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MARCUS STEINWEG
 

ABC DER VERANTWORTUNG INTEGRATED TEXTS FOR THOMAS HIRSCHHORNS "DOPPEL GARAGE / DOUBLE GARANGE" (2002)

- Galerie Arndt & Partner (2002)
- Schirn Kunsthalle Frankfurt (2004)
- Pinakothek der Moderne, München (2005)
AUTONOMIE

Das philosophische Subjekt ist affirmatives Subjekt. Es bejaht sich selbst als Subjekt. Es bejaht seine Freiheit zur Entscheidung und die Verantwortung, die sie mit sich bringt. Das affirmative Subjekt will frei und verantwortlich für seine Handlungen und Entscheidungen sein. Es macht sich frei für seine Freiheit, anstatt sich in seine faktische Ohnmacht und Unfreiheit zurückzuziehen. Das affirmative Subjekt tritt nicht zurück, es tritt hervor. Es bejaht sich als Autorität von Handlungen, die es nie ganz kontrolliert. Es übernimmt Verantwortung für den Risikowert von Handlung, der in ihrer letztgültigen Unberechenbarkeit liegt. Es gibt Verantwortung nur angesichts des Unberechenbaren. Wären Entscheidungen und Handlungen restlos kalkulierbar, bedürfte es keiner Verantwortung und nicht einmal eines Subjekts. Das Subjekt ist Autorität im Unberechenbaren. Es ergreift sich als Autorität inmitten der Kontingenz. Es beginnt in dieser Ergreifung von sich allein abzuhängen, wie Nietzsche sagt. Es ist Subjekt einer elementaren, selbstverantworteten Improvisation. Improvisieren bedeutet, sich selbst als autonomes Subjekt affirmieren. Autonomie ist Selbstgesetzgebung. In der Improvisation bestätigt sich das Subjekt als eigene, d.h. selbstbestimmte Autorität. Improvisieren heißt, alle Risiken der Freiheit der Selbstbestimmung zu riskieren. Das Subjekt improvisiert, indem es die Gesetze, die nicht seine eigenen sind, suspendiert. Autonomie heißt nicht, von nichts abzuhängen als von sich. Das Subjekt als autonomes Subjekt ist notwendig heteronom. Es bleibt zu einem gewissen Grad fremdbestimmt. Aber die Heteronomie verhindert nicht, dass das Subjekt seine Freiheit zur Selbstbestimmung affirmiert. Es gibt für das Subjekt als Subjekt diesen irreduziblen Rest an Freiheit, der es ihm ermöglicht, sich selbst als Agent seiner Entscheidungen zu affirmieren. Als determiniertes, kontextuales und situatives Subjekt bleibt dem Subjekt die Freiheit, sich über seine Fremdbestimmung hinwegzusetzen. In genau dem Moment, in dem es sich als Autor dieser letzten Freiheit bejaht: der Freiheit, es selbst zu sein, das die Objektivation seiner selbst durch die Umstände erträgt. Noch in der äußersten Passivität und Fremdbestimmung erfährt das Subjekt an sich die Freiheit, sein (absolutes) Selbst als Gegenstand einer objektiven Gefangenschaft zu realisieren. Deshalb ist das heteronome Selbst schon Selbst der Selbstbestimmung. Es erfährt die Heteronomie als Appell zur Selbstbefreiung. Es durchbricht, indem es seine mögliche Autonomie bejaht, sein passives Selbst auf die irreduzible Freiheit, die ihm einen aktiven Selbstwert garantiert. Das Selbst ist nur Selbst im Akt dieser Durchbrechung. Es manifestiert sich im Moment der Freiheit zur Freiheit als Autorität dieser Freiheit, d.h. als Subjekt.


BEJAHUNG

Philosophie ist Bejahung. Sie ist Macht der Bejahung. Sie bejaht das Selbst und seine Unschuld als Agent und Objekt dieser Macht. Sie bejaht die Freiheit und Verantwortung. Sie bejaht den Willen des Subjekts zur Emanzipation. Emanzipation ist Befreiung von der etablierten Macht mit den Mitteln der Bejahungsmacht. Indem die Bejahung die Freiheit und Verantwortung des Subjekts will, stellt sie die etablierten Mächte in Frage, insofern sie die Freiheit und Verantwortung des Subjekts kompromittieren. Die etablierte Macht ist Ordnungsmacht. Sie will den gegenwärtigen Zustand stabilisieren. Sie systematisiert die Kräfte und Gegenkräfte. Sie regelt ihre Geschwindigkeit und Intensität. Sie teilt Namen und Funktionen zu. Sie entschärft den Durchschlagcharakter von Subjektivität. Sie ist Verneinungsmacht, weil sie das Subjekt in seiner singulären Intensität, d.h. in der Bejahung seiner Freiheit verneint. Sie lässt dem Subjekt nur die Freiheit, die es benötigt, um den etablierten Status durch eine falsche (reaktive) Bejahung zu legitimieren. Die Philosophie kann sich nicht in einer Ordnung ausdrücken. Zu ihr gehört ein Moment unbeherrschter Unordnung, Widerstand gegen die Verneinungsmacht der politischen, juristischen, kulturellen, sozialen etc. Institution. Die Philosophie bejaht den Widerstand als solchen. Philosophie ist widerständig. Aber sie ist nicht negativ. Sie kann die Systeme der Kontrolle und disziplinären Einschränkung nur verneinen, indem sie sich im Akt einer das Leben bejahenden Entscheidung über die Reduktion der Freiheit auf das Recht zur Wahl vorgegebener Optionen entsetzt.


CHAOS

Barbaren berühren das Chaos. Zum Barbaren Benjamins gehört die Aggressivität und Unnachgiebigkeit des Erfinders, der das Zurückliegende und nur Gegenwärtige verneint, um etwas Neues zu ermöglichen, für das der Vernunft der Zeit, dem gesunden Menschenverstand und der moralischen Erwägung (meistens sind sie ununterscheidbar), das Auge, die Phantasie, die Sprache, der Mut und die Entschiedenheit fehlt: “Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten.” Um von vorn zu beginnen, müssen die Barbaren das Alte hinter sich lassen. Sie müssen eine Art riskanter Vergesslichkeit wagen, eine aktive und souveräne Amnesie: “Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch wissenlos; er vergisst das meiste, um eins zu tun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt und kennt nur ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll.”
Barbaren versuchen den Menschen zu verjüngen. Sie wollen ihn im Geist einer unbestimmten Zukunft erneuern. Die “neue Aufgabe” der “neuen Barbaren” sei es: “im Nicht-Ort einen neuen Ort zu schaffen; ontologisch neue Bestimmungen des Menschen, des Lebens zu konstruieren – eine mächtige Künstlichkeit des Seins.” Sie müssen selbst, wie der destruktive Charakter Benjamins, “jung und heiter” sein. Die Heiterkeit befreit den Barbaren von der Last des Vergangenen. Sie gibt ihm die Leichtigkeit der Vögel. Barbaren können nur heiter und zuversichtlich wie Aeronauten sein. Sie werfen sich der Sonne entgegen, wie der verrückt spielende Ikarus, der im Augenblick des Fliegens plötzlich höher fliegt, die hybris steigert, indem er, bereits oben, höher zu fallen beginnt.

Der Barbar sucht nicht den Schutz der Wolken. Er verweigert sich ihm. Statt am Boden zu verharren und seine Schätze zu verwalten, stürzt er von der Erde weg. Er bindet sich von ihr los. Um einen Raum zu durchqueren, der jenseits seiner Möglichkeiten und jenseits des Vernünftigen liegt. Der Barbar muss das Universum der Vernunft verlassen, um unerhörte, unerträgliche und unwahrscheinliche Erfahrungen zu machen. Er muss das Chaos kontaktieren. Rückhaltlosigkeit und Exzessivität nach vorne machen aus dem Barbaren eine Art von Subjektivität in actu. Der Barbar ist seine eigene Entwicklung. Er ist kein Tier. Er ist weder Roboter noch Androide noch Bestie. Er ist der noch nicht festgestellte Mensch.


DISKUSSIONEN

Die Diskutierer finden kein Ende. Sie diskutieren, um zu diskutieren. Sie haben kein Problem! Vor lauter Problembewusstsein verlieren sie ihre Probleme. Sie diskutieren Probleme, um das eigentliche Problem nicht anrühren zu müssen. Was ist das eigentliche Problem? Es ist das Problem der Entscheidung. Es gibt kein anderes Problem. Zumindest gibt es kein ernstzunehmendes Problem, das es erlauben würde, von diesem Problem abzusehen, es zu verdrängen oder aufzuschieben. Das Problem der Entscheidung ist unaufschiebbar. Denn die Entscheidung als solche verlangt nach Unaufschiebbarkeit. Jede aufschiebbare Entscheidung ist keine. Die Situation der Entscheidung ist die Krise. Krisis ist das griechische Wort für Entscheidung. Es bedeutet zusätzlich Streit, Zwiespalt, Scheidung und Ausschlag, Urteil, Antwort. Das Verb krinein heißt übersetzt: scheiden, unterscheiden, trennen, etwas auswählen, etwas einer anderen Sache vorziehen, bevorzugen. Die Krisis fordert vom Subjekt, eine Wahl zu treffen, eine seiner Optionen zu privilegieren. Das Subjekt gerät in Bedrängnis. Es kann nicht alles beim Alten lassen. Es muss Verantwortung übernehmen. Es ist jetzt Handlungs-Subjekt, statt nur Vertreter einer Meinung zu sein. Es kann sich nicht weiterhin im Raum der Diskussionen verbergen. Es muss hervortreten, um Subjekt seiner Entscheidungen und Handlungen zu sein. Die Krisis ist die Entscheidung und sie ist die Situation, die nach Entscheidung verlangt. Das Subjekt als Subjekt ist Subjekt der Krise. Es ist inmitten einer nach Entscheidungen rufenden Situation. Die Diskutierer diskutieren, um den Appell ihrer Situation zu überhören. Sie verweigern sich der faktischen krisis, indem sie den Anschein wahren, sie suchten nach der geeigneten Antwort. Ist eine Antwort gefunden, wird sie zum Gegenstand neuer Erwägungen. Jede ihrer Antworten birgt neue Fragen, lässt neue Krisen entstehen. Daher sind die Diskutierer so sorgenvoll. Die Probleme nehmen kein Ende, die Diskussionen nicht. Das gibt ihnen Anlass zu beständiger Besorgnis. Die Diskutierer haben Sorgen. Sie haben kein Problem!

