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MARCUS STEINWEG
 

ABSOLUTE NACHBARSCHAFT (2003)

Die Selbstbeschleunigung zu bejahen, verlangt vom Subjekt der Kunst und Philosophie den Mut zur unbekannten Bewegung. Es ist die Bewegung, der Rhythmus, des Übermuts. Übermütig zu sein heisst, von den normalen Abläufen in eine andere Bewegungsform zu wechseln. Abzuweichen, etwas Unerwartetes zu tun. Das Subjekt des Übermuts überrascht die anderen Subjekte und es überrascht sich selbst. Die Riskanz der anderen Bewegtheit ist für es selbst nicht kalkulierbar. Dennoch verläßt es die durch die verbreitete Vernunft legitimierten Wege, um neue Wege zu suchen und neue Horizonte zu eröffnen, ohne sich im Vergangenen oder Gegenwärtigen absichern zu können. Denn über die neuen Wege und Horizonte ist nichts bekannt.

Das Subjekt der Selbstaufrichtung ist Subjekt der Differenz von Liebe und Sentimentalität. Es ist Subjekt der Selbstbekämpfung. Es muss die Sentimentalität bekämpfen, das kleine Gefühl und seine verkleinernden Effekte, um Subjekt der Liebe, ihrer Wucht, Intensität, Grausamkeit und Unendlichkeit zu sein. Das Subjekt der Liebe berührt das Reale oder das Aussen, um in dieser Berührung etwas anderes zu werden als es ist. Statt sich selbst zu lieben und sich im narzisstischen Selbsthass der Selbstliebe einzumauern, beginnt es sich in der Berührung des Unberührbaren gegen sein aktuelles Selbst als Selbst der Liebe (das heisst der Berührung des Anderen) aufzurichten. Es beginnt das Andere, das Aussen, das Chaos oder das Reale als seine Wahrheit zu affirmieren.

Affirmation ist nicht Respekt. Es erfordert mehr Mut zu lieben (die Berührung des Unberührbaren zu wagen) als zu respektieren (das heisst die Andersheit des Anderen durch überhastete und immer verängstigte “Verbrüderung” zu neutralisieren). Der Respekt erhält sich durch eine Art furchtsamer Distanz. Das ist die Distanz der Verbrüderung. Zu lieben bedeutet, diese Distanz aufzugeben, eine befremdliche Identifikation mit einer realen Alterität zu wagen, ohne faktische Verschiedenheiten, objektive Unterschiede, tatsächliche Multiplizität, ohne die absolute Inkommensurabilität des Anderen zu leugnen, zu entschärfen oder zu ignorieren.

Das Subjekt der Philosophie und das Subjekt der Kunst sind Subjekte dieser identifikatorischen Liebe und der Gewalt, die zu dieser Liebe gehört. Philosophie und Kunst sind riskante Liebesbewegungen, Bewegungen des Überschwangs, der Selbstüberstürzung und Selbstverschwendung, die objektive Differenz bejahen, um absolute Nachbarschaft zu affirmieren. Die bloße Differenzierung ist nur negativ. Sie entspricht den Mechanismen der Abgrenzung, Ausschliessung und Verneinung. Philosophie und Kunst sind affirmative Bewegungen der Überschreitung des Negativen. Philosophie und Kunst wollen in grösstmöglicher Nähe zum Unbegreiflichen oder Inkommensurablen, eine Art blinder, kopfloser, exzessiver Nachbarschaft mit dem Anderen wagen, die abgründige Intimität mit dem Unmöglichen, radikale Liebe zu etwas, das die eigenen Grenzen und Möglichkeiten übersteigt. Das ist, was Kunst und Philosophie leisten können: Sich selbst zu verpflichten, das Mögliche aus Liebe zum Unmöglichen, das Unmögliche aus Achtung vor dem Möglichen zu tun.

