANDREA PICHL
 

LUDWIG SEYFAHRTH: EIN GROTESKER KÖRPER, AN MIES VAN DER ROHE GEMESSEN GEDANKEN ZU ANDREA PICHLS „FÜR IMMER UND IMMER“

Es gibt gute moderne Architektur und schlechte. Das Mies van der Rohe-Haus in Berlin- Hohenschönhausen, in seiner in sich ruhenden Formvollendung, ist ein anerkanntes Meisterwerk, das stolz den Namen seines Architekten trägt. Ein Werk Mies van der Rohes ist auch die Berliner Neue Nationalgalerie, die weltweit als Höhepunkt moderner Museumsarchitektur gilt.
Solche gute, künstlerisch als wertvoll anerkannte Architektur weist vergleichbare Qualitäten auf wie eine gelungene Skulptur im öffentlichen Raum. Sie bildet eine Silhouette, die heroisch aus ihrer Umgebung herausragt, oder sie fügt sich in eine vorhandene Umgebung so harmonisch ein, als ob sie schon immer dazugehört hätte.
Wenn man den Bungalow des Mies van der Rohe-Hauses aus von dem bis zum See reichenden Garten aus betrachtet, wirkt es vor dem hinter ihm aufragenden Konglomerat an Gebäuden, Gründerzeit-Wohnhäusern und vielstöckigen Plattenbauten, wie eine wohltuende, in sich ruhende Skulptur. Das Gebäude ist ja auch dadurch aus dem Kontext herausgehoben, dass es keiner üblichen Funktion (Wohnen, Geschäfte, Kindergarten, Behörde oder Stadtteilbibliothek) dient, sondern als Ausstellungsort, wobei nicht nur die jeweilige Kunst, sondern stets auch das Gebäude selbst mit ausgestellt wird.
Dass die Skulptur, die nun im Garten des Mies van der Rohe Hauses zu Gast ist, auf das Gebäude abgestimmt ist, erscheint auf den ersten Blick. Was soll schließlich dieses merkwürdig zusammen gebastelte, groteske Ungetüm, aus dem einzelne Teile frei herausragen, wie bei einem halbfertigen, eingerüsteten Gebäude – ja was soll denn dieses mehr an ein Klettergerüst auf einem Spielplatz denn an ein Bauwerk erinnernde Konstrukt mit dem ausgewogenen, in sich geschlossenen Bau von Mies zu tun haben?
Einige der Maßverhältnisse, die den so ausgewogenen konzipierten Bau Mies van der Rohes auszeichnen, sind in Andrea Pichls Skulptur exakt aufgenommen: die Traufhöhe, die Höhe der Innenräume und das Fensterraster. Die Proportionen allein scheinen also nicht sehr entscheidend für das Aussehen des Resultats zu sein. Und das scheint auch etwas zu sein, worauf uns die Künstlerin nicht ohne Ironie aufmerksam machen möchte.
Es ist überhaupt zu beobachten, dass sehr unterschiedlich bewertete Architektur auf ähnlichen formalen Prinzipien beruht: geometrische Vereinfachung und Serialität bilden die Grundlage des gestalterischen Denkens sowohl bei Mies van der Rohes Ikonen der Architekturgeschichte als auch bei der oft verachteten Architektur der Plattenbausiedlungen in der DDR und anderen sozialistischen Ländern. Wenn Wita Noack im Pressetext zu „Für immer und immer“ formuliert: „Allein an der wirtschaftlichen Schwäche scheiterte das Gelingen solcher Siedlungen“, dann deutet es auch auf soziale Unterschiede hin: Zum einen das „Landhaus Lemke“, das ein Druckereibesitzer aus Friedrichshain 1932 bei Mies in Auftrag gab: Ein „kleines und bescheidenes Wohnhaus“, das „an schönen Tagen zum Garten hin erweitert“ werden konnte. Auf der Terrasse gab Lemke Empfänge für seine Geschäftskunden. Zum anderen die Plattenbau-Ensembles, in der Menschen aus den mittleren und unteren Einkommensschichten wohnen, und für deren Gestaltung keine namhaften Architekten beauftragt wurden.
Nun interessiert sich Andrea Pichl seit vielen Jahren in ihrer künstlerischen Arbeit vor allem für diese oft verachtete Architektur, an der sie auf ihren Erkundungen immer wieder interessante Details entdeckt: Merkwürdige Ornamente, Türdächer, Verbindungsstücke, die man im Universum der seriell aneinander gefügten Platten nicht vermuten würde, dienen Andrea Pichl als Ausgangspunkt für viele ihrer Fotografien, Zeichnungen, Installationen und Skulpturen.