“Diskussionen sind der Philosophie ein Gräuel”, sagen Deleuze und Guattari. Aber ist die Gemeinschaft der Demokraten, die Gemeinschaft der europäischen Wir-Subjekte, die sich unter der Schirmherrschaft des antiken Logos versammeln, um miteinander zu sprechen, um einander zuzuhören und Argumente zu tauschen, ist sie nicht die Gemeinschaft der Diskutierer wie keine sonst? Offenbar. Und dennoch erschöpft sich der Impuls dieses Logos nicht notwendig in seinen gemäßigtesten Formen. Hat das kratein des demos, die Demokratie, nicht zunächst mit Herrschaft und mit Entscheidung zu tun? Liegt die Verantwortung demokratischer Subjektivität nicht zunächst in der Verpflichtung zur Wahl als in der Bereitschaft zu Gesprächen. Muss Philosophie, um Philosophie zu sein, es nicht auch riskieren, gegen “das Volk” und seine “Meinung” zu denken. Muss Philosophie nicht rücksichtslos gegen das Mehrheitsprinzip sein? Zweifellos. Ist Philosophie deshalb anti-demokratisch? Sie ist nicht-demokratisch, wie sie auch nicht-philosophisch ist. Ihr Nicht-philosophischsein hindert sie nicht daran, Philosophie zu sein. Ihr Nicht-Demokratischsein lässt sich ohne weiteres mit einem gewissen Demokratismus verbinden. Der “Demokratismus” der Philosophie, wenn eine solche Formulierung eine Sekunde lang Sinn macht, liegt in ihrer Insistenz auf der Verantwortung zur Entscheidung aller, d.h. in ihrem speziellen Einwand gegen die Diskussion. Die Philosophie kann sich der Gemeinschaft der Diskutierer nicht anschließen. Sie kann sich nicht ihrer Freiheit und Verantwortung entledigen, indem sie sie mit anderen teilt. Die Gemeinschaft der Philosophen ist die Gemeinschaft von Subjekten ungeteilter Verantwortung, vollendeter Souveränität. Es gibt nichts, was die Philosophen miteinander verbinden würde als ihre Einsamkeit. Philosophen diskutieren nicht. Sie reden einander vorbei. Darin liegt ihre Stärke, derart abseits des Kommunizierbaren zu sein. Abseits der Debatten und Kommissionen. Die Philosophie sucht ihr Glück im Wagnis der Behauptung. “Die Debatte ist ihr unerträglich, nicht weil sie ihrer selbst allzu sicher wäre: im Gegenteil, es sind gerade ihre Ungewissheiten, die sie auf andere, einsamere Wege treibt.”



EMANZIPATION

Philosophie ist progressiv und emanzipatorisch, sonst wäre sie nicht Philosophie. Die Philosophie will die Freiheit und Verantwortlichkeit aller. Sie will, dass jeder die Chance zur Verantwortung hat. Das ist der Wille und die Entschlossenheit der Philosophie: dass der Wille zur Verantwortung selbstverständlich wird. Die Entschlossenheit ist immer Entschlossenheit zur Entscheidung und ihren Konsequenzen. Sie ist aktiver Wille. Das erste, was sie will, ist Freiheit. Denn die Freiheit ist Ermöglichungsgrund ihrer selbst. Freiheit ist eine Eroberung, sie fällt dem Subjekt nicht selbstverständlich zu. Emanzipation ist der Name dieser sich zu sich kämpfenden Praxis eines Subjekts, das frei sein will. Das Subjekt kämpft um seine Freiheit. Es kämpft aus dem Wissen, dass, wie Nietzsche sagt, “jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muss, und dass niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schoß fällt.”
Die Emanzipation teilt sich daher in zwei Momente: Hoffnung und Gewalt. Es gibt keine Philosophie ohne Hoffnung, und Hoffnung ist nicht Träumerei! Sie ist das Prinzip von Handlung und Veränderung: Man handelt, weil man hofft. Was ist nach Nietzsche die höchste Hoffnung? Dass sich der Mensch vom Geist der Rache befreit. Freiheit beginnt dort, wo der Wille zur Rache und Bestrafung sich in den Willen zur Verantwortung, d. h. zur Freiheit kehrt. Sich rächen wollen bedeutet, unfrei und verantwortungslos sein zu wollen. Mit dem Willen zur Verantwortung hat sich das Subjekt von der gewaltsamen Logik des Gegenschlags emanzipiert, von der Logik der Äquivalenz, der zu erzwingenden Symmetrie, der Reziprozität. Hoffnung geht es immer auch um ein Weniger an Gewalt. Dennoch: Es gibt kein Jenseits der Gewalt. Das zu sehen bedeutet nicht, “für Gewalt” zu sein (was immer das hieße). Es bedeutet, die Irreduzibilität einer gewissen Gewalt nicht zu fliehen. Das heißt: Inmitten der Grausamkeit des Seienden zu stehen. Die emanzipatorische Freiheit ist nicht nur, was sich der etablierten Macht entzieht. Sie ist zugleich, um machtvoller Entzug zu sein, Freiheit oder Wille zur Macht.



DIE ELENDEN

Man muss die Elenden von den Schwachen unterscheiden. Die Elenden sind die wirklich Schwachen. Sie sind die Opfer und Leidtragenden der Entscheidungen anderer Subjekte und erniedrigender Umstände. Die Elenden repräsentieren das unwillentlich in seine Passivität eingeschlossene Subjekt. Die Elenden wollen kein Mitleid. Sie wollen keine Verachtung: “Mitleid-gewähren heißt so viel wie Verachten”. Ihnen hilft kein Mitleid. Das Mitleid ist “Multiplikator des Elends” und “Conservator alles Elenden”: “ein Hauptwerkzeug zur Steigerung der décadence”. Die Elenden benötigen Hilfe. Sie bejahen die Starken, nicht weil die Starken die Mächtigen, die Herrschenden oder die Unterdrücker wären. Die Elenden wollen stark und verantwortlich wie die Starken sein. Sie wollen ihren Willen zu wollen zurück. Sie erinnern ihre ehemalige oder antizipieren ihre künftige (mögliche) Stärke. Sie wollen frei, ungehorsam und verantwortlich für sich und andere sein. Die Starken solidarisieren sich mit den Elenden, indem sie Freiheit – Freiheit der Entscheidung, Freiheit der Verantwortung – für sie wollen. Die Starken wollen, dass die Elenden zu Starken, d.h. zu verantwortlichen Subjekten werden. Die Unterdrücker sind Schwache, die die Elenden unfrei und willen- und verantwortungslos machen und wollen. Die Unterdrücker fördern die Unfreiheit der Elenden, während die Starken den Elenden in ihrem natürlichen Willen zur Freiheit zur Hilfe kommen oder zu kommen versuchen. Sie versuchen es, indem sie den Elenden in ihrer Subjektwerdung assistieren. Sie sind Subjekte der Gnade. Die Unterdrücker und die Herrschenden wollen Gehorsam. Die Starken plädieren für ein ungehorsames und in diesem Sinn freies und verantwortliches und gerechtes Subjekt. Die Gerechtigkeit widersteht jeder Idee des Gehorsams. Gerechtigkeit gibt es nur als Ungehorsam, d.h. als Einsamkeit der Entscheidung für eine Option, die als solche nicht existiert (der “Mensch ohne Einsamkeit” – und muss man nicht hinzufügen: der Mensch ohne Selbst, ohne Souveränität, ohne Willen, ohne eine gewisse Autonomie etc. – wird im Denken Nietzsches immer auch das verantwortungslose, d.h. “unfreie” Subjekt, das Subjekt der Ungerechtigkeit markieren). Sie ist “Herrwerden über sich selbst”, und als solche das “Wesen des Willens zur Macht selbst”.