Das Subjekt der Kunst und der philosophischen Liebe affirmiert sich als Subjekt seines Willens und seiner Liebe zur Selbstaufrichtung. Es bekämpft die Normalität des Unentscheidbaren, um im Verhältnis zu seiner Normalität anormal zu werden. Es ist Subjekt einer elementaren, sein Sein erschütternden Perversion. Inmitten der Unentscheidbarkeit (die es weder leugnet noch verharmlost) wird es sich als Subjekt seiner Entscheidungen behaupten. Denn der “Realismus” des Subjekts der Selbstaufrichtung ist nicht der “Realismus” des Tatsachen-Glaubens. Der Raum der Tatsachen, der seine eigene Unentscheidbarkeit und Unübersichtlichkeit hat, beschränkt sich auf die objektive Situation (des Subjekts). Zur Situativität des Subjekts gehört mehr als die Faktizität der es durchziehenden Determinanten, Gesetze und Strukturen. Das Subjekt ist mehr als Produkt seiner Geschichte. Es erschöpft sich nicht in einem wie immer gedachten Objekt-Status. Das Subjekt hat die Kraft (deshalb heisst es Subjekt) etwas radikal anderes als ein Objekt zu sein. Es ist mehr als ein Subjekt, das Objekten entgegensteht. Die Situativität des Subjekts ist die Szene einer permanenten Selbstüberschreitung. Subjekt ist, was an sich selber kollabiert.

Liebe zur Selbstaufrichtung ist Liebe zur Wahrheit des Subjekts, das die Figur eines sich zu sich bekennenden Begehrens, einer unsentimentalen Leidenschaft und Liebe zum Realen ist. Das Subjekt dieser Liebe versucht seine Souveränität in faktischer Nicht-Souveränität zu behaupten. Den Kontakt mit dem Realen erfährt es als Schmerz. Der Schmerz ist die Erfahrung der Öffnung – das Subjekt überschreitet sich und die Grenzen seiner Innerlichkeit um in einen expliziten (verantworteten) Kontakt mit dem Aussen zu treten – in der das Subjekt die Grenze von Offenbarkeit, Aletheia, Unverborgenheit erfährt. Der Schmerz ist kein Symptom, der auf eine causa verwiese. Es gibt kein Etymon des Schmerzes, der Schmerz hat weder Sinn noch Kern.

Physis im Sinne Heideggers bedeutet auch Öffnung der symptomalen Fläche, Weltaufgang. Obwohl Heideggers Ereignis-Denken eine gewisse Denaturalisierung (oder Dematerialisierung) der physis leistet, denkt es das Dasein im Verhältnis zu einer radikalen Verschliessung. Im Aufgang der physis bleibt ihr Entzug, die Verweigerung ihrer Gegenwart, bewahrt und präsent. Physis ist auch der Name der Welt vor ihrem Aufgang. Der Schmerz "öffnet" das Subjekt des Weltaufgangs auf die Erde, die Dimension ursprünglicher Welt-Verschliessung, ohne den Entzugs-Charakter, die Opazität des Seins zu relativieren.

Vielleicht ist das Subjekt des Schmerzes, sofern es Subjekt der Erfahrung der Verschliessung ist, das eigentliche Subjekt ontologischer Heiterkeit. Vielleicht gibt es Gelingen und Glück nur im Verhältnis zum Unmöglichen, zur ontologischen Verschliessung. Vielleicht muss man sich ermutigen, glücklich in faktischem Unglück, frei in realer Unfreiheit, souverän in objektiver Nicht-Souveränität, zu sein. Vielleicht ist das Subjekt des Schmerzes (das Subjekt der Philosophie und Kunst) die Figur dieses Muts und dieser Selbstermutigung. Vielleicht ist die Selbstermutigung, die das Subjekt als Subjekt einer echten Entscheidung aufrichtet, das Initial-Ereignis, der geteilte Anfangsgrund von Kunst und Philosophie.