BERÜHRUNG DES NAMENLOSEN
Nader Ahriman
Etuden transzendentaler Obdachlosigkeit
Philosophie und Wahrnehmungsmodelle, Ideen- und Kunstgeschichte bilden das Motivrepertoire von Nader Ahriman, der das Verhältnis zwischen reinem
Denken und konkretem Sehen in seinen Kompositionen zugleich ernsthaft analysiert und mit spielerischer Leichtigkeit ad absurdum führt. Die hier erstmals veröffentlichten Zeichnungen bieten einen Einblick in die Vielfalt der historischen Bezüge und stellen zugleich das „Ensemble“ vor, das auf der bildnerischen Bühne des 1964 im Iran geborenen und in Berlin lebenden Künstler agiert. Seine visuellen Untersuchungen zur transzendentalen Obdachlosigkeit werden kongenial durch den Essay „Berührung des Namenlosen“ von Marcus Steinweg ergänzt.
Etuden transzendentaler Obdachlosigkeit
Philosophie und Wahrnehmungsmodelle, Ideen- und Kunstgeschichte bilden das Motivrepertoire von Nader Ahriman, der das Verhältnis zwischen reinem
Denken und konkretem Sehen in seinen Kompositionen zugleich ernsthaft analysiert und mit spielerischer Leichtigkeit ad absurdum führt. Die hier erstmals veröffentlichten Zeichnungen bieten einen Einblick in die Vielfalt der historischen Bezüge und stellen zugleich das „Ensemble“ vor, das auf der bildnerischen Bühne des 1964 im Iran geborenen und in Berlin lebenden Künstler agiert. Seine visuellen Untersuchungen zur transzendentalen Obdachlosigkeit werden kongenial durch den Essay „Berührung des Namenlosen“ von Marcus Steinweg ergänzt.
2. Realität ist der Name für die Eintrübung des Namenlosen. Nur Zyniker halten sich an “Fakten”. Das Subjekt, das die Position des Zynikers meidet, ist Subjekt der Liebe. Philosophie und Kunst sind solche Liebesbewegungen. Die Liebesbewegung ist absolut schnell. Sie steigert sich nicht behutsam wie die Annäherung der pragmatischen (situativen) Vernunft an ihre Gegenstände. Sie ist keine relative, sie ist eine absolute Bewegung, die in die Ordnung der relativen Tatsachen eingreift, ohne dieser Ordnung selbst anzugehören. Deshalb läßt sich die Frage nach dem Ursprung der Kunst nicht mit dem Hinweis auf den Künstler (und seine reale Situation) beantworten. Kunst ist, was den Künstler überfordert und begrenzt, was ihm opponiert (statt seinen Leidenschaften Ausdruck zu verschaffen). Kunst und Philosophie gibt es, wenn das Subjekt der Eintrübung des Namenlosen widersteht.
3. Es gibt Erfahrung nur als Erfahrung des Unerfahrbaren. Das Subjekt dieser Erfahrung tritt mit einer absoluten Inkommensurabilität, mit der Unheimlichkeit des Namenlosen in Kontakt. Wie Bataille, Blanchot, Sartre und Lacan gezeigt haben, ist die Erfahrung des Heterogenen, die Erfahrung des Außen, die Erfahrung der Kontingenz, die Erfahrung des Realen eine das Subjekt dieser Erfahrung aus seiner (vermeintlichen) interioren Sekurität, aus seinem Selbst- und Weltinnenraum, katapultierende Grenz-Erfahrung. Das Subjekt verliert sich als Subjekt der Selbst- und Weltkontrolle. Es stürzt aus seinem “Wesen”. Es erfährt den Schrecken einer absoluten Befremdung und Desintegration.
4. Philosophie ist Bezogenheit auf das Unbezügliche. Das Subjekt hat sich auf eine Namenlosigkeit überschritten, die es verstört.