FLUG

Denken ist Fliegen. Es ist Über-Flug. Es widersetzt sich einer wesentlichen Forderung Kants. Die deleuzianische Fluchtlinie ist auch Fluglinie. Die Koordinaten der Bestimmungsorte stehen nicht fest. Es ist ungesichert, ob das Subjekt der Flüge ankommt. Die Philosophie kompromittiert die Idee der Ankunft. Fliegen impliziert alle Risiken des Abhebens, der Geschwindigkeit und des Absturzes. Es bedeutet, woanders zu landen als vorgesehen.
Das Fliegen ist die Bewegungsform der Philosophie. Deleuze und Guattari unterscheiden verschiedene Typen philosophischer Athletik: “Wenn vorwärtsgehen, klettern, absteigen dynamische Elemente von Begriffspersonen sind, dann sind springen nach Art von Kierkegaard, tanzen wie Nietzsche, tauchen wie Melville weitere Merkmale für philosophische Athleten, die aufeinander nicht zurückführbar sind.” Wenn es einen Einwand gibt, den man an die überlieferte Philosophie richten kann, dann betrifft er nicht ihr Abgehobensein, die idealistische Flucht und Flugbewegung: Sondern den Umstand, dass sie zu wenig Risiken auf sich genommen hat, indem sie in die falsche (vorherbestimmte) Richtung flog. Die Philosophie der Verantwortung flieht nicht die Realität in die Ideen. Sie flieht in die Realität, um sie mit Ideen zu beliefern und neu zu strukturieren. Das ist das “Prinzip” des deleuzianischen Indianismus: auf einem fliehenden Pferderücken die Steppe durchqueren, Staub aufwirbeln und die Sonne verdunkeln, ohne weniger heiter als sonst zu sein. Der Philosoph versenkt sich nicht in kontemplativen, selbstaffirmativen Narzissmus. Er schüttelt die Ideen und Codes durcheinander, indem er fliegt und tanzt. Er nimmt Abstand von sich und erfindet sich neu. “Er wird Indianer, hört nicht auf, es zu werden, vielleicht 'damit' der Indianer, der Indianer ist, selbst etwas anderes wird und sich aus seiner Agonie herausreißt.” Seine Texte können nur Ergebnis riskanter Mutationen sein: Bücher, welche tanzen lehren, sagt Nietzsche, Bücher, die er sich erfliegt. Man kann die Aphorismen 206 und 208 des ersten Teils von Menschliches, Allzumenschliches in dieser Hinsicht zusammenlesen: der Philosoph wagt es zu fliegen (oder zu tanzen), damit sein Leser tanze (oder fliege). In diesem Sinn hat Nietzsche einen intensiven und verantwortungsvollen, einen, wie Lyotard sagt, äußerst gewalttätigen Diskurs produziert: intensiv, weil sein Text ruhelos über den Tod und das Heute hinaus Leser, d.h. Subjekte, auf der ganzen Welt bedrängt und beunruhigt, insofern er sie angesichts seiner Freiheit mit ihrer Freiheit konfrontiert; verantwortungsvoll, weil es Verantwortung nur gegenüber dieser Freiheit gibt. Ein intensiver Text provoziert einen intensiven Leser. Der Text überschreitet sich als Text, um eine Erfahrung zu werden, die, wie jede echte Erfahrung, eine Erschütterung darstellt, die das Subjekt desintegriert. Die Intensität des Textes hat mit dieser Gewalt zur Verunsicherung zu tun. Seine Verantwortung realisiert der Text, indem er das Subjekt im Augenblick dieser Erfahrung die Erfahrung seiner Freiheit und Verantwortung machen lässt. Der Text verschwindet hinter dieser Erfahrung, er löst sich in ihr auf: “Wenn das Buch aufhört Buch zu sein – als Nicht-Buch, als Strahlenglut –, dann ist es einfach wandelbare Form und somit in tiefgründiger Weise überflüssig. Der Autor verschwindet im Geschriebenen, das Geschriebene in den Lesern.” An der Grenze des Buches und seines Autors, an der Grenze der Lektüre selbst, erreicht die Erfahrung des Textes ihren nietzscheanischen Sinn. Sie zwingt das Subjekt auf sich selbst zurück. Sie entzieht ihm den Boden der Selbstentfremdung im Papier, in der “Kultur”, im Anderen. An der Grenze des Buches wird die Verantwortung des Subjekts für sich intensiv und unaufschiebbar. Das Subjekt überschreitet die Subjektivität des Lesers oder Autors auf seine nackte Realität. Es ist real im Augenblick dieser Überschreitung. Verantwortung ist nur als diese Verantwortungslosigkeit denkbar, die die Selbstüberschreitung des hyperbolischen Subjekts ist. Müsste man nicht Hegel neben Mallarmé, den Denker des absoluten Wissens mit dem Dichter des absoluten Buchs, diesseits, anstatt, wie es meistens geschieht, jenseits der nietzscheanischen Maßlosigkeit und seiner hyperbolischen Subjektivität situieren? Mehr als andere (Foucault, Derrida) hat Deleuze die Affinität seines Nietzscheanismus zu Hegel und dem Hegelianismus bestritten. Mit einer inversen Paraphrase Lacans, demzufolge Sade die Wahrheit Kants darstellt, ließe sich Hegel, der totalistische und spekulative Exzentriker Hegel, als Wahrheit Nietzsches denken: Hegel, der aus der Einsicht in den Tod Gottes seinen hyperbolischen Konstruktivismus deduziert. (Cioran hat in seinem Essai zu Valéry auf Poes Eureka verwiesen als auf ein Werk, das seinen Hyperbolismus gewissermaßen einlöste oder befriedigte: “ein Werk der äußersten Grenze, ein Endwerk”, ein “ungeheurer und verwirklichter Traum.” ).


GOTT

Mit Gott Schluss zu machen bedeutet, mit dem Gericht Schluss zu machen: Schluss zu machen mit dem Gottesgericht. Den Menschen ohne Gott nennt Nietzsche den höheren Menschen. Der höhere Mensch ist noch nicht der Übermensch. Anstatt sich Gott gegenüber zu versklaven, versklavt der höhere Mensch sich selbst gegenüber. Er nimmt sich in die Pflicht. Der höhere Mensch ist der Mensch der Erkenntnis, der Pflicht und der Humanität. Er “belädt sich selbst”, wie Deleuze sagt, er “schirrt sich ganz alleine an, und zwar im Namen der heroischen Werte, im Namen der Werte des Menschen.” Der Übermensch dagegen ist der freie Mensch. Ein dionysisches Subjekt. Er ist nicht der Mensch der menschlichen und allzumenschlichen Werte. Er stellt die Überschreitung der einfachen Überschreitung Gottes durch den höheren Menschen dar. Der Übermensch überschreitet den höheren wie den letzten Menschen. Er bejaht einen neuen, übermenschlichen Menschen: Er bejaht sich als eine Erfindung, die in der Geschichte ohne Beispiel ist.



GROSSE POLITIK

Die große Politik ist Politik des Willens. Es geht darum, zu wollen. Das Große als Größe des Willens zu wollen. Die große Politik will ihren Willen, indem sie ihre eigene Größe will. Sie verzichtet auf den, gewissermaßen orientalischen, Verzicht (auf den Willen). Sie bekämpft den Widerwillen, die Rache, das Ressentiment. Und dennoch: “Die Erlösung von der Rache ist für Nietzsche zwar die Erlösung vom Widrigen, vom Widersetzlichen und Herabsetzenden im Willen, aber keineswegs die Herauslösung aus allem Wollen.” Zu wollen bedeutet zu bejahen. Sich Selbst in seiner Unbestimmtheit bestimmt und unnachgiebig zu affirmieren. Die große Politik Nietzsches ist Politik des Selbst und der Selbstwerdung. Sie ist Politik der Bejahung und Selbstbejahung. Politik der Freundschaft (mit sich), ohne den narzisstischen Ausschluss dessen, was diese Freundschaft gefährdet, zu legitimieren. Nietzsches Politik ist keine Politik der Strafe oder der Vergeltung, sie ist keine Metaphysik oder Religion der “Sühne”. Sie glaubt weder an das Gewissen noch an die Schuld. Man muss, folgt man einer Bemerkung Nietzsches in einem Briefentwurf an Malwida von Meysenbug vom Juli 1882, zwischen der heroischen Denkweise und der religiös-resignierten differenzieren. Nietzsches Politik bekämpft die Religion und ihre Moral des Urteils und der Verurteilung. Sie bekämpft das Gericht. Sie bekämpft die Dummheit der Strafe, die Hilflosigkeit des ressentimentalen Subjekts. Nietzsches Politik will Anfang einer Politik jenseits von Selbstgerechtigkeit und Strafe sein. Nietzsches Politik ist Politik der Freiheit und Selbstverausgabung des endlichen Subjekts. Sie widersteht der Ethik des Mitleids, um Ethik verantwortlicher Hoffnung zu sein. Sie ist Politik der Verantwortung und unaufhörlichen Turbulenz. Sie ist Politik der Wut und Empörung, ohne blindwütig zu sein. Sie ist Politik der Freundschaft und Liebe, der großen Freundschaft, der großen Liebe. Sie ist Politik des Großen und Übergroßen, des Überdimensionalen, des unendlich endlichen Subjekts. Nietzsches Politik ist eine Politik der Unendlichkeit. Sie ist Politik des Ewigen, dessen, was diesseits der historischen, sozio-politischen, kulturellen etc. Bedingungen passiert. Nietzsches Politik erwägt das Unwägbare, öffnet sich dem Unmöglichen, provoziert ein Ereignis im badiou'schen Sinn. Nietzsches Politik ist Politik der Grundlosigkeit. Sie entspricht einem Denken der Erlösung und Selbsterlösung. Nietzsche erlöst nicht vom Selbst. Er erlöst das Selbst. Er erlöst das Selbst, indem er es von Ressentiment und Rachsucht erlöst. Das Subjekt soll frei sein. Es darf sich nicht in negativen Bindungen lähmen: “Der Raum dieser Freiheit von der Rache”, sagt Heidegger, “liegt in gleicher Weise außerhalb von Pazifismus und Gewaltpolitik und berechnender Neutralität.”


