artmap.com
 
JORINDE VOIGT
 

(D) 3 MÖGLICHE ANNÄHERUNGEN

3 mögliche Annäherungen an die Arbeit von Jorinde Voigt

von Adina Popescu

I

In „Die Bibliothek von Babel“ beschreibt Borges einen Palast, dessen Architektur das, in jeder Ordnung Undenkbare und Unvorstellbare repräsentiert. Er steht für den Wahnsinn. Er sagt: Dieser Palast ist ein Bauwerk der Götter. Die Götter, die ihn gebaut haben, sind tot. Und dann korrigiert er sich: Die Götter, die ihn gebaut haben, waren wahnsinnig.
Wenn der Mensch, gefangen im Labyrinth seiner eigenen Verwobenheit, nicht mehr auf eine höhere Logik –auf die Übersicht des göttlichen Auges- vertrauen darf, dann ist das Wahnsinn.

Es gibt verschiedene Modelle von Labyrinthen. Das Labyrinth von Daidalos, in das sich Theseus hineinbegab und nur durch Ariadnes berühmten Faden zu entrinnen vermochte, ist, neben der komplexeren, verzweigten Form des Irrgartens von Knossós, die Urformen des Labyrinths. Eigentlich hatte Theseus Ariadnes Faden nicht gebraucht. Anstatt sich auf die weibliche Schläue zu verlassen, hätte er sich der höheren, ihm nicht zugänglichen Ordnung der Götter hingeben sollen. Die labyrinthischen Wege sind zwar so angelegt, dass der sie Begehende den Überblick verliert, ihnen aber folgend, immer zum Ausgang finden wird. Was aber nun, wenn die Götter selbst den Überblick verloren haben?

Borges erschafft in dieser Welt aus Sprache eine Realität, eine primäre Existenz, welche ein Sein an sich hat. Diese Geschichte ist nicht das Abbild der Welt, sondern selbst eine Form von Realität. Sie handelt von jemandem, der sich zur Aufgabe setzt, die Welt in ihrer Totalität abzuzeichnen. Im Laufe der Jahre wird diese Welt immer vollständiger, bis er entdeckt, dass dieses geduldige Labyrinth aus Linien „das Bild seines eigenen Gesichts wiedergibt...“
Durch das Erstellen von Modellen der Realität, wird diese für uns überhaupt Zugänglich. Modelle vermögen erst das Ausmaß unserer Wahrnehmung darzustellen. Wir können keine gültigen Aussagen über die Welt machen, da wir immer ein Modell von der Welt erstellen müssen, über das wir dann eine Aussage treffen. Alle Messungen, sowie die medialen Differenzen unserer Wahrnehmung, von den Augen bis zu Technischen Geräten, machen es unmöglich, die Welt eins zu eins zu übertragen. Wir wissen, dass unser Gehirn Krümmungen verrechnet, Dimensionen in Verhältnis setzt und jedes Teleskop nur eine andere Ordnung repräsentiert. Die Suche nach der Sichtbarmachung des Verborgenen ist ein Exzess gegen Unendlich und erzeugt einzig und allein seine eigenen Bedingungen der Wirklichkeit.

Die Verdopplung der Welt in eine sie scheinbar spiegelnde zweite Ebene war die totale Illusion des Barock. Die absolute Verdopplung alles Seienden in die Repräsentation war das Ziel. Ihr Perspektivismus ist zwar ein Relativismus, aber nicht der Relativismus, den man vermutet. Er ist keine Variation der Wahrheit je nach Subjekt, sondern die Bedingung, unter der dem Subjekt die Wahrheit einer Variation erscheint.




II

Wie lange ist die Küste Großbritanniens?

Diese Frage war der Gegenstand eines Artikels, der 1967 unter gleichem Titel in der Zeitschrift Science erschien und die Mathematik revolutionieren sollte. Der Verfasser war Benoit Mandelbrot, ein französischer Mathematiker, der für IBM in New York arbeitete. Auf den ersten Blick scheint diese Frage harmlos. Es ist ja schließlich zu erwarten, dass sich eine einigermaßen genaue Antwort mit Hilfe einer Straßenkarte oder durch Satellitenbilder ermitteln ließe. Die Antwort Benoit Mandelbaums lautet jedoch, dass es keine richtige Antwort gibt. Diese Folgerung schloss Mandelbrot aufgrund folgender Argumentation: Angenommen wir vermessen die Küste mit einem Flugzeug aus ca. 10 000m Höhe. Aus dieser Höhe lässt sich eine Vielzahl kleiner Buchten und Vorsprünge nicht erkennen. Wir machen die gleiche Messung aus einem kleinen Flugzeug aus 500m Höhe - und es werden viele zusätzliche Details sichtbar. Stellen wir uns nun vor, wir machten uns zu Fuß auf den Weg, um die Küste mit einer Genauigkeit von 1m Entfernung abzumessen: Unregelmäßigkeiten, die aus der Luft nicht sichtbar sind, führten uns zu einem noch weitaus besseren Ergebnis als die beiden ersten Messungen. Doch nun wiederholen wir die Messung mit einer Genauigkeit von 1cm und so fort. Schnell ist man beim Maßstab eines Kieselsteines, eines Sandkornes, eines Moleküls, und das Messergebnis wächst ins Unendliche.

