Alicja Kwade
09 Apr - 24 May 2010
Alicja Kwade, Andere Bedingung (Aggregatzustand), 2009
Steel, copper, glass, mirror, iron, broomstick, 7 pieces ;Dimensions variable
© Alicja Kwade
Photo: Roman März
Courtesy Johann König, Berlin
Steel, copper, glass, mirror, iron, broomstick, 7 pieces ;Dimensions variable
© Alicja Kwade
Photo: Roman März
Courtesy Johann König, Berlin
ALICJA KWADE
Ereignishorizont
09 April – 24 May 2010
Alicja Kwade (geboren 1979 im polnischen Kattowitz, aufgewachsen in Hannover) lotet in ihren Skulpturen und Installationen den Raum zwischen sehen und verstehen aus, stellt unsere Wahrnehmung auf die Probe. Einfache Materialien wie Glas, Kupfer oder Holz scheinen hier anderen Gesetzen zu gehorchen, Spiegelungen und Dopplungen erzeugen eine Parallelwelt. Kwades Materialverständnis steht in der Tradition von Bildhauern wie Robert Morris oder Franz Erhard Walther: Sie begreifen Stoffe als veränderlich, als prozessual in ihrer Abhängigkeit von Schwerkraft, der Einwirkung von anderen Materialien und ihrem Gebrauch. Alicja Kwades Arbeiten scheinen Momentaufnahmen von unerklärlichen, magischen Veränderungen zu sein, Zeugen von bloß möglichen Welten.
Den Kern der Ausstellung Ereignishorizont bildet die mehrteilige Skulptur Kooperatives Phänomen (Grundkraft), die erstmals in der kestnergesellschaft gezeigt wird. Glas- und Stahlplatten, Spiegel, Holzlatten und Kupferrohre sind um ein leeres Zentrum im Raum angeordnet. Zur Mitte hin biegen sie sich stark nach oben, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft angezogen. Je größer die Entfernung zum Zentrum, desto flacher liegen sie am Boden. Die graduell gesteigerte Biegung spielt Möglichkeiten der Formgebung durch, wobei die Anordnung einen Ablauf oder die Einwirkung einer von der Mitte ausgehenden formverändernden Kraft suggeriert. Unter normalen Umständen ist ein solches Verhalten des Materials undenkbar. Die Grenzen des Gewohnten werden überschritten, die Vorstellung anderer Gesetzmäßigkeiten damit möglich. Der Titel der Arbeit wiederum verweist auf real Existierendes: Als »kooperatives Phänomen« wird in der Physik beispielsweise der Magnetismus bezeichnet, bei dem mehrere Teilchen zusammenwirken. Bereits von weitem hörbar ist die mit Ton und Licht arbeitende Skulptur Kommunikative Fernwirkung. Zwei baugleiche Leuchtstoffröhren flackern im Gleichtakt, synchron gehen sie an und wieder aus. Damit bezieht sich die Künstlerin auf die Theorie von Parallelwelten, der zufolge jedes Teilchen einen Gegenpart besitzt, der sich genau gleich verhält, bloß spiegelverkehrt. An die Lampen angeschlossen sind Lautsprecher, die das Zünden und Summen um ein vielfaches verstärkt wiedergeben. Die Leuchtstoffröhre, ein mittlerweile traditionsreiches Material der Kunst, zeigt sich hier weder als stumme Skulptur noch als rein funktionale reglose Lichtspenderin, sondern vielmehr als Zentrum lautstarker Aktivitäten: nämlich von Gasentladungen, dem Aufbau elektrischer Spannung und elektrochemischen Reaktionen.
In der Inszenierung solcher gleichzeitig ablaufender Vorgänge, die sich wie ein roter Faden durch Alicja Kwades Schaffen zieht, manifestiert sich ein poetisches Befragen der Zusammenhänge von sinnlicher Wahrnehmung und intellektuellem Begreifen, beziehungsweise von Wahrnehmung und Vorstellungskraft. Das Konzept der Parallelwelt begegnet uns wieder in der Arbeit Parallelwelt (Ast / AntiAst). Zwei Äste lehnen an der Wand, ihre Krümmungen und Abzweigungen sind identisch, aber seitenverkehrt. Einer von ihnen ist ein Fundstück, der andere ein Doppelgänger, der auf der Basis eines digitalen 3D-Modells entstand. Dieses wurde gespiegelt und in einem weiteren Schritt ein Ast angefertigt, der dem Original genau gleicht. Weniger als um die Verhältnisse von Natur und Künstlichkeit oder Original und Kopie geht es Alicja Kwade hier um das Erzeugen eines Doubles, das jedoch wie beim Blick in den Spiegel seitenverkehrt existiert. Durch die Anordnung beider Äste an verschiedenen Stellen des Raumes ist es unmöglich, sie auf gleichzeitig in den Blick zu nehmen; vergleichen kann man sie also nur aus der Erinnerung heraus. Zufall und Unwahrscheinlichkeit rücken hier ins Blickfeld. Alicja Kwades Arbeiten nehmen hierzu immer wieder Bezug. Hinter den vermeintlich glatten Oberflächen lauern Rätsel und es erscheint verwunderlich, dass wir die Welt so verstehen, wie wir es tun. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, die alle Kunst umtreibt: Wie die Welt sonst noch vorstellbar ist. Diesen Gedanken aktualisiert Kwade mit ihren Betrachtungen von Objekten, Vorstellungen und Theorien, die in Skulpturen, Filme und Fotografien münden.
Auch der Titel der Ausstellung greift über das bloß Sicht-bare hinaus: Der »Ereignishorizont« ist ein Begriff aus der Physik, der die Grenze zu dem Bereich eines Schwarzen Lochs bezeichnet, aus dem nichts, nicht einmal visuelle oder andere Informationen, nach außen dringen kann, weil selbst das Licht der Gravitationswirkung nicht entkommt. Wo der Augensinn aussetzt und wir an die Grenzen des Denkbaren stoßen, ist allein die Vorstellung gefragt.