GNADE

Nietzsche ist der Denker einer gewissen Härte. Er ist der Protagonist einer Grausamkeit, die sich zunächst gegen ihn selbst richten muss. Er ist Subjekt und Objekt einer gnädigen Unbarmherzigkeit. Für den nietzscheanischen Text gilt, was Ernesto Sábato sagt, den Clément Rosset zitiert: “Ich will hart sein und nichts beschönigen. Eine Theorie muss unerbittlich sein, sie wendet sich gegen ihren Urheber, wenn dieser nicht zu sich grausam ist.” Gnade bedeutet, sich der Ökonomie der Strafe verweigern, indem man auf Rache oder sonstige Art der Vergeltung und repressiven Pädagogik verzichtet. Gnade ist nicht dasselbe wie Barmherzigkeit. Die Barmherzigkeit verurteilt ihr Opfer dazu, Opfer zu sein und zu bleiben. Die Gnade richtet sich an das Subjekt im Augenblick seines Zerfalls und seiner Schwäche. Sie rettet, indem sie ihm zu helfen versucht, das verschwindende Moment seiner Subjektivität. Die Barmherzigkeit kennt nur das Subjekt der Schwäche, sie schwächt das Subjekt, indem sie es entsubjektiviert. Sie will, dass das Subjekt primär Objekt (Sub-Jekt), das heißt Opfer des “Schicksals” oder sonstiger fesselnder Autoritäten ist. Die “Härte des Herzens dagegen, wenn sie das grämliche Gewimmer verachtet und sich darüber erhebt, steht auf gleicher Stufe mit der entschiedenen, aktiven und die Form für ein Mittel nehmenden moralischen Großzügigkeit.” Die Gnade bekämpft die nihilistischen Werte und Tugenden. Sie bekämpft den Europäismus der sich zelebrierenden Schwäche, die Ideologie der “Vergutmüthigung” , d.h. den “Volks-Aberglauben des christlichen Europa, dass das Charakteristicum der moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich-Selbst-Opfernden, oder im Mitgefühle, im Mitleiden belegen sei.”


HYPERBOLISMUS

Das Subjekt der Verantwortung ist hyperbolisches Subjekt. Es ist Subjekt der Selbstbeschleunigung und Übertreibung. Nietzsche nennt die Selbstüberwindung seine wesentliche Eigenschaft. Verantwortung ist nur als Selbstüberwindung denkbar: das Subjekt greift über sich hinaus. Das Hinausgreifen über sich konstituiert sein Selbst. Verantwortung ist Selbst-Verantwortung. Sie ist niemals anonym. Verantwortlich zu sein bedeutet, unendlich belastbar zu sein, sich selbst zu überfordern, um Subjekt der Verantwortung zu sein. Es gibt Verantwortung nur als überschüssiges Ereignis und als Exzess. Das Subjekt überschreitet sich und seine Grenzen, um sich im hyperbolischen Wirbel der Freiheit zu riskieren. Denn jede Verantwortung richtet sich an seine Freiheit. Die Freiheit ist ihre einzige Autorität. Das Subjekt übernimmt Verantwortung angesichts seiner und für seine Freiheit zur Verantwortung. Es verpflichtet sich vor sich selbst. Die Selbstverpflichtung impliziert ein gewisses Maß an Autorisierung. Das Subjekt der Verantwortung autorisiert sich, frei und verantwortlich zu sein. Verantwortung ist eine Errungenschaft. Sie ist kein Diktat Gottes. Sie folgt nicht dem Appell des Gewissens. Sie überschreitet Gott und das Gewissen, die Moral und die Theologie, um nur sich selbst gegenüber verantwortlich zu sein. Das verantwortliche Subjekt ist autoaffektiv: Es fordert von sich, verantwortlich zu sein. Es biegt seine Freiheit und Verantwortlichkeit, den Willen zur Freiheit und die Gewalt der Verantwortung auf sich zurück. Es insistiert auf sich als auf der Autorität der Freiheit zur Entscheidung. Es bezieht sich auf ein irreduzibles Freiheitsmoment, das aus ihm ein Subjekt macht. Ein hyperbolisches Subjekt: insofern seine Freiheit immer unendlich ist (“die Philosophie will das Unendliche retten”, sagen Guattari und Deleuze). Und dennoch gilt für das sich vor sich verantwortende Subjekt, was Sartre in Was ist Literatur? vom Autor (Agent oder Subjekt im Allgemeinen) sagt, dass er sich “an die Freiheit der Leser” wendet. Er wendet sich an sich als freies Subjekt, indem er an die Freiheit des anderen Subjekts als Bedingung der Möglichkeit seiner Verantwortung gegenüber meiner Freiheit zur reinen Selbstverantwortlichkeit appelliert.

Freiheit ist nur als unendliche denkbar. Freiheit ist atomare Freiheit, sie ist unteilbar, total und absolut. Aber das Subjekt ist frei in Situationen. Im Hier-und-Jetzt. Es ist situatives, in Kontexte eingespanntes Subjekt. Dieses Eingespanntsein macht es nicht weniger frei. Sartre: “Es gibt keinerlei Unterschied zwischen in freier Weise sein, als Entwurf sein, als Existenz, die ihr Wesen wählt, und absolut sein; es gibt keinerlei Unterschied zwischen ein zeitweilig lokalisiertes Absolutes sein, das heißt, ein Absolutes, das sich in der Geschichte hat, und allgemein verstehbar sein.” Das “Absolute der Wahl beseitigt nicht die Relativität einer Epoche.” Und: Das Subjekt ist diesseitig, ohne deshalb weniger unendlich zu sein. Seine Freiheit macht aus ihm ein unendliches Subjekt. Unendlich heisst: 1. unendlich verantwortlich für seine Entscheidungen und sein Handeln, 2. unendlich frei. Indem Sartre sagt, der Mensch sei dazu verurteilt, frei zu sein, sagt er: Der Mensch ist dazu verurteilt unendlich zu sein. Unendlich sein heißt nicht unsterblich sein. Im Gegenteil: die Unendlichkeit des Subjekts ist nur für es als endliches (sterbliches) Subjekt denkbar. Das Subjekt als Subjekt muss endliches, situatives Subjekt sein, um unendlich verantwortliches und unendlich freies Selbst sein zu können. Der Wille zur Verantwortung ist Wille zu dieser Unendlichkeit, Wille zur Ewigkeit. Die Ewigkeit ist kein religiöser Begriff. Ewig zu sein bedeutet weder unsterblich noch alles überschauend zu sein. Die Ewigkeit oder Unendlichkeit des Subjekts meint nicht die einfache Überschreitung seiner raum-zeitlichen Situation. Mitten in dieser Situation unendlich zu sein, das nennt Nietzsche den Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist daher, als Wille zur Verantwortung und Freiheit gedacht, ein Hyperbolismus. Er überreizt das Subjekt, sprengt es auf. Das ständige Aufgesprengtsein nennt Nietzsche Werden. Das Subjekt sprengt sich selbst auf (Nietzsche sagte von sich, man weiß es, er sei Dynamit). Werden bedeutet auch Aushalten. Als Prinzip der Mitmenschlichkeit gedacht: “Meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, dass ich ihn mitfühle... Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung.”


IKARUS

Ikarus ist ausgeschert. Er missachtete die Warnung des Vaters, der Sonne nicht zu nahe zu kommen. Während beide, Daedalus und sein Sohn, in der Luft sind, im Raum der Hybris, versucht der Sohn nochmals zu beschleunigen. Als Subjekt dieser verschärften Beschleunigung wird er explodieren. Es ist eine doppelte Überstürzung oder Anmaßung, derer sich Ikarus schuldig macht. Die erste ist das Fliegen selbst, die Hybris, die sich mit dem reinen Flug verbindet. Die entscheidende und todbringende Anmaßung liegt jedoch in dieser Übertreibung der Übertreibung, in der letzten Beschleunigung, die Ikarus, einmal aufgestiegen, höher steigen und schließlich abstürzen lässt.


JENSEITS VON GUT UND BÖSE?