5. Das Subjekt ist der Name einer elementaren Überforderung. Es überreizt die identitären Zuschreibungssysteme und gefährdet die ontologische Weltordnung. Es operiert als extimer Operator dieser Ordnung ohne sich ihr unterzuordnen. Es gibt so etwas wie ein Subjekt nur als fiebrigen Vektor einer inkommensurablen Namenlosigkeit. Die Begegnung mit einem Subjekt, ist, wie die Selbstbegegnung des Subjekts, Begegnung mit der Unmöglichkeit “als solcher”, in lacanianischer Terminologie: mit dem “grauenhafte(n) Abgrund des Dings”. Sie entspricht einer Weltauflösung. Einer mundanen katastrophé. Die Unheimlichkeit des Subjekts ohne Subjektivität hat mit dieser von ihm ausgehenden Weltbedrohung zu tun.
6. Immer geht es um den Namen. Wie heisst oder wie nennt man das Namenlose? Was für einen Namen geben wir ihm? Solange die Philosophie sich auf die Begrenzung, die terminologische Befriedung und kalkulatorische Investition, reduziert, wird sie vom Namenlose verfolgt, das sich jeder Verbindlichkeit entzieht. Was ohne Namen ist, verunsichert. Das Namenlose ist ein anderer Titel für die Gefahr. Keine Philosophie, verweigert sich dem Namen, der Frage des Namens, die zugleich nach dem Unfragbaren fragt. Die Frage nach dem Ursprung des Namens ist auch die Frage nach dem Ursprung der Philosophie.
7. Die Philosophie verdankt sich dem Namenlosen und bleibt mit ihm in Kontakt, indem sie “gewaltsam ihre Möglichkeit der Nicht-Philosophie, ihrem entgegenstehenden Grund, ihrer Vergangenheit oder ihrer Faktizität, ihrem Tod und ihrem Ursprung” entreißt.
8. Philosophie ist offen auf Nicht-Philosophie: ”Die Philosophie bedarf einer Nicht-Philosophie, die sie umfaßt, sie bedarf eines nicht-philosophischen Verständnisses, so wie die Kunst der Nicht-Kunst bedarf und die Wissenschaft der Nicht-Wissenschaft.” Die Nicht-Philosophie gehört zur Philosophie, solange Philosophie mehr ist als die Kommunikation von Büchern. Wäre die Philosophie nicht auch Nicht-Philosophie, sie wäre nicht Philosophie.
9. Vielleicht gibt es Kunst und Philosophie nur als Übertreibung, das heisst als Hyperbolismus, als Selbstbeschleunigung, als Kopflosigkeit und blinden Exzess. Vielleicht ist es so, weil das menschliche Subjekt selbst eine Übertreibung darstellt, ein hyperbolisches Element. Was ist der Mensch? Was ist Philosophie? Was ist Kunst? – Was bedeutet, eine Übertriebenheit zu bejahen, seine Blindheit und Ohnmacht und Überforderung als Subjekt der Übertreibung zu signieren? Können Kunst und Philosophie solche Signaturen sein eines Subjekts, das für seine Überforderung und seine Unschuld und Blindheit die Verantwortung zu übernehmen beginnt? Was ist Verantwortung als Exzess und für den Exzess, für die Übertreibung? Was ist das Subjekt, das aus dieser übertriebenen Verantwortung sein Leben macht?
10. Man muß bezahlen – das ist der erste Grundsatz der hyperbolischen Ökonomie. Es kostet immer mehr, als man bezahlen kann. Man bezahlt immer zu wenig, in der Kunst wie im Denken. Und dennoch ist es notwendig, mehr zu bezahlen als nötig, mehr als man faktisch bezahlen kann. Das Subjekt der Kunst überfliegt seine eigenen Möglichkeiten. Es tritt mit dem Unmöglichen in Kontakt.
11. Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781/87) ein gewisses Flugverbot ausgesprochen. Es richtet sich gegen die sogenannte dogmatische, vorkritische Metaphysik (Leibniz, Wolff, Baumgarten etc.). Die Philosophie, sagt Kant, kann nicht von Gott oder der (unsterblichen) Seele handeln, wie von Sichtbarkeit (den Phänomenen) des Alltags. Gott, die Seele, sind nicht sichtbar. Sie sind nicht durch Sinnlichkeit, d.h. durch subjektive Anschauungsformen, vermittelt. Das Denken aber, so Kant, ist Denken in Begriffen, deren Gehalt durch die Sinnlichkeit, das Rezeptions- oder Empfangsvermögen, vorgegeben ist. Ein Denken, das die Sinnlichkeit überfliegt ist unzulässig, weil leer.