Die Berechnung der Kurve, welche diese Messung adäquat zu repräsentieren vermag, wird 1977 von Mandelbrot als Fraktale bezeichnet und die Wissenschaft, die sich damit befasst, wird fraktale Geometrie genannt.



III

In der Physik bedeutet Kontinuum, dass die physikalischen Größen innerhalb des Kontinuums keine Unterbrechung besitzen. Dieser Begriff gilt immer nur innerhalb eines bestimmten Modells. Ein Kontinuum kann bei höherer „Auflösung“ in der Betrachtung dann doch aus einzelnen getrennten Elementen bestehen, von Molekülen bis hin zu Atomen. Die einzigen „unzerstörbaren“ Kontinua scheinen die Zeit und der Raum zu sein.

Das Konzept des Kontinuums bei Leibniz ist darauf begründet, dass das Kontinuum nicht aus einer Aneinanderreihung unendlich vieler Punkte besteht, da sich sonst das gleiche Problem wie mit der Künste Englands darstellt, in welchem die Punkte, je kleiner sie werden, gegen unendlich gehen. Die Unendlichkeit also liegt in der Verkleinerung und nicht in der Verlängerung.

Betrachtet man die Körperwelt nur unter dem Gesichtspunkt der Ausdehnung, dann ist Bewegung nichts weiter als Veränderung in den Nachbarschaftsverhältnissen der Körper. Da die Bewegung etwas rein Relatives ist (welcher Körper sich bewegt und welcher nicht, hängt allein vom Standpunkt des Betrachters ab), reicht dieser Begriff nicht aus, sondern muss um den Begriff der Kraft, den Leibniz von Aristotles entlehnt, nämlich dem Begriff der Entelchie ergänzt werden. Die Kraft ist somit das eigentlich Reale. Nur Kraft kann, nach Leibniz, den Wechsel von Ruhe und Bewegung erklären. Geht ein bewegter Körper in Ruhe über, so hört wohl die Bewegung auf, aber der Körper hört deshalb nicht auf, Kraft zu sein oder Kraft darzustellen. Diese ist, und damit kommen wir wieder zum Problem des Kontinuums, dann lediglich als eine potenzielle Energie vorhanden. Es gibt deshalb kein Gesetz von der Erhaltung der Bewegung, sondern von der Erhaltung der Kraft.

Diese Kraft ist als eine rein potentielle zu denken, die, auch wenn sie nicht aktualisiert wird, weiter wirkt. Leibniz schlägt nun vor, den Begriff der Potenz in Verhältnis zu dem Begriff der Aktualität zu setzen. Eine Potenz kann man sich wie eine Einfaltung vorstellen. Sie ist latent da und muss nur aktualisiert, das heißt ausgefaltet, um aktiviert zu werden. All diese Einstülpungen und Einfaltung, all diese Möglichkeitsräume, ergeben in ihrer Gesamtheit, das, was Realität ausmacht- und zwar als Kontinuum. Sie können aktiviert werden oder auch nicht. Daraus ergibt sich eine unendliche Vielzahl von Möglichkeiten, welche unsere Realität bestimmen.
Das Potentielle (virtuelle) ist hierbei ebenso wirklich wie das aktuell Zugängliche.
Das göttliche Auge ist bei Leibniz jenes, welches das Blatt des Wissens, mit all seinen Einfaltungen und Einbuchtungen glatt streichen kann und die Übersicht über alle Möglichkeiten des Wirklichen hat. Da das Moment der Zeit eine wichtige Rolle im Verständnis des Verhältnisses von Aktuell und Potentiell spielt, ist die Dynamisierung oder Verzeitlichung dieses Prozesses bei Leibniz sehr wichtig. Eine jede Ausfaltung erzeugt eine Vielzahl neuer Einfaltungen und eine jede Aktualisierung, verändert das Spiel der bestehenden Anordnung. Wenn ich eine Falte eines Rockes glatt streiche, erzeuge ich gleichzeitig viele neue Falten. Die Dynamik diese Prozesses ist es, die eine immer neue Zukünftigkeit und Konfiguration des Bestehenden erzeugt, die so nicht abzusehen oder zu kalkulieren ist.
Modelle beinhalten immer schon eine Handlungsanweisung und eine Interpretation von Welt und Gesellschaft. Einmal ausgeführt, vermögen sie Realität zu erzeugen und unsere Zukunft herbei zu führen.

Jedes Modell ist ein Möglichkeitsraum, dem die Kraft innewohnt, Welt zu sein. Darin ist es potentiell ein Spiegel des gesamten Universums, in all seinen aktualisierten und nicht aktualisierten Varianten.





Adina Popescu, Philosophin.
Arbeitet als freie Autorin und war kürzlich mit von ihr konzipierten Projekten u.a. auf der Moskau Biennale 07, sowie von PS1 zur Venedig Biennale 07 eingeladen.
Die Projekte, an denen unter anderem Mircea Cantor, Peter Fend, RothStauffenberg, Wolfgang Staehle, Johann Grimonprez und Nathalie Djurberg teilnahmen, sind einzusehen unter http://saloon-moscow.blogspot.com/.
Momentan arbeitet sie an einer Ausstellung über Horror, die im Ceausescu Palast, dem ehemaligen Diktatoren Palast in Bucharest, stattfinden wird.







Juli 2007 / Berlin