Nietzsches Subjekt ist unschuldig. Nietzsche spricht von der Unschuld des Werdens.
Unschuld des Werdens bedeutet: Sich selbst erfinden müssen, verantwortlich für sich und das eigene “Selbst” zu sein. Das unschuldige Subjekt ist jenseits von Gut und Böse. Es macht die Erfahrung der permanenten Turbulenz. Es erfährt sich als taumelnden Exzess. Das Bleibende am ihm ist das Werden. Das Subjekt lebt, indem es wird. Es lebt, indem es den Raum der absoluten Unschuld, d.h. der permanenten Veränderung betritt. Was bedeutet jenseits von Gut und Böse? Ist das Subjekt jenseits des Bösen, indem es jenseits der Welt des Guten (auch das Böse ist ein Gut, hat Lacan in seinem Seminar über die Übertragung, le transfert, erinnert) ist? Ist es “diesseits von Gut und Böse” (“en deçà du Bien et du Mal”), wie Badiou es formuliert? Diesseits von Gut und Böse zu sein bedeutet, jenseits der Determination, jenseits der fixen Wesensbestimmung, wie sie essentialistische Ontologien hervorbringen, jenseits der Moral, des Naturrechts, der religiösen Codierung zu sein. Es bedeutet, mitten in der Gleichgültigkeit und kalten Indifferenz des Seienden zu stehen. Mitten in der “grausamen Unschuld des Lebens” (“l'innocence cruelle de la vie”). Diesseits von Gut und Böse zu sein heißt, diesseitig im Allgemeinen und daher stark im nietzscheanischen Sinn zu sein. Stark ist “derjenige, der vollständig die Gleichheit des Seins des Seins bejaht”. Schwach ist, wer an das Böse und an das Gute als transzendente Qualitäten und Regulative glaubt, “derjenige, der sich ungleich in dieser Gleichheit aufhält, derjenige, der die freudige Neutralität des Lebens verstümmelt und abstrahiert.” Also geht es darum, die Schwachen von ihrer Schwachheit zu erlösen, indem man sie zu ihrer Stärke, das heißt zur heiteren Affirmation des Lebens in seiner Unschuld und Gleichgültigkeit befreit. Nietzsche ist der Denker der Erlösung. Er will das einzelne Subjekt vom Gericht, von der Schuld, der Moral und dem Gewissen, d.h. von der Last der Vergangenheit befreien. Die Erlösung denken, wie Nietzsche sie denkt, bedeutet, den Erlöser zu erlösen, in dem Sinn, in dem man Christus von Paulus und der von ihm erfundenen “Logik des Hasses” und der Gerichtsbarkeit befreit? “Was hat dieser Dysangelist [Paulus] Alles dem Hasse zum Opfer gebracht! Vor allem den Erlöser: er schlug ihn an sein Kreuz.” Paulus ist der Erfinder des schlechten Gewissens. Er repräsentiert die “Lehre vom Gericht”, die das Subjekt tiefer und unerbittlicher als zuvor an die Schuld und das System von Gut und Böse kettet. Verantwortung beginnt jenseits der Schuld. Das verantwortliche Subjekt ist unschuldig. Es ist gewissenlos. Es hat weder ein gutes noch ein schlechtes Gewissen. Es ist frei von Schuld und Gewissen: Es ist verantwortlich für sich als Subjekt.


DAS KIND UND SEIN KÖRPER

Was macht das Kind? Es spielt. Was bedeutet spielen? Spielen bedeutet, eigene Regeln erfinden, ein Selbst konstituieren. Das Kind erfindet sich und seinen Körper. Es sucht sich einen zweiten transnaturalen oder metaphysischen Körper. Sein Spiel ist grund- und regellos. Das Kind erfindet sich am Abgrund einer Gleichgültigkeit, die zur Welt, zur Grausamkeit des Seienden im Ganzen gehört. Das Kind spielt, ohne die Folgen seines Spiels abzusehen. Das Kind rechnet nicht. Es denkt nicht voraus. Es überstürzt sich, indem es spielt. Es spielt, wie das Kind des heraklitischen Weltspiels. An der Grenze der Verrücktheit, absolut, hemmungslos, ohne Gewissen. Nietzsche ist der Denker der Unschuld seines Spiels. Nietzsche, der “das Spieler-Kind denkt.”

Aber das Kind ist unaufrichtig, wie der sich selbst spielende Kellner, sagt Sartre. Es macht Theater, spielt eine Rolle, schließt sich in ihr ein. “Das Kind spielt mit seinem Körper, um ihn zu erforschen, um eine Bestandsaufnahme davon zu machen.” Es will sich kennen lernen, so scheint es. Und dennoch muss es Abstand von sich nehmen. Es muss sich in den Blicken und Zuwendungen der Erwachsenen entfremden, um sein Selbst zu sein. Das Kind, von dem Sartre erzählt, ist das Subjekt der Bühne. Es verhält sich zu sich, indem es mit sich spielt. Aber es spielt für die Anderen. Es sucht sich sein Publikum. Es versucht sich in der Durchquerung der Welt der Erwachsenen und durch die Empfindungen und Reaktionen, die es in dieser ihm fremden Welt hervorruft, als eigenständiges Subjekt zu etablieren. Es braucht die Abhängigkeit des Gesehenwerdens, um näher bei sich selbst zu sein.

Erforscht es sich, um zu begreifen, was es (gegenwärtig) ist, oder will es seine Chancen erkunden, etwas oder jemand anderes zu sein? Versucht das Kind im Spiel seine Faktizität zu erproben oder realisiert es, was diese Faktizität überschreitet: das Jenseits seiner akuten Situation? Verharrt es in der Immanenz des Möglichen oder hat es längst mit der Durchlöcherung der Immanenz auf das Unmögliche begonnen? Ist das spielende Kind, was es ist? Oder bedeutet Spielen eine Art Selbsttranszendenz, den Exzess des auto-ontologischen Systems? Das Spiel würde das Kind am Abgrund der Idee des Selbst schlendern lassen. Es wäre eine Herausforderung der Erwachsenheit jeder ontologischen Struktur.


KRITIK UND HYPERKRITIK

Soll man es wagen, die Hyper-Kritizität mit “der Dekonstruktion” kurzzuschließen, “im Namen einer neuen Aufklärung” für das 21. Jahrhundert? Derrida scheint einen Augenblick zu zögern. Dieses Zögern, die Zögerlichkeit im Allgemeinen, ist das “die Dekonstruktion”?
Im Namen einer neuen Aufklärung, das heißt auch: im Namen einer neuen Gerechtigkeit, einer neuen Emanzipation und Selbstbefreiung, einer anderen Demokratie und eines anderen autonom-heteronomen Subjekts. Die Dekonstruktion, wenn man sie sich als Praxis der Infragestellung und Suspension der überkommenen Realitäten und ihrer Gesetze vorstellt, beansprucht für sich etwas anderes. Sie verlangt von sich mehr zu sein als “die Kritik”. Kritik bedeutet Zersetzung. Kritik ist Analyse. Die Dekonstruktion ist kritischer und analytischer als die Kritik. Sie wendet die Kraft der Zersetzung noch auf sich selbst an. Dekonstruktion ist Dissemination, Zerstreuung. Sie ist Selbstzersetzung, Selbstunterbrechung, Suspension und Infragestellung der Idee des “Selbst” und des “Subjekts” (durch ein Selbst und ein Subjekt). Um verantwortlicher und um gerechter zu sein als die Kritik, muss die Dekonstruktion die Kritizität des Kritischen befragen, sie muss hyper-kritisch, kritischer als die Kritik, unnachgiebiger, verletzender und konstruktiver oder affirmativer sein. Verantwortung und Dekonstruktion sind dasselbe: Verantwortlich zu sein bedeutet, dekonstruktiv zu sein, d.h. die Unendlichkeit der Verantwortung jenseits der vereinfachten Theoreme der Freiheit und Autonomie des spontanen Subjekts zu affirmieren. Im Akt dieser Affirmation bejaht die Dekonstruktion schon ein anderes, neu zu denkendes “Subjekt”: das hyperbolische Subjekt einer anderen Freiheit, die sich der absoluten Eingebundenheit des Subjekts in der Passivität der Geschichte und Intersubjektivität mit anderen “Subjekten” verpflichtet hat. Das Subjekt der Dekonstruktion ist kein negatives, nur kritisches und reaktives Subjekt. Es ist Subjekt einer grundlosen und verschwenderischen Bejahung. Es bejaht sich selbst und die Unkenntlichkeit dessen, was sein “Selbst” angesichts des Künftigen und des absolut Vergangenen, d.h. angesichts der irreduziblen Andersheit konfiguriert. Indem das Subjekt der Dekonstruktion sich selbst bejaht, bejaht es kein autonomes, sich selbst Gesetze gebendes oder selbsttransparentes Selbst. Dekonstruktion ist Unterbrechung dieses Selbst und seiner vermeintlichen Transparenz. Sie ist “Selbstunterbrechung”. Sie ist es in der Grammatik des doppelten Genitivs: das Selbst unterbricht sich selbst. Selbstunterbrechung ist Unterbrechung des Selbst durch das Selbst. Denn das Selbst ist schon der Andere für “sich” und ein anderes Selbst (oder das Selbst des anderen). Die Dekonstruktion bleibt auf das bezogen, was das Selbst im Verhältnis zu sich distanziert und verdunkelt. Sie hat sich unendlich gegenüber dieser Dunkelheit verschuldet, die man das “Selbst des Selbst” nennen könnte, eine dunkle, blinde Stelle: “da ich nicht identisch bin mit mir.” Der “absolut Andere in mir selbst und der absolut Andere außerhalb meiner selbst bedeutet dasselbe.” Deshalb muss man, wie Derrida sagt, die Entscheidung, den ethischen oder politischen Akt als “etwas Passives in einem bestimmten Verständnis von Passivität” denken: Das Subjekt der Verantwortung übernimmt als anderes Subjekt und Subjekt des Anderen Verantwortung angesichts und für die Andersheit im Allgemeinen und angesichts und für die Andersheit des anderen Subjekts. Und dennoch: das Selbst, das sich unterbricht, indem es “sich” mit sich, d.h. mit der Andersheit des Selbst und mit dem anderen Selbst konfrontiert, bleibt in einem gewissen Sinn “es selbst”. Es konstituiert sich, d.h. sein Selbst, im Moment dieser Konfrontation als konfrontatives, sich selbst entgleitendes, gegen sich verschobenes, im Werden begriffenes Selbst. Dieses Selbst, das Subjekt des Werdens, ist das Subjekt der Verantwortung, das seine Entscheidungen inmitten der Grausamkeit des Seienden und seiner widerstreitenden Vielfalt legitimiert. Das dekonstruktive Selbst ist aktives Selbst, indem es die Passivität, die seiner Entscheidung zu Grunde liegt, im Akt einer hyperbolischen und hyperkritischen Bestätigung bejaht. Selbstbejahung ist das “Wesen” der Verantwortung. Und sie ist das “Wesen” der Dekonstruktion.