12. Die philosophische Behauptung bezieht sich auf diese Anhaltslosigkeit, auf diese Leere. Deshalb kann sie eine entrechtete und wilde Bejahung heißen, weil das Subjekt dieser Bejahung selbst leer, das heißt abgründiges Subjekt der Leere, des infiniten Wüstenraums ist. Es ist Subjekt dieser ontologischen Nacktheit und Armut, nichts als Subjekt der Leere, der Unbestimmtheit und Wesenslosigkeit zu sein. Dieses Subjekt taucht im Denken des 20. Jahrhundert als Subjekt des Unzuhause (Heidegger), als Subjekt des Außen (Blanchot), als Subjekt der Freiheit oder des Nichts (Sartre), als Subjekt des Seinsmangels oder des Realen (Lacan), als Subjekt des Chaos oder des Werdens (Deleuze/Guattari), als Subjekt der Desubjektivierung und Selbstsorge (Foucault), als Subjekt des Anderen (Levinas), als Subjekt der différance (Derrida) oder als Subjekt des Universellen oder der Wahrheit (Badiou) auf. Es ist ein Subjekt, dessen Subjektivität sich mit der Dimension des Nicht-Subjektiven zu decken scheint. Ein Subjekt ohne Subjektivität.
13. Subjekt sein heisst, sich auf ein Außen, eine Andersheit und Unmöglichkeit hin überschritten zu haben, um sich als Subjekt der Überschreitung zu affirmieren.
14. Als Subjekt dieses Kontakts ist es Subjekt der Selbstüberschreitung auf die Dimension einer Andersheit, die jeden Selbst- und Identitätsbegriff a priori unterminiert. Es ist Subjekt ohne identitäre Fixierung, das sich im Akt der (Re)Kontaktierung des eigenen Wesens-Abgrunds als ontologische Abweichung, d.h. als originäre Störung der Tatsachenwelt (der positiven Seinsordnung) konstituiert.
15. Tatsachenwelt ist ein anderer Name für Realität. Die Tatsachenrealität ist Welt der offizialisierten, etablierten, konsensualisierten, anerkannten, instituierten und archivierten Tatsachen-Wahrheiten. Sie ist das Universum des gegenwärtigen und historischen Wissens, der Konventionen, Meinungen, Neigungen und Interessen. Die Tatsachen-Welt ist eine Sphäre, die per definitionem Wahrheit ausschliesst, um soziale, politische, kulturelle, also identifizierbare Realität zu ermöglichen. Realitäten oder Tatsachen-Wahrheiten sind Wahrheiten, die keine sind. Der Raum der Tatsachen konstituiert sich durch die pathologische Aussperrung von Wahrheiten, weil Wahrheit der Name eben der Erfahrung benennt, die Identität verhindert. Die Tatsachen vor möglichen Wahrheiten zu privilegieren, bedeutet das Identitäts-Modell dem Schrecken der Erfahrung der Nicht-identität, der Inkommensurabilität, des vorontologischen Chaos vorzuziehen.
16. Das Tatsachen-Subjekt ist identitäres, sich selbst anhaltendes Subjekt. Es ist totes Subjekt, wenn man den Tod als “Existenzweise des letzten Menschen” ansetzt. Der letzte Mensch ist der Mensch der Wahrheits-, Sinn- und Lebens-Aussperrung. Der Mensch der kleinen Fakten (“petit faits”): der faitalistische Mensch. Das “Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen, dem factum brutum” ist, was Nietzsche in Zur Genealogie der Moral den “Fatalismus der 'petit faits'”, den “petit faitalisme” nennt. Der Tatsachen-Mensch reduziert sich auf die Tatsachen. Er macht aus den Tatsachen seine tote Wahrheit. Er ist Subjekt des Tatsachen-Glaubens, des Tatsachen-Fatalismus und Tatsachen-Obskurantismus. Die Tatsachen sind sein unerschütterliches Gesetz.