Ereignishorizont
09 April – 24 May 2010
Alicja Kwade (geboren 1979 im polnischen Kattowitz, aufgewachsen in Hannover) lotet in ihren Skulpturen und Installationen den Raum zwischen sehen und verstehen aus, stellt unsere Wahrnehmung auf die Probe. Einfache Materialien wie Glas, Kupfer oder Holz scheinen hier anderen Gesetzen zu gehorchen, Spiegelungen und Dopplungen erzeugen eine Parallelwelt. Kwades Materialverständnis steht in der Tradition von Bildhauern wie Robert Morris oder Franz Erhard Walther: Sie begreifen Stoffe als veränderlich, als prozessual in ihrer Abhängigkeit von Schwerkraft, der Einwirkung von anderen Materialien und ihrem Gebrauch. Alicja Kwades Arbeiten scheinen Momentaufnahmen von unerklärlichen, magischen Veränderungen zu sein, Zeugen von bloß möglichen Welten.
Den Kern der Ausstellung Ereignishorizont bildet die mehrteilige Skulptur Kooperatives Phänomen (Grundkraft), die erstmals in der kestnergesellschaft gezeigt wird. Glas- und Stahlplatten, Spiegel, Holzlatten und Kupferrohre sind um ein leeres Zentrum im Raum angeordnet. Zur Mitte hin biegen sie sich stark nach oben, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft angezogen. Je größer die Entfernung zum Zentrum, desto flacher liegen sie am Boden. Die graduell gesteigerte Biegung spielt Möglichkeiten der Formgebung durch, wobei die Anordnung einen Ablauf oder die Einwirkung einer von der Mitte ausgehenden formverändernden Kraft suggeriert. Unter normalen Umständen ist ein solches Verhalten des Materials undenkbar. Die Grenzen des Gewohnten werden überschritten, die Vorstellung anderer Gesetzmäßigkeiten damit möglich. Der Titel der Arbeit wiederum verweist auf real Existierendes: Als »kooperatives Phänomen« wird in der Physik beispielsweise der Magnetismus bezeichnet, bei dem mehrere Teilchen zusammenwirken. Bereits von weitem hörbar ist die mit Ton und Licht arbeitende Skulptur Kommunikative Fernwirkung. Zwei baugleiche Leuchtstoffröhren flackern im Gleichtakt, synchron gehen sie an und wieder aus. Damit bezieht sich die Künstlerin auf die Theorie von Parallelwelten, der zufolge jedes Teilchen einen Gegenpart besitzt, der sich genau gleich verhält, bloß spiegelverkehrt. An die Lampen angeschlossen sind Lautsprecher, die das Zünden und Summen um ein vielfaches verstärkt wiedergeben. Die Leuchtstoffröhre, ein mittlerweile traditionsreiches Material der Kunst, zeigt sich hier weder als stumme Skulptur noch als rein funktionale reglose Lichtspenderin, sondern vielmehr als Zentrum lautstarker Aktivitäten: nämlich von Gasentladungen, dem Aufbau elektrischer Spannung und elektrochemischen Reaktionen.
In der Inszenierung solcher gleichzeitig ablaufender Vorgänge, die sich wie ein roter Faden durch Alicja Kwades Schaffen zieht, manifestiert sich ein poetisches Befragen der Zusammenhänge von sinnlicher Wahrnehmung und intellektuellem Begreifen, beziehungsweise von Wahrnehmung und Vorstellungskraft. Das Konzept der Parallelwelt begegnet uns wieder in der Arbeit Parallelwelt (Ast / AntiAst). Zwei Äste lehnen an der Wand, ihre Krümmungen und Abzweigungen sind identisch, aber seitenverkehrt. Einer von ihnen ist ein Fundstück, der andere ein Doppelgänger, der auf der Basis eines digitalen 3D-Modells entstand. Dieses wurde gespiegelt und in einem weiteren Schritt ein Ast angefertigt, der dem Original genau gleicht. Weniger als um die Verhältnisse von Natur und Künstlichkeit oder Original und Kopie geht es Alicja Kwade hier um das Erzeugen eines Doubles, das jedoch wie beim Blick in den Spiegel seitenverkehrt existiert. Durch die Anordnung beider Äste an verschiedenen Stellen des Raumes ist es unmöglich, sie auf gleichzeitig in den Blick zu nehmen; vergleichen kann man sie also nur aus der Erinnerung heraus. Zufall und Unwahrscheinlichkeit rücken hier ins Blickfeld. Alicja Kwades Arbeiten nehmen hierzu immer wieder Bezug. Hinter den vermeintlich glatten Oberflächen lauern Rätsel und es erscheint verwunderlich, dass wir die Welt so verstehen, wie wir es tun. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, die alle Kunst umtreibt: Wie die Welt sonst noch vorstellbar ist. Diesen Gedanken aktualisiert Kwade mit ihren Betrachtungen von Objekten, Vorstellungen und Theorien, die in Skulpturen, Filme und Fotografien münden.
Auch der Titel der Ausstellung greift über das bloß Sicht-bare hinaus: Der »Ereignishorizont« ist ein Begriff aus der Physik, der die Grenze zu dem Bereich eines Schwarzen Lochs bezeichnet, aus dem nichts, nicht einmal visuelle oder andere Informationen, nach außen dringen kann, weil selbst das Licht der Gravitationswirkung nicht entkommt. Wo der Augensinn aussetzt und wir an die Grenzen des Denkbaren stoßen, ist allein die Vorstellung gefragt.