KRIEG

Es gibt nur den Konflikt. Die Gemeinschaft derer, die gegeneinander stehen. Immer handelt es sich um eine “gegenstrebige Fügung”. Eine, wie Deleuze und Guattari sagen, participation contre nature (widernatürliche Anteilnahme): Die Gemeinschaft der Krieger, der Zusammenfluss feindlicher Ströme. Die Verbindung von Intensitäten und Singularitäten jenseits der Repräsentation und des Allgemeinen und vor allem jenseits der Negativität. Nietzsche denkt die Opposition oder den Widerstreit jenseits der Ontologie des einfachen Widerspruchs und ihrer Logik der Negation. Er bringt das System der oppositionellen Symmetrie ins Wanken. Er verlässt die Ordnung der binären Gegensätze, um einen stärkeren Einwand, eine absolute Verweigerung zu formulieren. Er besteigt eine “Kriegs-Maschine” (Deleuze/Guattari). Das philosophische Subjekt, das Krieger-Subjekt, führt einen nie enden wollenden Krieg gegen die Macht und die Pluralität der Mächte, gegen die Gesellschaft und ihre Regeln, gegen den Staat und seine Gesetze, gegen die Religion und ihre Dogmen, gegen die Moral und ihre Postulate, gegen die Geschichte und ihre Werte. Das Subjekt kämpft zunächst mit sich selbst. Es kämpft mit sich gegen sich. Es setzt sich dem Konflikt der äußeren Mächte mit der Gewalt des eigenen Willens aus. Es ist Subjekt des Widerstands, indem es der Macht des Außen und der Macht des Innen widersteht. Es entzieht sich der Vereinnahmung durch die Fremdmacht und es widersetzt sich zugleich der Versuchung, sich in sich zurückzuziehen, eine reine Innerlichkeitsform auszubilden, die ihm einen imaginären Schutz vor der Äußerlichkeit gewährt. Das philosophische Subjekt steht der Macht nicht einfach gegenüber. Es bekämpft die Macht von “innen”, so wie die Macht es notwendig immer schon durchdringt. Diese Durchdringung auszuhalten, ohne ihr nachzugeben, sie anzuerkennen, ohne sich ihr zu fügen, das ist die Prüfung des Willens zur Macht: “Da die Philosophie keine Macht ist, kann sie nicht in eine Schlacht mit den Mächten eintreten, führt stattdessen einen Krieg ohne Schlacht gegen sie, eine Guerilla.” Die Philosophie kämpft häufig im Verborgenen. Die wichtigsten ihrer Entscheidungen sind zunächst unsichtbar und scheinbar folgenlos. Aber sie kämpft unerbittlich, und die Effizienz ihrer Kämpfe lässt sich nicht leugnen. Die Ökonomie dieser Kämpfe kennt ihr eigenes Licht und ihre eigene Evidenz. Manchmal ist es besser für das philosophische Subjekt, unterzutauchen, unsichtbar zu werden, nicht aus Gründen des Selbstschutzes, der Feigheit oder der Resignation, sondern um plötzlicher und unvermittelter, d.h. gewaltsamer wieder aufzutauchen, um ein unerwartetes und seltenes Ereignis zu sein.
Die Selbstkonstitution des Selbst oder des Subjekts ist ein kriegerischer, ein notwendig gewalttätiger Akt. Das Selbst unterbricht sich selbst, sein “symbolisches”, offizielles und anerkanntes Selbst, und es unterbricht in dieser Selbstunterbrechung das herrschende Wissen und die Mächte, als welche es sich organisiert. Das Subjekt verliert sich als Subjekt für den Moment der Neuerfindung seines Selbst. Es durchquert die Zone der Unbestimmtheit, eine Dimension jenseits von Wissen und Macht. Aber diese Durchquerung ist deshalb nicht selbst gewalt- und machtlos. Sie ist gewaltsam in einem präcodierten Sinn. Sie impliziert das Opfer des codierten Selbst und sie opfert zugleich das “Wissen” um seine Zukunft. Das Selbst schleudert sich seiner unbekannten Kontur entgegen, es verausgabt sich im Moment einer destruktiven Autokonstitution. Es entwirft, indem es einen Selbstentwurf leistet, neue, unbekannte Weisen zu sein. Es produziert ungeahnte Seins-, Selbst- und Lebensweisen. Es erschafft sich neu. Es riskiert die Ungehemmtheit des reinen Werdens. Es erfindet dunkle Modalitäten des Widerstands, der Selbstaufrichtung und Präsenz. Es praktiziert einen neuen Begriff der Kriegsführung. Es bringt, indem es sich selbst hervorbringt, einen eigenen Typus der Widerständigkeit, eine eigene Kriegskunst, einen eigenen Stil, eine eigene Ethizität und Ästhetizität hervor. Mit Foucault, den Paul Veyne einen Krieger nennt, könnte man sagen, dass das “Subjekt” nichts anderes als diese Produktion von Subjektivierungsweisen und Kriegstechniken ist. Das “Subjekt ohne Identität”: ein fortgesetzter und fortzusetzender Krieg. Ad infinitum: das ist die Ewigkeit des Subjekts.
Nietzsches Denken ist Denken des Krieges, indem es Denken der Freiheit des Willens und des Willens zur Freiheit und Verantwortung ist: “Der freie Mensch ist Krieger.” Die Gemeinschaft der Krieger ist Gemeinschaft der freien Menschen. Die Freien sind diejenigen, die sich weigern, ihr Selbst dem (christlichen) Ideal der Selbstlosigkeit zu opfern. Die Freien sind Subjekte im starken Sinn. Sie wollen Subjekte, das heißt freie Krieger und verantwortungsvolle Intensitäten sein. Schuldig sind die Unfreien, die Nicht-Krieger. Ihre Tugend ist die Toleranz, das Mitleid, die Barmherzigkeit. Die Ethik der Krieger verlangt, dem anderen Subjekt als Subjekt (d.h. als Krieger) zu begegnen (oder zu widerstehen). Das ist ihr Verständnis von Respekt. Krieger zu sein bedeutet nicht, feindselig und bösartig, rachsüchtig oder ressentimental zu sein. Die Boshaftigkeit der Rach- und Eifersüchtigen ist nicht kriegerisch. Sie ist kleinlich und verstohlen. Sie entspricht der Feindseligkeit der Egoisten und “Schlechtweggekommenen”, derer also, die sich über ihre Schwächen definieren. Die Krieger müssen wissen, wo ihre Stärken und wo die Stärken der anderen Subjekte sind. Die Nicht-Krieger sind an der Schwäche und Unzulänglichkeit ihrer selbst und der Anderen interessiert. Krieger zu sein bedeutet, stark sein zu wollen. Nicht-Krieger zu sein heißt, die eigene Schwäche zum Ausgangspunkt der Rache am Leben zu machen.