17. Das Reale ist der Name dessen, was dem Raum der Tatsachen nicht (mehr) angehört. Das Reale benennt die Grenze und das konstitutive Außerhalb der Tatsachen-Dimension. Das Reale ist realer als die Realität. Es ist, was dem “realistischen” Kalkül – dem Tatsachen-Idealismus – eine fundamentale Inkonsistenz einschreibt. Die Berührung des Realen ist Berührung dieser Inkonsistenz, des Schwachpunkts des Tatsachen-Systems.
18. Das Subjekt der Philosophie beschleunigt über den Gewißheitsraum und seine Tatsachenwahrheiten hinaus. Es ist Subjekt der Wahrheitsberührung. Wahrheit ist der Begriff für die absolute Grenze: das Absolute. Sie markiert die (ermöglichende) Unmöglichkeit und Inkonsistenz des Tatsachenuniversums. Das Subjekt der Philosophie riskiert den Grenzkontakt. Es kontaktiert als endliches das Unendliche. Es berührt, indem es die Grenze anrührt, ihr unmögliches Jenseits. Das Subjekt der Grenzberührung überschreitet seinen Wirklichkeits-Status, seine objektive Tatsachen-Identität, um im Kontakt mit diesem Außen, die (selbst nicht unmögliche) Erfahrung des Unmöglichen zu machen. Die Erfahrung des Außen ist Konflikterfahrung, weil das Außen eine Unentscheidbarkeit benennt, die sich per defintionem der dialektischen Beruhigung und kommunikativen Schlichtung verwehrt. Mit Heidegger läßt sich die Wüste des Außen als Urstreit denken und als Dimension einer Unheimlichkeit, die das Dasein auf die Unentscheidbarkeit, die Kontingenz und Inkommensurabilität geöffnet hält.
19. Wahrheit ist nichts als der Konflikt von Öffnung und Verschliessung. Heidegger nennt sie den Urstreit von lethe und aletheia. Das ist das Wort für die Kompossibilität, die monströse Gleichzeitigkeit oder Gegenwendigkeit von Welt und Erde, Lichtung und Verbergung. Das Subjekt öffnet sich einer irreduziblen Verschliessung, einem originären Vergessen, der primordialen lethe, ohne sie zu verletzen, ohne dem Unmöglichen Gewalt anzutun. Wie im Schlaf, mit der sprichwörtlichen Sicherheit eines weder nur schlafenden noch nur wachen Traumwandlers, würde dieses Subjekt zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, der Öffnung und der Verschliessung, der Realität und dem Realen, zwischen Bewußtsein und Unbewußtem, Wissen und Nicht-Wissen oszillieren: “Die Möglichkeit des Unmöglichen kann nur geträumt werden, sie kann nur als geträumte sein.”
20. Kann es Wahrheits-Berührung nur für ein singuläres Subjekt des Ungeheuren – für das Subjekt der Wüste – geben? Oder verbindet sich mit dem Begriff der Wahrheit – mit der universellen Wahrheit als singulärer Behauptung – das Versprechen, die Hoffnung, der Appell, die singuläre Erfahrung der Wahrheit auf die universelle Wahrheit der Erfahrung zu öffnen? Auf eine Wahrheit also, die, auch wenn sie nur singulär behauptet und verteidigt werden kann, universelle Geltung hat. Zweifellos gibt es (einzelne) Subjekte (es sind wohl viele), die Wahrheit (für sich) ausschließen. Wahrheit hingegen ist, was keinem Subjekt, niemandem, den Zugang zu ihr verwehrt. Darin liegt ihre Unerbittlichkeit, die obstinate Insistenz der Wahrheit: daß sie keinen ausläßt, daß sie niemanden vergißt. Die Subjekte, die sich den Zugang zur Wahrheit (zum Konflikt von Öffnung und Verschliessung, zur absoluten lethe: zur diaphora) offenhalten, konstituieren die Wahrheits-Gemeinschaft von Subjekten ohne Subjektivität. Das ist die Wir-Gemeinschaft von Subjekten, deren Sein in ihrer ontologischen Wurzellosigkeit “gründet”. Es ist das hyperboreische Wir-Kollektiv, von dem Deleuze sagt, daß seine “Mitglieder zum 'Vertrauen' fähig” sind, “zu diesem Glauben an sich selbst, an die Welt und an das Werden”, der das abendländische, in irgendeiner Wir-Subjektivität gegründete, Erkenntnisideal beiseite läßt. “Menschen [...] ohne Essenz und ohne Identität”, sagt Agamben: Singularitäten, die “eine Gemeinschaft bilden, ohne Anspruch auf Identität zu erheben”, die “zusammengehören ohne eine repräsentierbare Bedingung von Zugehörigkeit (das Italiener-, Arbeiter-, Katholik-, Terrorist-Sein)”, was die etablierte politische Macht “auf gar keinen Fall dulden” kann.
