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GERNOT WIELAND
 

PATRIZIA GRZONKA RENDEZVOUS MIT EINEM NASHORN

Patrizia Grzonka
Rendezvous mit einem Nashorn
„Kein Singvogel“, sagte mein Begleiter, „geht in ein fertiges Nest, es mag nun dasselbe in einer früheren Zeit
von ihm selber oder einem anderen Vogel gebaut worden sein, sondern verfertigt sich ein Nest in jedem
Frühlinge neu. Deshalb haben wir die Behälter aus zwei Teilen machen lassen, dass wir sie leicht auseinander
nehmen und die veralteten Nester heraus tun können. Auch zum Reinigen der Behälter ist diese Einrichtung
sehr tauglich; denn wenn sie unbewohnt sind, nimmt allerlei Ungeziefer seine Zuflucht zu diesen Höhlungen,
und der Vogel scheut Unrat und verdorbene Luft und würde eine unreine Höhlung nicht besuchen. Im letzten
Teile des Winters, wenn der Frühling schon in Aussicht steht, werden alle diese Behälter herabgenommen, auf
das sorgfältigste gescheuert und in Stand gesetzt.“ Adalbert Stifter „Der Nachsommer“ (1857)
Gernot Wieland mixt in seinen Arbeiten tradiertes Wissen mit assoziativen Erzählformen und märchenhaft
gestalteten Szenerien zu filmischen Arrangements, die in einem unmittelbaren Verhältnis zwischen Kunst und
Realität stehen. Er operiert mit einer selbstdefinierten Form von „Wissenschaftlichkeit“, die nicht auf einem
normierten Wissenskanon beruht, sondern diesen geradezu in Frage zu stellen scheint. Zwar integriert Wieland
botanisches, mathematisches, medizinisches oder zoologisches Wissen in seine Arbeiten, aber
Wissenschaftlichkeit bezieht sich bei ihm vor allem auf eine allgemeine Methodik und weniger auf exakte
empirische Daten. Dadurch gewinnt er eine Basis für fiktive Stoffe, auf denen mit wenigen Ausnahmen seine
Arbeiten aufbauen. (Die Fotocollagen-Serie über die Autistin Paulista Wood, die Wieland mehrmals in ihrem
Heim besucht hat, entspricht beispielsweise nicht diesem fiktiven Schema.) Er experimentiert dabei mit
verschiedenen narrativen Strukturen, die sowohl an eine klassische Erzählform gebunden sein können als auch
einen freien, assoziativeren Umgang mit einer Geschichte aufweisen können.
So handelt es sich bei Wielands Video „Eine Reise nach Wales“ (2005) weniger um eine Geschichte mit einem
linearen Narrativ, als vielmehr um die collagenhafte Bereitstellung verschiedener fiktionaler Momente, aus
denen die BetrachterInnen eine eigene Geschichte kreieren können. In diesem Sinn „erzählt“ das Video vom
Leben eines Naturforschers und dessen Spezialgebiet, die Ornithologie. Größter Wunsch dieses Forschers ist es,
nach Wales zu reisen, um dort Vögel zu beobachten. Die Reise findet in der Vorstellungswelt eines (ebenfalls
fiktiven) Wissenschaftlers statt, der in einem psychiatrischen Heim lebt, dieses aber nur gelegentlich verlassen
darf. Wir erhalten Einblick in dessen Tagebuch, in dem sich Ordnungstabellen, kartographische Aufzeichnungen
und naturkundliche Studien mit lebensweltlichen Beobachtungen („Beim Wollen entscheidet der Mensch klar
und bewußt mit voller innerer Zustimmung für ein Ziel.“) alternieren. Die Dokumentationen und tabellarischen
Aufzeichnungen entsprechen dabei nicht den strikten Vorgaben modernen wissenschaftlichen Arbeitens,
wiewohl sie dieses imitieren, sondern entfalten vielmehr den romantischen Charme eines kauzigen
Naturforschers aus dem 19. Jahrhundert, vergleichbar etwa mit der Hauptfigur Heinrich in Adalbert Stifters
Roman „Der Nachsommer“, der als jugendlicher Amateur durch das ländliche Österreich streift, wo er vielfältige
natur- und kunstwissenschaftliche Studien betreibt. Ob über den Nestbau der Vögel, über die Rosenzucht oder
über den Aufbau eines mittelalterlichen Altars, Heinrich nähert sich diesen Wissensgebieten gleichermaßen als
universalistischer wie dilettierender Gelehrter und verbindet in einem übergreifenden Ansatz die
Naturgeschichte mit der Kunst, insbesondere der Malerei. Als Held (oder eigentlich als moderner Anti-Held)
eines romantischen Entwicklungsromans steht der Ich-Erzähler Heinrich auch für die Gleichberechtigung
mehrerer Talente nebeneinander und implizit gegen die akademische Auffächerung der Disziplinen in der
Aufklärung. Heinrich verfügt über eine Doppelbegabung als Künstler und einen Wissensdrang, der ihn zum
selbst ernannten Naturforscher qualifiziert.