LESEN

“Ich muß gestehen, ich habe viele Bücher gelesen.” – Die Philosophie der Verantwortung schließt eine Ethik verantwortlicher Lektüre ein. Was bedeutet Lesen? Was bedeutet Verantwortung, wenn man liest? Es bedeutet, sich vom Geist der Schwere, dem “trüben Geist der Lektüre” zu befreien. Nietzsche: “In meinem Fall gehört alles Lesen zu meinen Erholungen: folglich zu dem, was mich von mir losmacht, was mich in fremden Wissenschaften und Seelen spazieren gehen lässt, – was ich nicht ernst nehme. Lesen erholt mich eben von meinem Ernste.” Um zu lesen, um verantwortlich und ernsthaft zu lesen, muss man gewissermaßen zu lesen aufhören, sich in der Lektüre und als Leser unterbrechen, indem man liest. Man durchquert den Text und man überschreitet sich selbst als Leser dieses Texts, indem man den Text auf sein Außen, das nicht mehr textuell (zumindest nicht im geläufigen Sinn) genannt werden kann, überschreitet, um verantwortlicher Leser zu sein. Während zur Verantwortung die Nichtverantwortlichkeit, eine gewisse Unverantwortlichkeit und Überstürzung gehört, gehört zum Lesen seine eigene Unterbrechung, die Überschreitung und Selbstsuspension des Lesenden als Lesenden, damit es Verantwortung, damit es Lektüre gibt. Es gibt keine verantwortliche Lektüre, die sich nicht, und sei es unmerklich, unbewusst oder zufällig, an der Grenze des Buchs (oder des Texts) beschleunigt, um meist deshalb als weniger seriös, weniger wissenschaftlich, weniger verantwortlich zu gelten, als die innerhalb der Grenzen des Buchs, der anerkannten Genres und der institutionellen Aneignungsformen operierenden Bewegungen der Rezeption, des Kommentars, der Interpretation und akademischen Hermeneutik. Man muss sich, was diese Bewegungen betrifft, an Nietzsches Ekel angesichts der ihnen impliziten Impotenz und Feigheit erinnern. An die Flucht vor dem Leben und seiner Unwägbarkeit, die man glaubt, durch einen schlecht überprüften Begriff von Wissen und Wissenschaftlichkeit zu neutralisieren. Die Bereitschaft derer, die zu mutlos, zu schwach sind, ihren Beruf und ihre Begriffe angesichts der Grausamkeit des Seienden zu überprüfen, ist groß, die Lektüre der Grausamkeit als gewaltsam oder pathetisch zu denunzieren. Immer wird der Vorwurf des Privaten, der Literatur und der Unseriosität erhoben. Aber wie Derrida einmal sagt: “Um lesen zu können, reicht es nicht aus, dass man eine Bibliothek besitzt und sprechen kann”. Um lesen zu können in dem Sinn, den die Dekonstruktion als Ethik der Lektüre exerziert, darf sich das Subjekt der Lektüre gewissen Gefahren nicht entziehen, weder denjenigen, die der wissenschaftliche Diskurs einzudämmen oder zu sublimieren versucht, noch den viel allgemeineren und unbestimmteren Gefahren, die sich mit dem Leben des Subjekts als solchem, wenn man so sagen kann, verbinden. Die Lektüre ist ein Wagnis, wie es das Leben und die Existenz des Einzelnen ist: “Man muss also etwas riskieren. Das macht eine Erfahrung aus.” Und: “Man muss sich genau versichern, dass das Risiko eingegangen wird.” Lesen bedeutet, Risiken einzugehen, sich selbst, seine Erwartung und die Begriffe, die einen schützen, aufs Spiel zu setzen, um mit höchstem Einsatz zu spielen. Der dekonstruktive Begriff der Lektüre erfordert beides: das Risiko der Minutiösität und das Wagnis der Überstürzung. Die Dekonstruktion denkt sich selbst als diesen (Lektüre-)Konflikt. Es ist der Konflikt von Verlangsamung und Beschleunigung, von Vorsicht und Übermut, von Präzision und Exzess. Es gibt Erfahrung nur als Erfahrung der Unentscheidbarkeit zweier Rhythmen, die sich asymmetrisch überlagern und aufeinander beziehen. Lesen bedeutet, sich die Zeit zu nehmen, so genau wie möglich das historische, politische, soziale, grammatikalische, kulturelle, sprachliche, idiomatische etc. Feld des gelesenen Texts zu berücksichtigen, die Vorurteile, Hypothesen und Axiome, von denen er explizit oder stillschweigend profitiert, gelenkt und temperiert wird. Es bedeutet, sich der notwendig unüberschaubaren Vielfalt seiner Vorraussetzungen und transzendentalen (oder nicht) Bedingungen zu stellen, Rechenschaft über sie abzugeben, ohne ihre Widersprüchlichkeit zu ignorieren oder zu leugnen, indem man sie vorschnell systematisiert. Lesen bedeutet gleichzeitig (und alles entscheidet sich an diesem Begriff der Gleichzeitigkeit), sich dem Exzess oder dem Hyperbolismus, der Lektüre auch immer ist, nicht zu verweigern. Eine gewisse Überstürzung auf sich zu nehmen, die notwendig das Risiko und die Gewalt der Vereinfachung, Subjektivierung und Verfehlung des Gelesenen impliziert. Die Lektüre bremst und überstürzt sich. Genau genommen hat man es mit zwei Hyperbolismen, dem Exzess der Genauigkeit und der Genauigkeit als Exzess, zu tun. Nichts vermittelt zwischen den beiden Exzessen als dieses knappe, problematische und. Es ist klar, dass das und keine Vermittlung leistet. Es markiert den irreduziblen Konflikt oder die disjunktive Verbindung dessen, was unvereinbar ist. Es ist ein kriegerisches, ein unversöhnliches und. Es zeigt, was Lesen eigentlich ist: eine Konflikterfahrung, die das Subjekt der Lektüre in unbekannte Zonen trägt.
Welchen Leser wünscht sich Nietzsche? Von welchem Leser träumt er (denn es besteht kein Zweifel daran, dass er träumt)? Er stellt sich selbst die Frage und beantwortet sie: “Wenn ich mir das Bild eines vollkommenen Lesers ausdenke, so wird immer ein Unthier von Muth und Neugierde daraus, außerdem noch etwas Biegsames, Listiges, Vorsichtiges, ein geborner Abenteurer und Entdecker.” Nietzsche wünscht sich einen mutigen, neugierigen und schon fast unvorsichtigen Leser. Zugleich muss dieser Leser bestimmte odysseische Eigenschaften mitbringen. Er muss vorsichtig und unvorsichtig, genau (wie ein Philologe, der Horaz liest, sagt Nietzsche) und ungebremst, enthemmt, risikobereit und dabei listig, präzise und ernsthaft sein. Als gälte es eine neue Ökonomie zu verteidigen, die äußerste Präzision der Mittel mit exzessiver Leidenschaft verbindet. Diese Ökonomie würde sowohl die Zurückhaltung, Prüfung, antizipative und retrospektive Versicherung als auch die gedächtnislose Überstürzung steuern. Sie ist verschwenderisch, indem sie beides ist: zurückhaltend und rückhaltlos. Sie würde die Grenze des Ökonomischen im Allgemeinen markieren, die Selbstverausgabung einer Vernunft, die sich weder der analytischen Kraft des Verstandes noch dem spekulativen Exzess der Einbildungskraft verschließt.


MITLEID

Das nietzscheanische Subjekt ist kein mitleidiges Subjekt. Es darf sich nicht in krankhafte Melancholie und depressiven Narzissmus flüchten. Es gibt sich einen Auftrag. Es hat eine Mission. Es will die Krankheit und Schwäche bekämpfen. Es ist ein therapeutisches, ein um die Gesundheit der Subjekte im Allgemeinen besorgtes Subjekt. Es versteht sich, sofern es handelt, als “Arzt”. Es verabreicht Mittel zur Heilung. Es besteht darauf, sich selbst zu verarzten. Es folgt einer Ethik der Selbstverarztung, die als Gegen-Ethik zur Ethik des Mitleids auftritt: “Ich war in allen Punkten mein eigener Arzt...” (Brief an Erwin Rohde, 15. Juli 1882). Es versöhnt mit der Wirklichkeit, ohne sie zu entkräften. Es erfindet eine neue Medizin. Die neue Medizin ist Medizin des Realen. Sie versöhnt, ohne zu beruhigen. Sie verfolgt ihren Anspruch, indem sie das “Verbot jeglicher Beruhigung” installiert. Sie konfrontiert das Subjekt mit der Härte und Unwiderstehlichkeit der Realität. Sie lässt das Subjekt die Erfahrung der Realität als absoluter Widerständigkeit machen, eine Erfahrung, die zu jeder echten Begegnung und jedem authentischen Wirklichkeitsbezug gehört.


NEUE MEDIZIN

Die neue Medizin ist Medizin der Grausamkeit. Sie ist erbarmungslos, ohne gnadenlos zu sein. Clément Rosset unterscheidet zwei Typen philosophischer Ärzte: Es gibt die “Heiler-Philosophen” und die “Mediziner-Philosophen”: “Die ersteren sind voller Mitleid und ineffektiv, die letzteren sind effektiv und ohne Erbarmen. [...] Die letzteren verfügen über das wahre Heilmittel und den einzigen Impfstoff (d.h. die Verabreichung der Wahrheit), doch dieser ist so stark, dass, obwohl er gelegentlich gesunden Naturen aufhilft, seine zweite und überwiegende Wirkung die ist, schwache Naturen endgültig niederzuwerfen.” Nietzsches philosophische Pharmazie ist erbarmungslose Therapeutik. Sie will Mittel gegen Schwäche, Rachsucht und ressentimentale Abhängigkeit sein. Sie ist pharmakon (Heilmittel, Antidot, Droge) gegen das platonische Heiler-Gift, das die Verherrlichung einer jenseitigen Wirklichkeit der Affirmation des Diesseits entgegenstellt. Platos Gift heilt, indem es die Wahrheit verdunkelt und das Wirkliche als bloßen Schein deklariert. Es ist Mittel einer Medizin, die, wie Rosset ausführt, die Grausamkeit des Wirklichen vertreibt, “wie ein Medikament vorübergehend einen Schmerz vertreibt.” Die platonischen und, wie man vereinfacht sagen kann, die metaphysischen Medikamente insgesamt “erleichtern die Beschwerlichkeiten der Wirklichkeit durch die unbegrenzte Bandbreite von – entsprechend den geistigen Möglichkeiten des Philosophen mehr oder weniger improvisierten – Heilmitteln, was letztendlich immer auf einen halluzinatorischen Exorzismus des Realen hinausläuft”. Nietzsches Pharmazie ist in gewisser Weise die Denunziation dieser Denunziation des Realen. Der platonische Schein besteht darin, das Scheinhafte (die Idee) zum höchsten Wirklichen zu machen und das Wirkliche als nackten Schein (bloßes Phantasma) zu diskreditieren. Sie heilt das Subjekt von der Wirklichkeit, indem sie es der Erfahrung ihrer immanenten Grausamkeit enthebt.


NAMEN

Immer geht es um Namen. Wie heißt oder wie nennt man das Namenlose? Was für einen Namen geben wir ihm? Solange die Philosophie sich auf die Begrenzung, die terminologische Befriedung und kalkulatorische Investition reduziert, wird sie das Namenlose verfolgen, das sich jeder Verbindlichkeit entzieht. Was ohne Namen ist, verunsichert. Das Namenlose ist ein anderer Titel für die Gefahr. Keine Philosophie, die verantwortlich sein will, verweigert sich dem Namen, der Frage nach dem Namen, die zugleich nach dem Unfragbaren fragt. Die Frage nach dem Ursprung des Namens ist auch die Frage nach dem Ursprung der Philosophie. Es gibt kein Denken, das diese Fragen nicht verunsichern. Das Namenlose konstituiert die Sprachlosigkeit der Philosophie. Ihre Verantwortung muss in der Verpflichtung zum Namen, zum Bekenntnis angesichts der Verschwiegenheit des Namenlosen bestehen.
Nietzsche hat mehrere Namen nötig. Nietzsche berührt das Namenlose, indem er die Vielfalt seines Eigennamens maximiert. Er überschreitet die Ordnung der Vollzähligkeit und Gegenwart, das Gesetz der sicherstellenden Identifikation. Er tritt in Masken auf, indem er die Unaussprechlichkeit eines unmöglichen Namens riskiert. Den Namen jenseits des Namens. Einen Namen, der sein Denken in die Regionen des Unermesslichen trägt: “Der Name Nietzsche nun ist vielleicht heute für uns im Abendland der Name des einzigen (vielleicht in anderer Weise mit Kierkegaard und vielleicht auch Freud), der von Philosophie und Leben, von Wissenschaft und Philosophie des Lebens mit seinem Namen, in seinem Namen gehandelt hat. Der einzige vielleicht, der seinen Namen – seine Namen – ins Spiel brachte und seine Biographien. Mit beinahe allen Risiken, die das einschließt: für 'ihn', für 'sie', für seine Leben, seine Namen und ihre Zukunft, die politische Zukunft vor allem dessen, was er unterzeichnen lassen hat.”