21. Das nicht-identitäre Subjekt ist Subjekt einer ontologischer Unbestimmtheit, die es auf die Namenlosigkeit eines “neuen Menschen” und einer “neuen menschlichen Gemeinschaft” geöffnet hält. Die Gemeinschaft der Philosophen ist die Gemeinschaft von Subjekten ungeteilter Verantwortung, vollendeter Souveränität. Es gibt nichts, was die Philosophen miteinander verbinden würde als ihre Einsamkeit. Philosophen diskutieren nicht. Sie reden aneinander vorbei.
22. Ich nenne das Subjekt der Unbestimmtheit hyperboreisches Subjekt. “Wir Hyperboreer” – überschreibt Nietzsche ein Nachlass-Fragment vom November 1887. Einige Monate darauf verfasst er Der Antichrist. Wir Hyperboreer: Wir, die die “hyperboreische Zone” bewohnen, die Unwirtlichkeit oder Unbewohnbarkeit selbst: das Aussen. Die “hyperboreische Zone, die von den gemäßigten Zonen weit entfernt ist.” Wir Hyperboreer, wir Maßlosen, die nur im Kontakt mit dem Unermesslichen, dem Unmessbaren oder Inkommensurablen existieren, wir, “die lieber im Eise” leben, sagt Nietzsche, wir entziehen uns dem “faulen Frieden” und dem “feigen Compromiss” einer gewissen “Toleranz” und “largeur des Herzens”. Wir widerstehen dem “Glück der Schwächlinge” und der Ethik des Mitleidens, die diese “Schwachen” mehr (für sich, aus guten Gründen) fordern, als selber praktizieren. Und bald nachdem Nietzsche einen seiner ungeheuerlichsten Sätze (“Die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe”) ausgesprochen hat, heisst es: “Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsere Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer!” Der Hyperboreismus scheint sich mit einem gewissen Wir, mit dem Wir der Philosophen, zu verbinden. Als könne sich die Position dieser elementaren Singularität, das Denken der wesentlichen Einsamkeit des hyperboreischen Subjekts nur über eine Art Paradox oder Widerspruch artikulieren. Als müsste man zu mehreren sein, um seine Einsamkeit zu legitimieren. Wir Hyperboreer – bedeutet auch: Wir, die Gemeinschaft derer, die ohne Gemeinschaft, ohne Wir-Gemeinschaft, sind. Wir Einsamen. Wir Singularitäten. Wir, die wir an die Grenze des logos, der das Prinzip der abendländischen Wir-Gemeinschaft darstellt, rühren. Wir, aus dem Wir-Kosmos gefallene. Wir, die aus der Universalität einer transzendentalen Kommune, aus dem Wohnbereich der transzendentalen Wir-Subjektivität, ausgeschieden sind. Wir Heimatlosen. Wir arktische Naturen. Wir Ungeheuerlichen, die im Kontakt mit der Grenze des Geheuren, des Gewohnten und Lebbaren stehen. Wir Kontakt-Subjekte, wir Grenz-Naturen, wir grenzen an diese Grenze und beschleunigen über diese Grenze hinaus. Wir Unheimlichen, oder wie Heidegger auch sagt, Unheimischen. Wir, die als Un-zuhause zuhause sind, im Unheimlichen. Wir Übermütigen, wir Übertriebenen. Wir sind Subjekte einer immer gewaltsamen Selbstüberwindung. Subjekte der Selbstüberdrehung, der Selbstüberreizung und Selbstentgrenzung. Wir also, die nur sind, was wir sind, indem wir die Idee des Wir und unseres Selbst durch Überschreitung verraten. Wir Verräter, wir Nicht-Identischen ohne gesicherte Herkunft und Zukunft, wir Gesichtslosen, wir sollen uns mit uns, indem wir uns ins Gesicht zu sehen lernen, konfrontieren.