Die Inspiration der Künstlerin entzündet sich an den Unstimmigkeiten, Ungereimtheiten und merkwürdig geflickten Zwischenräumen, an dem oft Unbeachteten und gestalterisch „offiziell“
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Missglückten. Dieses erforscht sie vor allem in den unterschiedlichen Ausprägungen sozialistischer Architektur und unternimmt dafür auch Reisen in verschiedene Länder, so 2010 nach Taschkent, die Hauptstadt Usbekistans.
Es ist eine Form der Herausforderung, sich direkt mit der formalen Perfektion von Mies van der Rohe und anderer Heroen der modernen Architektur zu befassen, der geometrischen Klarheit und Transparenz, der „Klassizität“ ihrer Bauten etwas gegenüberzustellen. „Ist die Moderne unsere Antike?“ war ja einer der Leitfragen der letzten Documenta, und man kann sich auf die Moderne beziehen wie der Klassizismus auf die Antike.
Aber es kann eine genauso große Herausforderung sein, die klassischen Qualitätskategorien in Frage zu stellen: nicht das Reine und Schöne zu suchen, sondern das Augenmerk stattdessen auf das Schräge, Merkwürdige, Abseitige und landläufig als hässlich Geltende zu legen. Dann folgt man der Spur der Groteske als Gegenbild zum klassischen Ideal des Schönen.
Wenn wir die Architektur als ein Körper auffassen, wäre Mies van der Rohe, in die Abstraktion übertragen, der wohlproportionierte Körper der Renaissance, wie ihn Leonardo da Vinci vermessen hat. Die Skulptur, mit der Andrea Pichl uns konfrontiert, wäre demgegenüber eher ein grotesker Körper, wie ihn der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben hat und der weniger durch seine Körpergrenzen als durch seine Öffnungen definiert ist: “Die grotesken Gestalt ignoriert (...) die verschlossene, ebenmäßige und taube Fläche des Leibes...“1
Andrea Pichl hat dem wohlgeformten, trotz seiner Offenheit nach außen seine formale Geschlossenheit betonenden Architekturkörper Mies van der Rohes einen auf ähnlichen Maßverhältnissen beruhenden grotesken Leib gegenübergestellt, eine Art Karikatur oder armen Vetter, der zur Klarheit und optischen Einheit des Mies-Baus in einem ähnlichen Verhältnis steht wie ein stur zusammengesetzter Plattenbau mit seinen merkwürdig geflickten Nahtstellen. Die Skulptur „passt“ nicht zu dem Mies van der Rohe, obwohl sie, wie gesagt, passend zu dessen Maßverhältnissen konzipiert ist.
Sie ist auch so etwas wie ein falsch zusammengesetztes Puzzle oder ein Gesicht, in dem Mund, Nase, Augen nicht an ihrem normalen Platz, sondern wie auseinander genommen und „falsch“ zusammengesetzt, wie es die ersten Betrachter der Gesichter auf den Bildern Picassos empfunden haben.
Auch Picasso ist für uns ja längst klassische Moderne. Und nicht nur Picasso, auch Mies van der Rohe hat, auch wenn es heute klassisch aussieht, neu und anders zusammengesetzt, was man damals gewohnt war, und hat die Zeitgenossen schockiert, weil Säulen, Zierrat, Giebeldach und vieles fehlte, was man damals als unerlässlich für gute Architektur empfand. Und so könnte, am Ende, Andrea Pichls Intervention vielleicht auch zum Anlass und Wegweiser werden, dem uns gar nicht mehr so präsenten Unklassischen bei Mies van der Rohe nachzuspüren. Nicht nur in den „Sünden“ der modernen Stadtplanung gibt es überraschende Entdeckungen, auch die kleinen und großen Taten berühmter Architekten lassen sich auf ungewohnte Weise unter die Lupe nehmen. Jenseits der Kategorien und Maßstäbe der Architekturgeschichte liefert uns Andrea Pichl einen künstlerischen Blick, der das Augenmerk immer wieder darauf lenkt, wo Systeme, Ordnungen, Rechnungen nicht aufgehen. Was „gute“ und was „schlechte“ Architektur ist, steht dann eben auch nicht „Für immer und immer“ fest, sondern immer wieder in Frage.
Ludwig Seyfarth
1 Bachtin, a. a. O., S. 16 f.
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