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MARCUS STEINWEG
 

BEGNÜGUNG MIT DER GESTE LECTURE: OPER LEIPZIG SYMPOSION "VERHALTENE BEREDSAMKEIT. POLITIK, PATHOS UND PHILOSOPHIE DER GESTE?"

Der Titel ist ein Zitat aus Bertolt Brechts Fatzer-Fragment. Heiner Müller hat aus dem Fragment 1978 ein Stück gemacht. Es geht um die Figur des Derserteurs. Der Deserteur Fatzer entscheidet sich gegen den Krieg. Wie jedes Subjekt der Entscheidung ist Fatzer Opfer der Entscheidung. Er verstrickt sich. Seine Entscheidung ist zu gross, sie überfordert ihn.

Man hat gesagt, Fatzer sei Egoist, weil er sein individuelles Glück dem allgemeinen Glück vorzieht. Er fällt so in die von ihm bekämpfte Logik zurück. Das ist der moralische oder didaktische Standpunkt. Klar ist: Fatzer ist Subjekt, er entscheidet und verstrickt sich. Es gibt soetwas wie ein Subjekt offenbar nur als Subjekt der Verstrickung, als Subjekt des Untergangs. “Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer” sagt etwas aus über das Subjekt als solches, über seine Egoität. Wie das Fragment Brechts gibt es ein Subjekt nur als Fragment, als Trümmerhaufen, dem keine Einheit voraufging und keine Kohärenz versprochen werden kann. Und dennoch ist da ein Subjekt, das entscheidet und sich überfordert und die unauflösliche Verbindung von Entscheidung und Selbstüberforderung austraegt.

Das ist Fatzer. Das Subjekt dieses Austrags (diaphorá), dieser Strittigkeit, dieses Konflikts, dieser Differenz. Fatzer macht die Erfahrung einer jede große oder echte Entscheidung heimsuchenden Müdigkeit. Der Wille ermattet. Das Subjekt erschlafft. Die Selbstaufrichtung ist Vergangenheit. An Fatzer lässt sich zeigen, das zur Entscheidung (in seinem Fall zu desertieren, den 1. Weltkrieg nicht mitzumachen), der schwindende Mut gehört, die Wendung ins Private oder Opportune. Für Fatzer bedeutet das, sich selbst die Solidarität zu versagen, sich gegen seinen Aufrichtungsmut aufzurichten.

Ich will nicht über Brecht, über Müller oder Fatzer sprechen. Ich nehme hier nur den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu Kunst und Philosophie. Ich will zeigen, dass das Einknicken des Subjekts einer ursprünglichen Entscheidung, der versagende Mut, die schwindende Selbsttreue, statt schlicht Symptome des Wechsels von der einen Ordnung in die andere (im Falle Fatzers von der Ordnung des revolutionären Begehrens in die Sphäre der privaten Interessen) zu sein, als sichere Indizien dafür genommen werden können, dass eine Entscheidung (die Entscheidung zu desertieren) statt gefunden hat.

Die Desertion von der Desertion spricht eine klare Sprache: Es ist etwas passiert. Was passiert ist, ist gross oder übergross. Es ist zuviel. Es stellt eine riskante Selbstüberforderung dar. Das Subjekt der Desertion verlässt (das ist der lateinische Sinn des Wortes deserere: verlassen) das Territorium der Pflicht, (das es in Fatzers Fall an die Notwendigkeit und Vernunft des Krieges bindet), um sich einer höheren Verpflichtung zu beugen. Es desertiert die etablierte Vernunft. Das scheint mir das Fatzer-Fragment zu verdeutlichen: Es gibt so etwas wie ein Subjekt nur als desertierendes Subjekt, als Deserteur. Nur wäre der Deserteur kein Deserteur würde er nicht zuletzt noch sich selbst desertieren. Es ist diese Figur der Selbstaufgabe in der Selbstaufrichtung, die mich interessiert. Fatzer desertiert zweimal. Er desertiert den Krieg. Er scheisst, wie er sagt, auf die “Ordnung der Welt”. In einem zweiten Schritt beginnt Fatzer die Desertion zu desertieren, indem er sich im Eigensinn verliert. Das ist der Moment seines eintretenden Untergangs. Es ist zugleich der Augenblick der Wahrheit jeder Entscheidung für eine das Individuum transzendierende Ordnung: dass sie von einem Individuum erstritten und ausgetragen wird.