23. Die philosophische Erfahrung ist sich treu in radikaler Untreue. Sie verrät sich, um die Linie ihres Begehrens fortzusetzen. Sie realisiert ihr eigenes Begehren in genau dem Augenblick, in dem sie an ihm scheitert. Sie bezahlt mehr als sie bezahlen kann. Ihre ”Rechnung geht nur im Scheitern auf.”
24. Das hyperboreische Subjekt ist hyperbolisches Subjekt der Selbstüberschreitung auf ein absolutes Aussen, das das Unbewohnbare selbst, das Chaos, die Inkommensurabilität als solche ist. Es ist Subjekt der nicht-identitären Selbstbehauptung. Subjekt scheiternder Anamnese, transzendentaler Nicht-Wiedererkennbarkeit. Subjekt ohne Namen, ohne Erinnerung, ohne teleologische Einschreibung. Subjekt transzendentaler Gesichtslosigkeit.
25. Die hyperboreische Welt ist Welt der Wahrheit, solange wir unter Wahrheit die Zone der Inkommensurabilität, des Austrags des Konflikts von Licht und Dunkelheit, Erinnerung und Vergessen, Öffnung und Verschliessung, aletheia und lethe verstehen. Die hyperboreische Wahrheitswelt ist die Sphäre dieses Konflikts, der Raum der diaphora, der als Hypo, Inter- und Hyper-Sphäre das Universum der Tatsachen von allen Seiten her begrenzt. Diaphora ist das griechische Wort für den Streit oder Ur-Streit, für, wie Deleuze sagt, den “Wettstreit zwischen der Immanenz und der Transzendenz”. Die diaphora umreißt das Umrißlose, das Unermessliche, die primordiale Ungeordnetheit des Seienden in seiner ungezählten Mannigfaltigkeit. Wahrheit ist deshalb weder Aussagen-Wahrheit, noch beugt sie sich, wie die Richtigkeit (orthotes) dem Gesetz der Zählbarkeit, dem Kalkül.
26. Eine Wahrheits-Berührung geschieht immer dann, wenn das Subjekt dieser Berührung über sein aktuales Selbst hinauszubeschleunigen gezwungen ist, wenn es sich im Kontakt mit dem Nicht-Kontaktierbaren im uferlosen Meer der Unentscheidbarkeit verliert.
27. Was die Wahrheit von der Gewißheit unterscheidet ist, dass sie als solche verrückt ist. Der Raum der Wahrheit (der Diaphora, der Unentscheidbarkeit, des Chaos), ist der Raum einer irreduziblen, einer primordialen Verrücktheit, in die sich das Subjekt ursprünglich eingelassen findet. Subjekt zu sein bedeutet, sich in ein explizites Verhältnis zu dieser Wahrheit zu setzen, die ebenso Unwahrheit, gleichermassen lethe (Verborgenheit) wie aletheia (Unverborgenheit) “ist”. Es ist dieses gleichermassen, diese ungeheure Gleichzeitigkeit und Ebenbürtigkeit oder “Gleichursprünglichkeit der Wahrheit und der Unwahrheit”, die das Subjekt von Anfang an in Atem hält. Das Subjekt dieser monströsen Gleichzeitigkeit ist Subjekt der Unruhe. Es erfährt sein Sein als Schauplatz dieser konfliktuösen Vereinigung des Unvereinbaren, der Kompossibilität von Tod und Leben, Anfang und Ende, Ursprung und Horizont.
28. Das hyperboreische Subjekt erfährt das Reale als Kompossibilität des Inkompossiblen. Die Erfahrung dieser Kompossibilität ist Erfahrung des reinen Außen, die das Subjekt in eine jeglicher Dialektik entfremdeten Fremdheitszone trägt. Bis zur Ununterscheidbarkeit treffen Aufgang und Untergang, Ursprung und Horizont in ein und derselben Sprache aufeinander: Tod und Leben in ein und “dasselbe neutrale Licht [ge]taucht – hell und dunkel zugleich.” Es ist diese Logik des Zugleichs, die Logik der Simultaneität des Ungleichzeitigen, der Ununterscheidbarkeit, der “wechselseitige[n] Transparenz des Anfangs und des Todes”, die das Denken des Außen mit dem heraklitischen Erbe einer nicht-dialektischen gegenstrebigen Fügung zu teilen scheint.