NIHILISMUS

Nietzsche unterscheidet drei Phasen der Verwandlung, drei Stadien bisheriger und künftiger Subjektivität. Das Kind ist die Endphase dieser Entwicklung: Der Geist wird zum Kamel, das Kamel wird Löwe, der Löwe wird zum Kind. Deleuze: “Das Kamel ist das Tier, das trägt: es trägt die Last der etablierten Werte, die Bürden der Erziehung, der Moral und der Kultur. Es trägt sie in die Wüste und verwandelt sich dort in einen Löwen: der Löwe zerbricht die Statuen. Tritt die Bürden mit Füßen und beginnt eine Kritik aller etablierten Werte. Endlich gebührt es dem Löwen, Kind zu werden, das heißt Spiel und neuer Anfang, Schöpfer neuer Werte und neuer Prinzipien der Wertschätzung.” Die etablierten Werte sind die Werte des Nihilismus, die Götzen und Denkmäler der Wüste. Der Nihilismus ist die Religion des Negativen, “Religion der Schwäche” , der schlechten Gefühle, der Depression und der Angst. Den Nihilismus bekämpfen bedeutet daher, weniger religiös, angstloser, atheistischer und antichristlicher als der Nihilismus zu sein. Denn die religiöse Angst flieht die Angst der Freiheit, die Angst des verantwortlichen Subjekts, angesichts der Neutralität des Seienden vollständig für sich verantwortlich zu sein. Der atheistische Existentialismus Sartres hat in der Aufnahme zentraler Motive Kierkegaards, Jaspers' und Heideggers (Angst, Freiheit, Wahl, Vereinzelung, Einsamkeit oder Verlassenheit etc.) diese Angst vor der Angst als Merkmal des Nihilismus der Verantwortungslosigkeit markiert: “Die meiste Zeit fliehen wir vor der Angst in die Unaufrichtigkeit.” D.h. wir fliehen die Angst oder den Schwindel der Freiheit in die (erträgliche) Angst vor dieser Angst. Nietzsche versteht unter diesem Nihilismus der Angst die Herrschaft der das Leben und freie Werden beschränkenden Moral. Nihilismus ist jüdisch-christlicher Ressentiment-Nihilismus: Rache am Leben, an der Sinnlichkeit, am Menschen und seiner Korporalität. Es ist die Moral des platonischen Christentums, die die Gegenwart und das Diesseits, den endlichen Menschen und seinen Körper, einer transzendenten und körperlosen Zukunft, dem Jenseits opfert. Deshalb bedeutet jenseits von Gut und Böse zu sein, jenseits des Jenseits (Gut und Böse sind Werte des Jenseits, transzendente Werte, wie man sagt), das heißt in einem verschärften Sinn diesseitig zu sein. Nihilismus meint: Niedrigmachung und Schwächung des Diesseits zugunsten des Jenseits. Der Nihilismus im Sinne Nietzsches ist lebens- und körper- und deshalb menschenfeindlich. Er will, dass der Mensch klein und sündig ist vor Gott und dem Gewissen. Er will den demütigen, schuldigen, gewissengeplagten Menschen. Einen Menschen der Unfreiheit, einen Menschen, der nichts mehr will. Der Nihilismus will, dass der Mensch zu wollen aufhört, dass er aufhöre, ein wollendes Subjekt zu sein. Der Nihilismus will, dass das Subjekt zum Sub-Jekt, d.h. zum Unterworfenen, dass es unterworfen werde. Das Subjekt des Nihilismus ist kein starkes, autonomes, sich selbst vertrauendes Subjekt. Es ist Opfer, es viktimisiert sich. Es erregt Mitleid. Das Subjekt des Nihilismus will nicht mehr wollen müssen, nicht mehr verantwortlich sein. Es will, dass andere für es wollen. Es unterwirft sich dem Stellvertreter-Willen der anderen, um bemitleidenswert und schwach zu erscheinen. Es ist Objekt oder Sub-Jekt absoluter Bedingungen bzw. Determinanten. Anstatt sich selbst und seiner Freiheit zur Selbstbestimmung verpflichtet zu sein, ist das “Subjekt” des Nihilismus ein fremdbestimmtes, unfreies und daher unterworfenes und lügenhaftes Subjekt. Das “Subjekt” des Nihilismus ist das Subjekt des Gehorsams. Es ist ein schwaches und schwach gehaltenes “Subjekt”. Ein Subjekt, das nicht zögert, aus seiner Schwäche eine Tugend zu machen, seine eigentliche Qualität. Der Nihilismus will, dass das Subjekt seine Schwäche, seine Verletzbarkeit und Ohnmacht will. Er will, dass es sich selbst in seiner willenlosen Nichtigkeit, dass es sich selbst als Nichts will. Deshalb macht der Nihilismus aus der Nichtigkeit und Schwäche die hervorragende menschliche Eigenschaft. Nicht eine Eigenschaft unter anderen, sondern die alles beherrschende ontologische Qualität. Fragt man den Nihilismus, was der Mensch sei, antwortet er: Nichts! Das Nichts als Wesensmerkmal des Menschen zu bestätigen, ist, was der Nihilismus unaufhörlich praktiziert. Der Nihilismus ist ein Untergangsphänomen. Er ist eine Décadence-Bewegung. Er will, dass der Wille zum Nichts das Glaubensbekenntnis des Menschen sei. Der Nihilismus verbindet sich mit dem Mitleid. Er sagt, dass der Mensch als Mensch, sofern er nichts ist, bemitleidenswürdig sei: “Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus. [...] Mitleiden überredet zum Nichts!” Die Ethik des Nihilismus versteht sich deshalb als (wesentlich christliche) Mitleidsethik. Sie ist Ethik der Schwäche und der Schwachen. Sie besteht darauf, den Menschen am Maßstab des Leidens und seiner (asketischen) Leidensfähigkeit zu messen. Sie denkt nicht daran, dass er fähig ist zum Glück. Die nihilistische Leidensethik weigert sich, dem Subjekt auf der Höhe seiner Stärke zu begegnen. Sie berührt das Subjekt an seiner schwachen Stelle. Sie besteht darauf, dass die Schwäche sein Wesen sei. Die nihilistische Ethik ist die Ethik der Depressiven, derer, die das Leben als Unglück erleben, die ohne Hoffnung und Zuversicht sind. Die einzige Hoffnung des Depressiven ist das Nach-dem-Leben. Der Depressive hofft auf den Tod und sein Danach. Deshalb ist die Hoffnung des Depressiven eine Art religiöser Selbstrost. Sie lähmt das Subjekt im Diesseits, um es für sein Jenseits zu engagieren. Das depressive nihilistische Subjekt beginnt an sich selbst wie an ein Nichts zu glauben. Es feiert seine Unzulänglichkeit und Ohnmacht, es schließt sich in der eigenen Nichtigkeit ein. Der Nihilist scheitert am Leben und seiner Unberechenbarkeit. Es gelingt ihm nicht, wie Simone de Beauvoir im Geist des hegelianisierten Existenzialismus sagt, die Synthese des “An-sich” und des “Für-sich” zu realisieren. Daher will er sich “von seiner Subjektivität befreien”: “Im Bewusstsein, nichts sein zu können, beschließt nun der Mensch, nichts zu sein: diese Haltung wollen wir als nihilistisch bezeichnen. Der Nihilist steht dem Geist der Ernsthaftigkeit nahe, denn anstatt seine Negativität als lebendige Bewegung zu verwirklichen, fasst er seine Vernichtung als etwas Substanzielles auf: er will nichts sein, und dieses Nichts, von dem er träumt, ist doch noch ein Sein, nämlich genau die Hegelsche Antithese des Seins, eine starre Gegebenheit. Der Nihilismus ist die betrogene Ernsthaftigkeit, die sich sich selbst zuwendet.” Der Nihilist träumt von der Bewegungslosigkeit, von der Unterbrechung des Werdens (im Begriff). Er träumt davon, die Kontingenz der Gegenwart und die Unberechenbarkeit der Zukunft kontrollierbar zu machen, vor dem Unerwarteten geschützt zu sein. Daher ist das nihilistische Subjekt ein Subjekt herbeigewünschter Ruhe. Es ist Subjekt einer imaginären oder phantasmatischen Ruhigstellung. Es will die Unschuld des Werdens und die eigene Freiheit angesichts dieser Unschuld neutralisieren: “Auf jeden Fall handelt es sich stets um Menschen, die sich der Unruhe ihrer Freiheit dadurch entledigen wollen, dass sie die Welt und sich selbst leugnen.” Das nihilistische Subjekt ist ein