„Eine Reise nach Wales“ ist dabei lediglich die Dokumentation über das Tagebuch und Teil des größeren
Projektes „Zwei Kilometer westlich, ein Kilometer südlich, hundert Meter geradeaus“, zu dem auch Zeichnungen
und anderes Recherchen-Material gehören. Diese ist als Verschachtelung auf mehreren fiktiven Ebenen
angelegt: der Wissenschaftler, den es lediglich in der Vorstellungswelt gibt, denkt sich eine Parallelwelt aus und
ahmt dabei den Gestus wissenschaftlichen Forschens nach, um aber zu gänzlich autarken Ergebnissen zu
kommen. Wieland eröffnet durch dieses Verschachtelungsprinzip über den Diskurs der Wissenschaftlichkeit
einen Diskurs über die Anerkennung selbstdefinierten Arbeitens (wie es auch das künstlerische ist). Und ganz
am Rande klingt hier auch ein ethischer Themenkomplex über die Schöpfung im allgemeinen sowie über die
Autonomie schöpferisch-kreativer Tätigkeit an. So erzählt „Zwei Kilometer westlich, ein Kilometer südlich,
hundert Meter geradeaus“ auch von jemandem, der verträumt in sein Tagebuch zeichnet, persönliche Notizen
festhält und gerne Naturforscher wäre, dabei aber nicht über den üblichen abstrakten Blick verfügt. Sekundär
geht es in dieser Arbeit über die Figur des Wissenschaftlers, der Bewohner eines psychiatrischen Heimes ist,
aber auch um die Bedeutung einer Institution wie der Psychiatrie, um den Umgang der Gesellschaft mit dieser
sowie um den Prozess der psychischen Domestizierung in Relation zur künstlerischen Kreativität.
Eine implizite Kritik steckt im symbolischen Umgang mit diesen Techniken der gesellschaftlichen
Homogenisierung: Wieland plädiert für die uneingeschränkte Anerkennung einer Parallelwelt gegenüber der
vermeintlich „realen“ Außenwelt. Seine Vision ist die der Gleichwertigkeit aller (denkbaren) Welten.
Die Erschaffung von autonomen Parallelwelten dient Gernot Wieland dabei als künstlerische Strategie, um
verschiedenste Formen von fiktiven Miniaturen zu entwickeln. Es finden sich Beispiele solcher Minidramen schon
in seinen früheren Arbeiten: „Unter anderen Voraussetzungen“ (2000) und „Eine mögliche Wiedergabe
allgemeiner Dinge“ (2002) sind zwei kurze, gezeichnete Animationsfilme, in denen über einen einfachen, sehr
reduzierten Stoff ein vergleichsweise offener Bedeutungskomplex generiert wird. Es manifestiert sich in diesen
Arbeiten eine starke Emphase in der Darstellung traulicher und intimer Momente, die in ein Gefühl der
Beklemmung und Enge umschlagen können. Während „Eine mögliche Wiedergabe allgemeiner Dinge“ auch auf
bestimmte Wahrnehmungskonventionen rekurriert – zwar sehen wir aus dem linken Bildrand immer wieder eine
Hand hervor schießen, die einen Ball an den gegenüberliegenden oberen Bildrand wirft, wir realisieren aber erst
mit der Zeit, dass der Ball gleichsam ins Leere zielt und aus dieser auch wieder zurückkommt -, so zeigt „Unter
anderen Voraussetzungen“ eine auf den ersten Blick liebevolle Geste – das Streicheln einer Hand über einen in
einem Bett liegenden Kopf. Bei längerer Betrachtung zeigt diese Geste in ihrer immerwährenden Repetition
allerdings auch ihre dunklere Kehrseite, die von der Automatisierung eines zwischenmenschlichen
Nahverhältnisses handelt (und eventuell von dessen Scheitern).
Dabei entspricht es Wielands subtiler künstlerischer Methode, in solchen Arbeiten, die eine reale, psychische
Extremsituation schildern, nicht auf eine Verdopplung der Effekte zu zielen, also keine stilistisch-drastischen
Erzählmittel einzusetzen durch dokumentarische oder fotografische Realismen, sondern eher im Gegenteil, den
drastischen Inhalt durch die Transformation der Realität in eine fiktionale Welt (die aber dennoch keine
Traumwelt ist) zu entschärfen. Sein Konzept von Fiktionalität fungiert dabei, gerade auch bei späteren Arbeiten
wie „Eine Reise nach Wales“ oder dem Film „Betrachtung eines Übergangs“ (2005) als Element der Irritation
und zur Entkopplung überlieferter Wahrnehmungsschemata.
Auch in „Betrachtung eines Übergangs“ zeigt Wieland ein liebevoll gestaltetes privates Universum, das in einem
völlig autonomen Setting gänzlich parallel und losgelöst vom tagesaktuellen Geschehen funktioniert. Hauptfigur
dieses Plastilinanimationsfilms ist eine Frau, die unter dem Syndrom des Stimmenhörens leidet. Sie hat ihr
Leben lang Dinge gesammelt und bewahrt diese in den verschiedensten Behältnissen auf. Man erhält Einblick in
ihr Lager, das mit Kisten und Schachteln vollgestopft ist, in dem versucht wird, eine minutiöse, aber dennoch
charmante Ordnung aufrecht zu erhalten. Der Eindruck des Abdriftens ins Chaotische oder Skurrile entsteht
dabei aus dem Moment des falschen Anpackens - denn die Protagonistin sammelt Immaterielles, das in keine
der vorsortierten Schachteln und Datenträger passt: Träume, fallender Schnee oder Sonnenaufgänge. Auch
dieser Film bewegt sich in der Mitte zwischen Dokumentation einerseits und Fiktion andererseits, denn wir
erfahren weder den Namen der Figur noch ob diese je gelebt hat oder erfunden ist.
Diese Arbeiten brechen unerwartet mit schematischen Sehkonventionen und fordern stattdessen eine
„Elastizität des Sehens“ ein. Gernot Wielands fiktive Miniaturen lassen sich vielleicht mit einer solchen Kategorie
der „elastischen“ Medien umschreiben, in denen theoretische Normvorstellungen transformiert und fiktive Stoffe
überzeugend den Charakter des Realen erhalten. Sie bauen somit auf einer formalen und inhaltlichen
Variationsbreite auf, in der zwar eine prinzipielle Bedeutungsoffenheit besteht, die aber durch die Setzung ihrer
eigenen Regeln zusammengehalten wird.