29. “Die Größe Kants”, sagt Badiou, “liegt darin, die Vorstellung einer Grenze der Vernunft mit der gegensätzlichen Vorstellung einer sich selbst überschreitenden menschlichen Natur zu verbinden, wie sie vor allem im Unendlichen der praktischen Vernunft angelegt ist.” Das Subjekt der Selbstüberschreitung, der Selbstlosreissung und Grenzberührung ist endliches Subjekt des Unendlichen. Es ist Subjekt der Wahrheit, sofern Wahrheit der Name der “primordialen Zerrissenheit oder Leere” ist. Es ist auf das Nichts, auf das Reale, auf die Dimension der vorursprünglichen “Ursprünglichkeit” geöffnetes Subjekt. Ontologisches Subjekt, dessen Wahrheit weder der ontologischen Seins-Ordnung noch der Ordnung des Ontischen (des Seienden) angehört. Die Wahrheit des Subjekts der Wahrheit ist Öffnung auf den Konfliktbereich von Sein und Seiendem, auf den Streit (eris) oder Krieg (polemos) von Offenheit und Verschlossenheit, auf die ... ontologische Differenz. Als Subjekt der Wahrheit ist das Subjekt der Wahrheitsberührung Subjekt der Differenz-Erfahrung von lethe und aletheia, Erde und Welt, Dunkelheit und Licht. Im Verhältnis zu dieser Differenz – zu einem Konflikt, der sich weder im Register des Wißbaren noch des Nicht-Wißbaren spiegelt, denn er beschreibt die monströse Kompossibilität von Wissen und Nicht-Wissen – muß das Subjekt eine Form behaupten, die gleichermassen Wahrheitsform wie Lebensform wäre, eine Form, die der Formlosigkeit selbst angemessen ist.
30. Das Subjekt berührt die Wahrheit und es versucht dieser Berührung einen Namen zu geben, der den Pseudonymen der metaphysischen Nomenklaturen nicht assimilierbar ist. Denn die Wahrheitsform ist, was sich der Wissens- oder Gewißheitsform als absoluter Widerstand entgegenstellt.
31. Wahrheit ist, was sich zu jedem Zeitpunkt der Gewißheit und jeder Form von Wissen und Nicht-Wissen – im Namen einer anderen Aufklärung (wie Nietzsche so oft sagt), einer anderen Philosophie oder eines anderen andersdenkenden Denkens – entzieht. Was wahr ist, kann unmöglich gewiß sein. Denn die Gewißheit verdankt sich der Überspringung der Wahrheitskategorie.
32. Man erfindet Gewißheiten, um Wahrheiten zu verhindern. Das Subjekt der Gewißheit ist das Subjekt der Tatsachen-Realität. Wahrheit ist, was die Möglichkeit von Gewißheit, das heisst von Selbstberuhigung im Tatsachen-Universum unterbricht. Die Subjekte dieser Unterbrechung sind “Freunde der Einsamkeit”, “inkommensurable Subjekte” des Inkommensurablen, “Subjekte ohne Subjekt und ohne Intersubjektivität”.
33. Man muss von der kritischen Welt die hyperkritische unterscheiden. Das ist die hyperboreische Wahrheits-Welt: die Welt der wahren Kritik. Die hyperkritische Welt unterscheidet von der nur kritischen Tatsachen-Welt, dass sie Welt der Liebe, der Bewunderung und des Einverständnisses ist. Eine im Akt der Berührung bejahte Welt der Wahrheit. Das Subjekt dieser Bejahung ist Subjekt einer hyperbolischen Liebe. Es ist Subjekt der Wahrheitsliebe. Es liebt das Andere, die anonyme Macht des Außen, die seinen Status als Subjekt der Tatsachengewißheit, als Selbstbewußtsein, Person und Individuum übersteigt. Es ist hyperkritisches Subjekt einer hyperbolischen Liebe, die Bewunderung, Bejahung und Einverständnis der Andersheit (des Inkommensurablen) in sich vereint.
