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MARCUS STEINWEG |
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ANFANG DER PHILOSOPHIE
Seit ihren Anfängen bewegt sich die Philosophie am Abgrund des Ursprungs. Von Anfang an kreist sie um den Ursprung der kosmischen Ordnung, den sie das Chaos nennt und das Unendliche oder Unbegrenzte (ápeiron), die Ungeordnetheit selbst. Philosophie ist Berührung dieser Unordnung, die namenlos bleiben muss, da sie den Abgrund des Sagbaren benennt. Im Verhältnis zur Unordnung des Namenlosen ordnet sie ihre Zeichen und Begriffe, im Verhältnis zum Abgrund des lógos, wie sie sagt. Wenn der Logos – die Sprache, der Sinn, das Verstehen – der Anfang sind, dann ist Chaos der Name dessen, was ohne Namen bleibt, was den Namen des Namenlosen trägt. Der Bewegung des Anfangs ist der Versuch einer gewissen Besitznahme und Aneignung eingeschrieben. Anzufangen heisst, in die Ordnung des Besitzes zu wechseln, Eigentümer des Logos und der von ihm gesteuerten Nomen zu sein. Der Logos ist Haus und Eigentum der Philosophie, die nichts als Selbstbewegung ist dieses Logos, verstehende Aneignung (noeín) des Sinns. Dennoch bleibt dem Versuch dieser Selbstverständigung und Selbstaneignung das Geheimnis ihrer Herkunft nicht äusserlich. Inmitten des Logos persistiert das Chaos eines „Ursprungs“, der tiefer als der Logosursprung reicht, dem der lógos sich als solcher noch verdankt. Das ist der „Ursprung“ des Ursprungs, der jeden Versuch der Selbstaneignung im vornhinein verunmöglicht, unterbricht: Das Chaos der Unordnung, die sich der ordnenden Instanz des Logos nicht mehr unterwirft. Zone einer Wildheit, auf die das Logosbegehren verwiesen bleibt noch dann, wenn es sie sich durch irgendeine Dialektik anzueignen versucht. Sodass jede philosophische Konstruktion, jeder Begriff, jede Logosarchitektur sich mit dem Unvermittelbaren zu vermitteln hat, um die Aneignung dessen kämpft, was sich per definitionem der Inbesitznahme sperrt. Mit der Erfahrung dieser Sperrung oder Verschliessung, mit dieser Verbergung und diesem Entzug, kommt die Philosophie in Gang. Weil es das Unbegrenzte gibt, sucht sie Begrenzungen, definitorische Linien, Gewissheiten. Weil es das Chaos gibt, muss über ihm eine Seinsordnung errichtet werden, die nichts als flüchtiges Konstrukt, fliegende Architektur sein kann. In den Anfang zu reichen, bedeutet den Kontakt zu diesem Voranfang zu halten, zur präontologischen Namenlosigkeit, zum Nichts. Philosophie ist Berührung des Namenlosen, der Unberührbarkeit selbst. Deshalb hält sie sich so entfernt wie möglich vom Phantasma einer vollen Rede, des selbstgewissen Logos der Tatsachengewissheiten oder doxai. Weil es Philosophie nur gibt, solange sie sich dem Phantasma der Besitzbarkeit des Namenlosen sperrt, solange sie eine Bewegung primordialer Selbstenteignung darstellt, solange sie begreift, dass das Unbegriffene im Herzen des Logos selber wohnt. Der Logos ist Geöffnetheit auf das Chaos, das Logossubjekt nur bei sich, indem es ausser sich ist, über sich hinaus. Das ist der inhärente Wahnsinn des Logos, sein Hyperbolismus, seine Verrücktheit, dass er nur als Berührung seiner eigenen Grenzen, existiert. Im Verhältnis zur Unverhältnismässigkeit des Inkommensurablen, das seine Wahrheit beschreibt. Seine Wahrheit, seine Grenze, das Reale seiner selbst, das sich nur als Widerstand und Unterbrechung der Bewegung der Selbstaneignung zeigt.
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