Der Deserteur ist der Verweigerer, er ist derjenige, der einen Auftrag, eine Mission oder Verpflichtung verweigert, ins Sinnlose rückt. Desertieren bedeutet diese Sinnverrückung zu wagen, die den etablierten Sinn und die Vernunftmacht, die ihn verkörpert und steuert, der ihr impliziten und uneineingestandenen Sinnlosigkeit ausliefert. Der Deserteur öffnet die Vernunft auf den ihr impliziten Wahnsinn, nicht um unmittelbar für eine andere, eine bessere Vernunft zu entscheiden, sondern um für die Sekunde der Entscheidung gegen die etablierte Vernunft, selbst im Wahnsinn der Vernunftlosigkeit zu baden. Der Deserteur nimmt eine Art Anleihe, einen problematischen Kredit bei der Macht, beim Krieg, deren wesenhaften Wahnsinn er denunziert. Das Subjekt der Entscheidung – jeder authentischen Entscheidung – ist Subjekt dieser problematischen Kreditverhältnisse. Es leiht sich gewissermassen die Mittel zur Zerstörung der von ihm bekämpften Institution bei dieser Institution selbst. Natürlich bedeutet das, dass es nicht ohne Verstrickung geht, ohne ein Minimum an Korruption. Gewalt lässt sich nicht ohne eine Form (und sei es eine andere Form) von Gewalt bekämpfen, so wie es in der Philosophie keinen Weg über den Begriff hinaus gibt als mittels des Begriffs, wie Adorno einmal sagt: Mit dem Begriff über den Begriff hinausgelangen!

Der Deserteur (das Subjekt der Kunst, das Subjekt der Philosophie) öffnet sich dem impliziten Wahnsinn, sagte ich, der etablierten Macht. Er zeigt das vergiftete Herz der instituierten Vernunft. Wie ein Kontrastmittel macht er das Gift sichtbar, nicht ohne selbst von diesem Gift zu kosten, nicht ohne sich selbst zu kontaminieren. Die Selbstausklammerung des Deserteurs, sein sich ausklammern aus der Gemeinschaft der Verpflichteten, ist zweifellos ein Akt der Freisetzung. Nur gibt es keine Freisetzung ohne Kontakt zur Dimension faktischer Unfreiheit, ohne den Mut einer radikalen, also ungeschützen Berührung dessen, was meine Freiheit am meisten bedroht. In den Worten Heiner Müllers: “Man kann kein Indianer bleiben, wenn man (mit Kunst, mit Philosophie, oder überhaupt) etwas erreichen will.”

Begnügung mit der Geste, heisst also beides:

1. Im Text von Brecht: “Vollführ die Bewegung, die Nichts bedeutet”, “Geh wie einer grüsst, weils üblich”, nimm deinen Eigensinn zurück,

und

2. Begnüge dich damit, einmal entschieden zu haben für das Übergrosse, das diese Zurücknahme des Eigensinns von dir fordert bis an die Grenze des Aushaltbaren, bis über die Subjekt-Grenze hinaus. Die Begnügung ist keine Begnügung: in der Geste zeigt sich, was sich nicht direkt und ganz zeigen lässt, weil die Grammatik für das so Gezeigte nicht existiert. Denn es ist die Geste selbst, der Augenblick der Entscheidung oder Wahrheitsberührung, der den Raum der Logik und Grammatik, der Sprache also, des Gezeigten erst eröffnet.

Giorgio Agamben hat im Anschluss an Foucault gezeigt, dass das Subjekt, statt souveräner, selbsttransparenter Agent seiner Entscheidungen und Handlungen zu sein, als Naht zwischen dem Minimum an Selbstverlässlichkeit, das es erlaubt, es dennoch als Subjekt zu adressieren, und der formlosen Macht des Chaos oder des Unpersönlichen oder der Macht, existiert. Die Geste nennt hier den durch diese Begegnung, die auch Ausdruck der Zerstörung des Subjekts ist, aufblitzenden Subjektcharakter eines Subjekts, das nur in der Form des Verschwindens, der Selbstablösung oder Verstrickung in Erscheinung tritt. Deshalb ist die Geste, was das Subjekt der Behauptung überantwortet. Meine Behauptung ist, dass Kunst und Philosophie solche Behauptung sind.

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