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LISA BIEDLINGMAIER
 

REVE TA STOGNE

Reve Ta Stogne – we didn’t talk much


Lisa Biedlingmaier ist in ihrer Familie mit vielen Erzählungen aus vergangenen Zeiten aufgewachsen. Ihre Grosseltern waren im Kaukasus lebende Russlanddeutsche, welche im Zweiten Weltkrieg nach Sibirien in Arbeitslager deportiert wurden und nicht mehr an ihren Heimatort zurückkehren konnten. So ist das persönliche Schicksal der Familie der Künstlerin durch einschneidende Ereignisse der Weltgeschichte geprägt. Um die Geschichten aus ihrer Kindheit für sich aufzuarbeiten interviewte Biedlingmaier verschiedene noch lebende Verwandte zu ihren Erinnerungen an die damalige Zeit.

Technologische Neuerungen haben in den letzten Jahrzenten unsere Wahrnehmung der Realität massgeblich beeinflusst. Heute kann und wird alles fotografisch oder filmisch festgehalten. Wir werden mit Bildern aus der ganzen Welt konfrontiert und können uns deshalb vermeintlich auch vorstellen, wie es anderswo ist. Doch wie sieht es mit der „Realität“ aus, wenn diese nur in den Gedächtnissen von ZeitzeugInnen festgehalten ist und durch deren Erzählung weitergegeben werden kann. Ändert sie sich mit der Zeit? Geht sie gar verloren?

Das Interview mit ihrer Grosstante Edith Biedlingmeier wurde zur Grundlage für den Film Reve ta stogne. Der Filmtitel entstammt dem gleichnamigen Ukrainischen Volkslied, welches in den Aufzeichnungen der Grosstante eine wichtige Rolle spielt, da es damals von ihr und anderen Lagerinsassinnen gesungen wurde. Die Erinnerungen der Grosstante werden von Biedlingmaier zu einer Theaterprobe verarbeitet. Diese für die BetrachterInnen ersichtliche Inszenierung von persönlich Erlebtem schafft Distanz zu den realen Ereignissen. Die Ich-Erzählung der Grosstante wird von zwei unterschiedlichen Frauen nachgespielt, einerseits von einer älteren und andererseits von einer jüngeren Frau, der Altersunterschied der beiden Schauspielerinnen verweist auf die Zeitdifferenz zwischen dem Erlebtem und der Erinnerung.
Beide Frauen lesen ihren Text von einem Blatt Papier ab. Die Inszenierung ist also noch ganz am Anfang ihrer Entstehung und die beiden Schauspierinnen müssen wohl erst noch eine Form finden um ihre Rollen auszufüllen. Dadurch entsteht eine Offenheit bezüglich der möglichen Interpretationen, wie die Erlebnisse der Grosstante gespielt werden könnten. Den Betrachtern wird so der Prozess der Entstehung und der Interpretation des Stücks bewusst, indem die Komplexität der Erinnerungsbildung sichtbar gemacht wird.

Reve ta stogne von Biedlingmaier ist nicht nur ein Dokument eines persönlichen Erfahrungsberichtes aus einem Arbeitslager in Sibirien, sondern darüber hinaus auch ein Nachdenken über das Erinnern. Durch die inszenatorische und formale Verfremdung in der visuellen Darstellung geht der Film über die subjektive Erzählung hinaus. Im Verlauf der Erzählung ändert sich die Interpretation des vermeintlichen Schicksals der Grosstante mehrmals. Wendepunkte werden immer wieder neu bewertet. Die eindeutige Zuordnung des Guten und Bösen hebt sich auf. So wird das Verhältnis zur Wirklichkeit thematisiert und darüber nachgedacht, dass sich dieses je nach Standpunkt der Betrachtung oder Erinnerung ständig ändert. Die Bedeutung und Interpretation von Geschichten ist immer wieder Wandlungen unterworfen.

Siri Peyer
ist freie Kuratorin, die seit 2012 als Assistentin bei der Professur für Kunst und Architektur an der ETH Zürich arbeitet.