34. Die Philosophie, insofern sie ein europäisches Ereignis darstellt – das Ereignis einer über 2500 Jahre andauernden Logos-Kultur –, hat sich von Anfang an mit dem Licht (mit der platonischen Sonne, dem christlichen lumen, der Aufklärung, den Lumières oder dem Enlightenment, der Husserlschen Evidenz und der Heideggerschen Lichtung) verbunden. Sie hat sich in ihrem Ursprung als Metaphysik des Lichts entzündet: von Heraklits alles steuernden Blitz, Plato und den Neuplatonismus Plotins, Proklos' und Prosyphyros', über Augustinus bis zu Robert Grosseteste, Roger Bacon, Bonaventura und Albertus Magnus, um vom ausgehenden Mittelalter aus die ganze Neuzeit, die Metaphysiken der cogitalen Selbsttransparenz, der Suche nach apodiktischer Gewißheit (certitudo), der Selbstbegründung oder Selbstgrundlegung in der Evidenz des Selbstbewußtseins, zu dominieren. Als hätte das abendländische Subjekt von seiner Morgendämmerung an unter dem Diktat eines Lichts gestanden, das es dazu verurteilt sich und seine Welt in Begriffen des Offenbaren, der Klarheit, der Sichtbarkeit und der Erschlossenheit, also einer gewissermassen logischen Evidenz, zu artikulieren: “Seit 2500 Jahren erscheint alles was ist und wird im Licht des logos: durch den logos und als logos.” Und dennoch ist klar, dass zum Subjekt des Lichts in allen Phasen seines Erscheinens, mehr oder weniger offensichtlich und mehr oder weniger eingestanden, der Kontakt zu einer Dunkelheit gehört, die das Licht der Evidenz verfinstert. Das Subjekt des Lichts ist als solches von der Drohung einer absoluten Dunkelheit begleitet. Es ahnt oder es spürt die Wirksamkeit dieser Finsternis in allen seinen Regungen und Akten. Es gibt so etwas wie Denken nur im Verhältnis zu einer erspürten Grenze, die die Unmöglichkeit des Denkens anzeigt, die katastrophé des Sinns. Vom Nicht-Sinn berührt, muss sich das Denken zu Sinnbehauptungen autorisieren. Erst durch die Berührung des Nicht-Sinns bekommen Freiheit, Vernunft, Verantwortung als Bedingung der Möglichkeit demokratischer, emanzipatorischer, progressiver Selbsterhebung (autoerectio) ihren Sinn. Das Denken des Lichts muss sich als Denken der Finsternis behaupten. Wie das Subjekt der Erfahrung des Anderen, des Unmöglichen, der absoluten Zukunft oder des Ereignis', affirmiert das Subjekt der Lichtbejahung eine originäre Finsternis als Ermöglichungsgrund seiner Erfahrung. Es untersteht als Denken des Möglichen dieser Erfahrung des Unmöglichen. Es entscheidet, wie Derrida unablässig wiederholt hat, in der Nacht des Unentscheidbaren. “Das 'Unentscheidbare' war für mich nie das Gegenteil der Entscheidung, sondern die Bedingung der Entscheidung, und zwar in allen Fällen, in denen jene sich nicht aus einem Wissen ableiten lässt, wie es eine Rechenmaschine tun würde.” Das also scheint die spezifische Allianz von Licht und Dunkelheit, Verborgenheit (lethe) und Unverborgenheit (aletheia) im dekonstruktiven Denken einer anderen Aufklärung zu sein: Das Subjekt des Lichts, des Wissens, der Entscheidung muss sich als Subjekt einer Offenheit bejahen, die sein Sein auf die Dimension der Verschliessung, der Unmöglichkeit, der Unentscheidbarkeit und absoluten Finsternis verlängert.
35. Das Subjekt der Philosophie hat sich auf die Nacht der Nicht-Evidenz überschritten. Es überfliegt den Raum der Tatsachen und ihrer transzendental-historischen Determinanten. Schlafend, träumend, fliegend beschleunigt es dem Namenlosen zu.